Die Dosis macht das Gift
Digitalisierung – eine psychologische Perspektive
Wir stehen mitten in einem neuen Zeitalter. Die Vorzüge von Geschwindigkeit und Effizienz gelten im modernen Informationszeitalter als unstrittig. Gleichzeitig macht sich aber auch ein gewisses Unbehagen breit. Die ersten Warnsignale liefern uns die Neurowissenschaftler mit der Frage: Was macht die moderne Technik mit unserem Gehirn?
Sie haben festgestellt, dass die derzeitige Explosion digitaler Technik nicht nur unsere Lebens- und Kommunikationsweise verändert, sondern zunehmend und grundlegend auch unsere Gehirnstrukturen. Das Internet ist allgegenwärtig. Es dient der Informationsakquisition, der Kommunikation und der Synchronisierung des gemeinsamen Lebens. Kaum jemand, der noch offline ist. Es ist so selbstverständlich geworden, als habe das Internet schon immer existiert. Keine Technik hat jemals so rasant ihren Weg in den Alltag gefunden. Einerseits kann die digitale Informationstechnik das Leben erleichtern, andererseits ist sie mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden. Die Dosis macht das Gift.
Der analoge Held
Die Fähigkeit, Situationen einzuschätzen und schnell Entscheidungen zu treffen, stammt grösstenteils aus dem unscharfen Bereich des impliziten Wissens. Dort sind die meisten kreativen und künstlerischen Fähigkeit angesiedelt. Das explizite Wissen oder deklarative Wissen ist das, was tatsächlich schriftlich fixiert werden kann. Die digitale Technik ist deklarativ. Dass diese Technik begrenzt ist, zeigt sich am Beispiel des Autopiloten in einem Flugzeug. Es war das implizite Wissen und analoge Handeln des Flugpiloten Chesley Sullenberg, das für die erfolgreiche Notwasserung auf dem Hudson River des Flugs A-1549 der US Airways am 15. Januar 2009 verantwortlich war und nicht der digitale Autopilot.
Die Reduktion der Aufmerksamkeitsspanne
Mehrere Studien haben nachgewiesen, dass die regelmässige Nutzung des Internets unsere Aufmerksamkeitspanne, sprich die Fähigkeit, sich längere Zeit auf einen Text zu konzentrieren, deutlich reduziert. Unsere Fähigkeit zu lernen leidet und unser Verständnis bleibt oberflächlich. Wir werden zunehmend zu geistlosen Datenkonsumenten. Die Multimedia-Nutzung fordert die geteilte Aufmerksamkeit und vermindert dadurch unsere Aufnahmefähigkeit. «Damit eine Erinnerung bestehen bleibt, muss die eingehende Information gründlich und umfassend verarbeitet werden», schreibt der Nobelpreisträger und Professor für Neurobiologie Eric Kandel. «Dies wird erreicht, indem man der Information erhöhte Aufmerksamkeit schenkt und sie inhaltlich und systematisch mit Wissen verbindet, das im Gedächtnis bereits gut gefestigt ist.» Bereits Seneca schrieb vor 2000 Jahren: «Wer überall ist, ist nirgendwo.»
Fluch oder Segen?
Jedes Medium fördert bestimmte kognitive Fähigkeiten auf Kosten anderer. Die Segnungen des Internets, wie der effiziente und schnelle Informationsaustausch, die globale Vernetzung und Förderung der verfeinerten Entwicklung visuell-räumlicher Fertigkeiten können Fantasie und gründliche Überlegungen beeinträchtigen, die für eine bewusste Wissensaneignung und kritisches Denken notwendig sind. Der Fluch ist, dass wir nach Irrelevanz süchtig werden können und unser Gehirn dazu trainieren, jedem Unsinn Beachtung zu schenken. Der Preis, den wir für die Macht der Technik bezahlen, ist die Entfremdung. Mit der zunehmenden Zerstreuung, die uns die modernen Medien bieten, verlieren wir die Fähigkeit, subtile und ausgesprochene menschliche Emotionen wie Empathie und Leidenschaft zu empfinden. Um sich in andere Menschen hineinversetzen zu können und deren Affekte zu dekodieren, muss man lernen, was Mimik, Sprachmelodie, Blickkontakt und Gestik über das Innere eines Menschen aussagen. Dazu muss man die reale Begegnung mit Menschen pflegen. Bildschirme und Mikrophone sind untauglich, um tragfähiges Sozialverhalten zu erlernen.
