Das Leben besetzen

Im französischen Notre-Dame-des Landes entsteht über mehrere Jahrzehnte die erste ZAD eine real existierende Utopie mit grosser Ausstrahlung. Doch auch nach innen ist die Besetzung fruchtbar, es entspinnen sich neue Arten die Welt zu bewohnen.

Die «Besetzung» nimmt in Gene Sharps umfassender Sammlung gewaltfreier Aktionsformen keinen besonderen Platz ein. Als 173te von 198 Methoden steht sie neben Reden, Bannern, Zeitungen, Liedern, Märschen, Streiks und Boykotten. Was aber in Erinnerung bleibt, ist das Beispiel, mit dem der amerikanische Politikwissenschaftler die gewaltfreie Besetzung in seinem vor 50 Jahren erschienenen Klassiker illustriert:

Im November 1969 nimmt eine Gruppe von Ureinwohnern die kleine, vor San Francisco gelegene Felseninsel Alcatraz ein. Sechs Jahre früher war das berühmte aber marode Hochsicherheitsgefängnis geschlossen worden. Die Ureinwohner berufen sich auf alte Verträge, denen zufolge nicht mehr genutztes Bundesland an seine ursprünglichen Besitzer zurückfällt. Mehrere Familien richten sich auf «The Rock» ein, wie die Insel auch heisst, eröffnen sogar eine kleine Schule. Während des Höhepunkts zählt die Aktion 400 Besetzerinnen und Besetzer. Versorgt werden sie in einer grossen Solidaritätswelle vom Festland aus mit Geld, Nahrung und Kleidern. Doch nach und nach macht sich Resignation breit, es gibt weder fliessend Wasser noch Strom, interne Konflikte brechen auf, ein Teenager kommt bei einem Sturz ums Leben, und Drogen sorgen für schlechte Presse. Schliesslich nimmt die Bundespolizei nach 19 Monaten die letzten 15 Besetzerinnen und Besetzer fest.

Die Vorbereitung

Ungefähr zur gleichen Zeit bereitet sich auf einem anderen Kontinent eine andere Besetzung vor. Stein des Anstosses ist hier, in Notre-Dame-des-Landes, 20 Kilometer nördlich von Nantes, ein Flughafenprojekt. Die Behörden hatten auf 1650 Hektaren Land – das ist rund 200mal so gross wie Alcatraz – eine Raumentwicklungszone dekretiert, eine «Zone d’Aménagement Différé» (Z.A.D.), so die offizielle Bezeichnung.

Schon 1972 konstituiert sich die erste Bauernvereinigung gegen das Flughafenprojekt. Sechs Vertreter reisen extra nach Roissy, um, mit Tonbandgerät und Kamera ausgerüstet, für ihre Mitbürger den Lärm und die Zerstörung zu dokumentieren, die der dort aus dem Boden gestampfte Flughafen Charles-de-Gaulle verbreitet.

Während den 1980er- und 1990er-Jahren liegt der Flughafen von Notre-Dame-des-Landes auf Eis. Die Behörden kaufen allerdings weiter Land von Bauern, die ihre Höfe aufgeben. Manche Flächen fallen brach, andere werden nur noch extensiv bewirtschaftet. Die Z.A.D. bleibt verschont von den Strukturbereinigung und Biodiversitätsverlusten, die ringsum die Landwirtschaft erfassen. Einzelne junge Landwirte lassen sich auf verlassenen Gehöften nieder, Nachbaren errichten ihnen in gemeinnütziger Arbeit neue Wirtschaftsgebäude. In vereinzelten Fällen werden Besetzungen nachträglich legalisiert.

Um die Jahrtausendwende holen Politiker das Flughafenprojekt wieder aus der Schublade. Nantes zählt zu den am schnellsten wachsenden Regionen Frankreichs. Doch der Aufbruch schweisst auch den Widerstand zusammen. Neben der landwirtschaftlichen Opposition formiert sich eine Bürgerbewegung. Ein älterer Bauer lernt bei Demonstrationen in Nantes einige Hausbesetzer kennen und lädt sie ein, sich in der Z.A.D. niederzulassen, was diese auch tun.

Die Besetzung

Im Sommer 2009 versammeln sich in Notre-Dame-des-Landes mehrere Tausend Aktivisten zu einem Klimacamp. Immer mehr Leute besetzen die verlassenen Höfe und bauen auf den brachliegenden Flächen ihre eigenen Hütten. Neben dem Gelände wird auch die Sprache besetzt: Aus der Zone d’Aménagement Différé wird die Zone À Défendre – oder ZAD. Es entspinnt sich ein Kleinkrieg zwischen den Angestellten der Baufirma Vinci, die Sondierungsarbeiten durchführen, dem Sicherheitspersonal, der Polizei und den Besetzerinnen. Es kommt zu Sabotageakten, Anzeigen und Festnahmen. Im März 2012 organisieren Besetzer sowie Bürger- und Landwirtschaftsorganisationen in Nantes gemeinsam eine grosse Demonstration. 200 Traktoren begleiten die 10 000 Demonstrierenden.

