Bubbles go Cluster
Wieso sind «Bubbles» wichtig, animieren zum «clustern» und gestalten unser Zusammenleben seit jeher? …und was hat das mit symbiotischen Zuständen zu tun, die uns für eine „andere“ sehr wahrscheinlich postkapitalistische, postdemokratische Welt vorbereiten? Unser Autor verbindet ungewohnte Perspektiven und will zum Denken anstossen.
Zum Einstieg die Prämisse. Seit Jahrmilliarden spielt sich im Kosmos unter anderem folgendes Naturgesetz ab: aus dem Nichts entstehen Einzeller, diese stossen auf Gleichgesinnte (Bubbles) und vereinbaren gemeinsame Anliegen. Daraus ergeben sich optimale Mehrheiten (Cluster), die zu nachhaltiger Kooperation und Integration animieren. Das nennt sich dann symbiotische Zustände (aus dem altgriechischen «sýn» und «bíos», deutsch «zusammenleben»).
Als Menschheit erkennen wir Naturgesetze oft erst, wenn wir technologische Errungenschaften vollbringen1. In den 1990er-Jahren entstand der Begriff «network». Dieser kam in unser Bewusstsein, weil wir erkannt haben, dass das World Wide Web in Netzwerken funktioniert… und siehe da, auf einmal bemerkten Forschende, dass Bäume und ganze Wälder in Netzwerken miteinander kommunizieren. Das war neu für uns Menschen! Diese Dynamik erkannt, wollten wir alle in der realen Welt bewusst netzwerken.
Der „01001110 01100101 01110101-Alltag“ hat sich weiterentwickelt und mit dem Smartphone die nächste Phase gezündet: Social Media – Die Wiedergeburt der «Bubbles»! Die Insta-Tweet-TikTok-Flashs unserer Zeit produzieren explosionsartig viele Wahrheiten. Bis vor etwas mehr als hundert Jahren hatte jedes Dorf, Stadt oder Land seine eigene Wahrheitserzählung. Erst mit dem Aufkommen von Radio und Fernsehen wurde uns die Weltanschauung unbewusst bewusst vorgefiltert erzählt 2 (romantisch veranlagte Lesende mögen an dieser Stelle eventuell leicht aus der Fassung geraten. In der Tat reagierten die klassischen Medien «nur» ihrer politischen Ausrichtung entsprechend auf die Nachrichten der öffentlich rechtlichen Radio- und TV-Stationen – das nannten wir Vielfalt). Das «Netz» und die Sozialen Medien produzieren nicht mehr «links» und «rechts», sondern alle Grauschattierungen dazwischen. Das überfordert… verständlich, dass sich viele die vorgefilterte Klarheit der Nachkriegs-Jahre zurückwünschen. Nichts mehr ist kompliziert, alles ist komplex! Kompliziert entspricht einem Newtonischen Weltbild von Ursache und Wirkung, ja oder nein, links oder rechts. Komplex hingegen ist unsere «neue» Welt der Quantenphysik und entspricht einer «sowohl als auch»-Gleichzeitigkeit. Zur Erinnerung: unsere digitale Welt funktioniert nur Dank dieser grundlegenden neuen Sicht auf die Welt der Quanten, Atome und kleinsten Teile. Wer sich immer noch schwer tut diese Realität anzunehmen, verschenke bitte sein Smartphone noch heute…
Mit den amerikanischen Wahlen unter Obama und Trump entdeckten wir das Phänomen des Clusterns. Wahlresultate konnten mittels Sozialen Medien bewusst beeinflusst werden. Seither entdecken, verstehen und beschreiben Forschende Cluster in der Natur überall. Das wahrscheinlich wichtigste Merkmal der Cluster ist das der «optimalen Mehrheiten und gemeinsamen Anliegen». Voraussetzung dafür ist Diversität und Vielmeinigkeit. Es ist drum so: niemand hat recht. Alle haben recht! Beispiel gefällig: der britische Statistiker Fran Galton machte folgende Entdeckung auf einem Jahrmarkt. Ein gewaltiger Bulle sollte zum Spass nach seinem Gewicht geschätzt werden. Natürlich konnte niemand das exakte Gewicht schätzen, aber – Galtons Scharfsinn sei Dank – ergab der Durchschnitt aller Schätzungen das Gewicht des Bullen! Er nannte das «Schwarmintelligenz».
Wenn ein Bienenschwarm in der freien Natur ein neues Zuhause sucht, wird das Anliegen an alle im Schwarm kommuniziert 3. Die Bienen, die Lust haben, suchen nach möglichen Orten. Wenn eine Biene fündig wird, kommuniziert sie es weiter. Wiederum: wer Lust hat, besucht das entdeckte Habitat und erzählt es bei Gefallen weiter. Wichtiges Detail: Jedes Individuum hat eine eigene Vorstellung und eine eigene Perspektive. Die Auswahl wird gründlich natürlich diversifiziert! Peu à peu wächst das Schwarm-Interesse, bis… der ganze Bienenschwarm umzieht. Quiz-Frage: wieviele Bienen müssen überzeugt werden, damit ein Umzug stattfindet? 4 Prozent! Unglaublich, oder? In Biel haben wir mit der Westast-Thematik genau dieses Prinzip (unbewusst) angewandt! Plus-minus 4 Prozent oder dreitausend Bieler*innen haben sich engagiert, diversifiziert und protestiert. Der Westast wird in der geplanten Form nicht gebaut.
Ob Vogelschwärme, das menschliche Neuron, Viren, Milchstrasse oder amerikanische Wahlen – alles entwickelt sich von der «Bubble» (Zellgemeinschaft) hin zum «Cluster» (optimale Mehrheiten).
Zum Schluss die Konklusion: Wer James Bridle’s Buch «Die unfassbare Vielfalt des Seins» liest, wird unweigerlich bemerken, dass wir Menschenkinder längst nicht die intelligentesten Wesen auf diesem Planeten sind. Auch schön; gemäss Harald Lesch, dem deutschen Astrophysiker «irren wir uns empor». So gesehen helfen uns unsere technologischen Errungenschaften zurück zur Natur. Seit Jahren beklagen wir die Bubble-Kultur und übersehen dabei, dass wir einem kosmischen Gesetz folgen. Kommen wir ins Handeln, suchen wir uns optimale Mehrheiten und provozieren Kipppunkte!… Willkommen im Heute der Zukunft.
Hier die Buchtipps, die zu diesem Aufsatz beigetragen haben:
1 James Bridle – Die unfassbare Vielfalt des Seins
2 Philipp Blom – Was auf dem Spiel steht
3 Neil deGrasse Tyson – Cosmos
Martin Albisetti führt gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin re:format – Schule für persönliche Neuformatierung.