Das Denken wird ausgelagert
Der Anstieg der ständigen Ablenkung, Erreichbarkeit und Manipulation kann zu Defiziten im Bereich Gedächtnis und Aufmerksamkeit führen. Die Fülle an Informationen führt nachweislich dazu, dass wir zunehmend Schwierigkeit haben, diese Informationen in einen logischen Zusammenhang zu überführen. Da ist die Versuchung gross, das Denken an die Technik abzugeben.
Frappante Ergebnisse lieferten Studien aus London, Montreal und Utah zu den negativen Auswirkungen eines Auto-Navigationssystems (GPS) auf die Ausbildung der kognitiven Landkarten der Benutzter. Fahrer, die Landkarten aus Papier benutzen, entwickelten stärkere Erinnerungen an Routen und Orientierungspunkte als jene, die sich auf das sogenannte GPS verliessen. Der Hippocampus, das Zentrum für Lernen und Gedächtnis im Gehirn, war deutlich kleiner bei GPS-Benutzern. Der Hippocampus ist wie ein Muskel, der regelmässig trainiert werden will. Je mehr wir uns auf Apps und Algorithmen verlassen müssen, desto unfähiger werden wir, ohne ihre Hilfe zu agieren. Wir erfahren dadurch eine Einengung unserer kognitiven Fähigkeiten und es kann zu einem Abbau von Zellen in gewissen Hirnstrukturen kommen, die für Lernen und Gedächtnis verantwortlich sind.
Quo vadis Schule?
Kürzlich stand in der Zeitung Biel/Bienne (12./13. Dezember 2018), dass der Lehrplan 21 die Förderung der Kompetenzen und Lernziele im Medien- und Informatikbereich vorsehe, welche vom Kindergarten bis in die Sekundarstufe zur erreichen sind. « […] Die Kernaufgabe der Volksschule ist es, die Kinder und Jugendlichen für die Arbeits- und Lebenswelt optimal zu befähigen.» Warum sind die Tech-Pioniere hingegen hoch besorgt über die Nebenwirkungen ihres Geschäftes (u.a. Reduktion der Aufmerksamkeitsspanne, Konzentrationsprobleme, Bewegungsmangel, eingeschränktes Sozialverhalten)? Laut einem aktuellen Bericht (Verschleiern, verleumden – und behüten) im Tagesanzeiger (29. November 2018) schicken viele Tech-Gurus aus Silicon Valley ihre Kinder in Waldorfschulen, wo iPods, Smartphones, Laptops und Smartboards nicht gestattet sind. Dort lernen die Kinder das Basiswissen ohne Bildschirm aber mit viel physischer und menschlicher Interaktion. Neue Studien hätten gezeigt, dass die Depressions- und Suizidrate bei Kindern mit steigendem Konsum der Social-Media-Angebote zugenommen habe. Quo vadis Schule?