Für die Behörden wird die Provokation zu gross. Im Oktober 2012 startet die «Opération César», 1200 Gendarmen stehen im Einsatz. Viele Gebäude und Hütten werden zerstört, Gemüsegärten verwüstet, Besetzerinnen und Besetzer festgenommen. Zehntausende Menschen versammeln sich in der ZAD und protestieren gegen die Räumung. Ende November beendet die Polizei schliesslich ihre Aktion. Ihr Ziel hat sie nicht erreicht, die Besetzung geht weiter. Mit naturkundlichen Exkursionen, mit Menschenketten, Picknicks, Konzerten. Neue Hütten werden gebaut, Felder bestellt und Strassenbarrikaden errichtet.

Am 17. Januar 2018 ist es schliesslich soweit: Der französische Premierminister Édouard Philippe erklärt vor laufenden Kameras, dass der Flughafen von Notre-Dame-des-Landes nicht gebaut wird. Zu gross seien die Differenzen zwischen zwei annähernd gleich grossen Lagern von Befürwortern und Gegnern.

Das Leben

Doch das ist nicht das Ende der Geschichte. Die ZAD ist längst kein blosses Mittel mehr im Kampf gegen einen Flughafen. Vielmehr sind hier neue Arten gewachsen, auf einem Territorium zusammenzuleben, «reale Utopien», wie der deutsche Soziologe Harald Welzer sie nennt. Doch gerade darin, so scheint es, trifft die Besetzung einen wunden Punkt. Ein Flughafenprojekt abzublasen ist das eine. Eine andere Lebensform zuzulassen etwas anderes. Kaum ist der Flughafen vom Tisch, ordnet die Regierung im Mai 2018 die zweite gewaltsame Räumung an.

Mit einigem Erfolg treiben die Behörden einen «Keil» in die ZAD: Er spaltet die Zone in einen «Westen» und in einen «Osten» — eine Trennung, die vor der Operation nicht existiert. Mehr oder weniger zufällig hatten sich im Westen der ZAD die meisten Kollektive um die traditionellen Höfe herum formiert, während im Osten eine «motorfreie Zone» lag und viele Besetzerinnen und Besetzer sich in Hütten eingerichtet hatten. Mitten zwischen West und Ost läuft die Hauptstrasse D281. Diese Strasse wählen die Behörden als Demarkationslinie, getreu der Maxime «teile und herrsche»: Der Osten wird hart geräumt und praktisch vollständig zerstört. Im Westen bieten die Behörden eine provisorische Legalisierung der Verhältnisse an.

 

Bei meinem Aufenthalt im Sommer 2019 sind die Ereignisse noch sehr präsent. Doch ungeachtet der künstlichen Spaltung leben in Notre-Dame-des-Landes immer noch rund 200 Personen in schätzungsweise dreissig Kollektiven. Es ist leicht, sich von der Vielfalt einnehmen zu lassen. Einige Kollektive empfangen Besucher, bieten Gelegenheit, in Ateliers mitzuarbeiten, und überall findet sich jemand mit Zeit und Geduld, von den Erfahrungen zu erzählen, engagiert zu diskutieren. Hier wird Lauch gepflanzt, dort werden Tomaten und Zucchetti geerntet, um sie in der Stadt zu freien Preisen auf fliegenden Märkten zu verkaufen. In einem Stall wird ein Betonboden ausgegossen, während nebenan eine Landwirtschaftsmaschine darauf wartet, repariert zu werden. In der Bibliothek sitzt ein Jugendlicher vor dem Bildschirm, im Garten plantschen Kinder im Bassin.

Die Vielfalt der Lebensformen zeigt sich im Baustil. Das gilt auch für eine ZAD. Eine Architekturklasse aus Vitry-sur-Seine hat acht Hütten der ZAD mit Fotos, Beschreibungen und präzisen Zeichnungen dokumentiert. Das Ergebnis ist als Buch herausgekommen: acht Arten sich in die Natur einzufügen, dem Regen zu trotzen, Gemüse anzubauen, Velos abzustellen, Holz zu spalten, in den Himmel zu schauen – kurz: die Welt zu bewohnen. Eine davon ist die «Hütte überm Wasser». Sie steht auf Pfählen in einem Teich, auf dem Landweg unerreichbar. Wer sie will, für Stunden oder Tage, hofft, dass am Ufer das Boot wartet.

In der Realität existiert von diesem Traum nur noch verkohltes Holz und geschmolzenes Glas. Kurz nachdem die Klasse den Ort dokumentiert hatte, wurde die Hütte im Zuge der weiten Räumung von den Gendarmen mit Flammenwerfern abgefackelt, wie man mir erzählt.