Einsamkeit
Einsamkeit ist auf dem Vormarsch. Die Neurowissenschaftler Caccioppo und Patrick schreiben, dass die Willenskraft und das Selbstwertgefühl durch Einsamkeit stark beeinträchtigt werden. Viele Menschen versuchen dann den emotionalen Kummer mit gesundheitsschädlichem Verhalten, zum Beispiel übertriebenem Medienkonsum, zu regulieren. Ein Verhalten mit kurzfristiger Stimmungsaufhellung und massiven Langzeitschäden für Körper, Seele und Gesellschaft. Grossbritannien hat in der Zwischenzeit (Anfang 2018) wegen der bedenklichen Notlage ein eigenes Ministerium der Einsamkeit ins Leben gerufen. Über neun Millionen Briten fühlen sich einsam, gemäss Umfragen. Zunehmend stehen die digitalen und sozialen Medien auf der Anklagebank für die Entstehung dieser neuen Epidemie, bei der ein Fünftel der Patienten beim Hausarzt sich explizit über Einsamkeit beklagen. Die wissenschaftliche Evidenz ist noch nicht eindeutig, aber es gibt immer mehr Studien, die darauf hinweisen, dass die Nutzung von sozialen Onlinemedien die Wahrscheinlichkeit erhöhe, sich einsam zu fühlen. Wie bereits oben aufgeführt, ist die emotionale Verbundenheit in einem Gespräch von Angesicht zu Angesicht am stärksten, da wir auch auf nonverbale Informationen (Gestik, Mimik, Blickkontakt, Sprachmelodie) angewiesen sind, die in der digitalen Welt fehlen.
Sucht und Angst
Seit 2018 gilt gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO die «Onlinespielsucht» oder auch als «Internet Gaming Disorder (IGD) – Computerspielsucht» als eigenständige Krankheit. Immer mehr Jugendliche und Erwachsene schlagen sich die Nächte um die Ohren mit Gamen. Sie verbringen immer weniger Zeit damit, sich körperlich zu bewegen, die Natur zu geniessen und gesunde Beziehungen zu pflegen. Psychische und körperliche Krankheiten, die durch Schlafmangel, Stress, Unruhe und zunehmende Isolation verursacht werden, nehmen immer mehr zu.
Ähnlich ist die Lage mit den sozialen Onlinemedien. Perfide Tricks wie der Like-Button ziehen immer mehr Gebraucher in den Sog der Abhängigkeit. Warum? Wir können einfach nie genug soziale Anerkennung bekommen. Sie ist ein Fass ohne Boden. Dieses Wissen machen sich die Social-Media-Konzerne zu nutzen.
Die Digitalisierung generiert nicht nur neue Suchtstörungen, sondern auch Ängste. Die Nomophobie (Wortschöpfung aus no mobile phone und Phobie) gilt als die Angst von seinem Smartphone getrennt zu sein oder es nicht benutzen zu können. Bedenklich ist ebenfalls die Angst, etwas zu verpassen (Fear of Missing Out – FoMO), die auf eine verstärkte Smartphone Nutzung zurückzuführen ist. Immer mehr Menschen leiden unter dieser Angst. Charakteristische Symptome sind beständige innere Unruhe, hetzen von Ereignis zu Ereignis, der ständige Blick auf die Uhr, die Sorge, man könnte woanders etwas verpassen, und die Unfähigkeit Dinge zu geniessen.
Fazit
Die Digitalisierung unserer Gesellschaft ist eine Realität, die wir nicht mehr rückgängig machen können. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Ralph Waldo Emerson schrieb: «Die Zeit ist wie alle Zeiten eine gute Zeit, wenn wir nur richtig damit umgehen.» Die Digitalisierung hat ihre guten Seiten. Sie hat aber auch negative Seiten. Die Dosis macht das Gift. Die exzessive Nutzung digitaler Gadgets und Softwareangebote verändern unsere Aufmerksamkeitsspanne, unser Konzentrationsvermögen und unser Sozialverhalten. Sie kann Schlafstörungen generieren, die Einsamkeit fördern und zu Suchtkrankheiten führen. Kurz, sie belastet unsere körperliche und psychische Gesundheit.
Was ist zu tun? Wir müssen als Gesellschaft begreifen, dass wir nicht dazu gemacht sind, den ganzen Tag vor dem Bildschirm zu sitzen. Wir brauchen regelmässige Bewegung im Grünen, sollten echte zwischenmenschliche Beziehungen pflegen, Kreativität im Handwerklichen, Musikalischen oder Künstlerischen fördern und uns ganz bewusst offline-Zeiten in unserem digitalen Alltag einbauen.
Robert Pfandl ist psychologischer Physiotherapeut im «SGM Ambi Bern»