Nachspann

Wenn wir zurückblicken und versuchen, einen Vergleich zu ziehen zwischen der Besetzung von Alcatraz und jener von Notre-Dame-des-Landes, dann fragt man sich als erstes, warum Gene Sharp wohl ausgerechnet dieses gescheiterte Beispiel für seine Sammlung wählt. Den ersten Hinweis gibt Sharp selbst, wenn er ausführt, dass die Besetzung in den nachfolgenden Jahren «zum Mittelpunkt der neuen Indigenen-Bewegung» werden sollte. Den zweiten gibt Adam Fortunate Eagle, Organisator der Aktion, wenn er über die vergeblichen Anläufe berichtet, die bei der Besetzung notwendig waren. Erst der dritte Versuch führt schliesslich zum Ziel führt. Doch ausgerechnet an diesem Tag ist Fortunate Eagle gar nicht in San Francisco, sondern als Vertreter einer indigenen Organisation in Minneapolis, an der ersten «National Conference on Indian Education», wo er Flugblätter verteilt. Zusammengenommen machen die beiden Hinweise klar, dass es bei der Alcatraz-Besetzung nicht um «The Rock» geht. Zwar entwickeln sich im Umfeld wichtige Solidaritäten, doch der Fels bleibt steril, alles kommt von aussen, alles richtet sich nach aussen.

Ganz anders die ZAD von Notre-Dame-des-Landes. Hier ist ein Territorium, auf dem die Besetzung gärt, aufbricht, und Kraft gewinnt. Es sind der Boden, die Bäuerinnen, die Nähe einer grossen Stadt, die Hausbesetzter, eine «Natur, die sich verteidigt», wie auf Transparenten zu lesen ist, die gemeinsam, unter der Drohung eines Flughafens, diesen ungewöhnlichen Pfad einschlagen, der zuletzt in der einen oder andern Form, in der Region die Hälfte der Bevölkerung erfasst. Auch Notre-Dame-des-Landes wirkt nach aussen, als Modell, als Inspiration, wie die ZAD de la Colline in Éclépens beweist. Aber als reale Utopie, als Labor für neue Arten, die Welt zu bewohnen, entfaltet sie auch nach innen eine aussergewöhnliche Fruchtbarkeit. Darin liegt, so scheint mir, ihre herausragende Bedeutung.

Oliver Graf ist Autor und Mitglied der unabhängigen Botschaft für territoriale Entwicklung. Er berät die öffentliche Hand in Fragen der Umweltkommunikation und wirkt im Quartierladen Epicerie 79a mit. Er war im Sommer 2019 in Notre-Dame-des-Landes.

Illustrations : dessins réalisés dans le cadre du DSAA (diplôme supérieur d’arts appliqués) Alternatives urbaines.

Weiterlesen

Sharp, Gene. The Politics of Nonviolent Action, Extending Horizons Books, Boston: 1973 (ein Klassiker, die Besetzung von Alcatraz wird in Band 2, S. 388 erzählt)

Laurens, Christophe und Anne Zweibaum, hrsg. 2018. Notre-Dame-des-Landes, ou, Le métier de vivre. (sehr schön gestaltetes Buch mit Porträts von acht Häusern oder Hütten)

Mauvaise Troupe, hrsg. 2016. Contrées: histoires croisées de la ZAD de Notre-Dame-des-Landes et de la lutte No TAV dans le Val Susa. Paris: L’Éclat. (meine Hauptquelle für den chronologischen Abriss)

Fortunate Eagle, Adam. 1992. Alcatraz! Alcatraz! the Indian occupation of 1969-1971. Berkeley: Heyday Books. (Quelle für Details zur Besetzung der ehemaligen Gefängnisinsel)

Welzer, Harald. 2019. Alles könnte anders sein: eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Frankfurt am Main: S. Fischer. (Buch das erklärt, warum es reale Utopien braucht)

Lindgaard, Jade, hrsg. 2018. Éloge des mauvaises herbes: ce que nous devons à la ZAD. Paris: Éditions Les Liens qui libèrent. (mit Aufsätzen von Patrick Bouchain, Alain Damasio, David Graeber, Bruno Latour etc.)

https://zad.nadir.org (Website mit allen Infos zur ZAD von Notre-Dame-des-Landes)

Website mit allen Infos zur ZAD von Notre-Dame-des-Landes

https://zad.nadir.org

Cyrille Weiner / Christophe Laurens / Jade Lindgaard / Patrick Bouchain Notre-Dame-des-Landes ou le métier de vivre, 21 x 27,5 cm, 224 pages, environ 100 reproductions couleur et noir et blanc, impression quadrichromie sur papier Offset, broché.

Editions Loco, Paris.ISBN 978-2-919507-98-6,

Graphisme : Building Paris