Die kritische Masse

In Biel findet neuerdings jeden Monat ein “Critical Mass” statt. Was das genau ist, wie es dazu kam, und welches Ziel diese Velokorsos durch die Stadt haben, erklärt im Interview Manuel Schmid – einer der “öffentlichen Ansprechpersonen” der Bewegung. Er möchte, dass jetzt wirklich etwas passiert in Sachen Veloförderung in Biel.

Manuel, wie bist du aufs Velo gekommen?

Ich bin in Ortschwaben, am Südhang des Frienisbergs, aufgewachsen. Ab der Mittelstufe sind alle mit dem Velo die etwa vier Kilometer bis Meikirch in die Schule gefahren. Ich mochte das Fahrrad damals aber noch nicht besonders. Du bist in der fünften, sechsten Klasse und Mama meint „das Wetter ist schön, du musst mit dem Velo fahren“. Sie bezahlt dir das Postauto sicher nicht, der Jugendschwarm aber fährt mit dem Postauto. Verstehst du?

Ansonsten haben wir natürlich „Absteigerlis“ und „Ausbremsen“ gespielt: wer zuerst absteigt, hat verloren. Und weitere solche Spiele. Eigentlich mochte ich das Velo schon, bloss dieser Schulweg war etwas ambivalent.

Wann erwachte die Liebe zum Velo?

Später als ich in Ortschwaben die Lehre als „Stromer“ machte. In dieser Zeit bin ich mit einem uralten, zusammengebastelten und viel zu grossen „Renner“ auf eine erste 14-tägige „Tour de Suisse“ gegangen. Es folgten fünf weitere mal zwei-, mal dreiwöchige Velotouren – alles in Europa, im Umland.

Weshalb bist du nun heute so engagiert für das Velo?

Ich bin ein Velofreak, weil mir das Velo wichtig ist. Veloverkehr ist flüssig wie Wasser. Und: Velofahren gibt gute Laune. Es gibt Studien, die belegen, dass Velofahren oder sportliche Betätigung gut für das geistige Befinden ist. Ausserdem hat das Velo eine solch kleine Verdrängung, dass es das optimale Verkehrsmittel für heutige Städte ist, die ein Verkehrs- und Bevölkerungswachstum haben. Ich bin überzeugt, dass wir viele innerstädtische Probleme lösen könnten, würden wir prioritär Veloförderung und –attraktivierung betreiben. Vor drei Jahren bin ich dem Vorstand von „Pro Velo Biel“ beigetreten und aktiv geworden.

Und nun bist du bei der Bewegung Critical Mass Biel Bienne an vorderster Front dabei. Wie kam es dazu?

Das kam aus der Frustration heraus. Ich bin ein zugezogener Bieler, habe hier studiert, bin dann ProVelo beigetreten und fing an, mich zu engagieren. So bin ich in diesen ganzen Sachverhalt hineingeraten und habe dabei gemerkt, wie wenig sich bewegt. Zwar gibt es einen Austausch mit den Behörden, aber es bleibt stets beim Unverbindlichen. Oft werden Mails nicht beantwortet, und trotz Städteinitiative (siehe Fussnote) und Velonetzplan wird das Ganze dann doch anders gehandhabt und nicht umgesetzt.

Man hört nicht auf euch?

Ja, ein Stück weit ist es so. Man tauscht sich aus, weil man es – von Stadtseite her – muss, um die Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren.

Daher der Frust?

In meinem Freundeskreis sind viele Velofahrer, die, genau wie ich, langsam aber sicher frustriert sind, und etwas machen wollten. Den Wunsch, die Bewegung Critical Mass nach Biel zu holen, trage ich schon lange in mir. Diesen Sommer hat’s dann gepasst.

Man wird ja immer vertröstet mit Zeithorizonten, etwa dem Westast. Oder es heisst: „in 20 bis 25 Jahren“. Wir fanden aber nun: Das geht nicht! Wir benötigen Verbesserungen für das Velo und zwar unabhängig vom Westast und was sonst noch kommt. Da muss jetzt etwas geschehen!

Worum geht es? Was müsste hier in Biel verbessert werden?

Das reicht von ganz kleinen Massnahmen, wie z.B. der Erneuerung von Velostreifen, die seit Jahren vernachlässigt werden, über grössere Massnahmen, wie Velowege, die nicht wieder erstellt werden, siehe Stade de Bienne, bis hin zu grösseren Projekten, beispielsweise mehr Veloparkplätze um den Bahnhof herum, in der Seevorstadt, beim Gymer am See. Oder grosse Projekte, wie eine Velo(hoch)strasse, die in Seenähe auf Höhe des Bahntrassees eine super Nord-Süd-Verbindung ergäbe.

Oder eine Ost-West-Verbindung?

Genau! Man könnte aus Biel eine fantastische Velostadt machen.

Das würde sich doch eigentlich anbieten. Unser Stadtpräsident Fehr informierte einst an einer Präsentation, dass „80 Prozent des Verkehrs hausgemacht“ seien.

Das ist so. Und wenn man sagt, dass vom innerstädtischen Verkehr auf eine Distanz von 5 Kilometern Dreiviertel der Leute das Fahrrad nehmen könnten, dann wäre das fantastisch. Doch dafür müssen Rahmenbedingungen erstellt werden, damit die Leute auch wirklich aufs Velo steigen.

Es gibt den Spruch „von 8 bis 88“, was heisst, dass sich von 8-jährigen Kindern bis zum 88-Jährigen alle auf diesen Velostrassen sicher fühlen. Das ist das Ziel, eine sichere attraktive Veloinfrastruktur dank einer Verkehrsplanung mit Priorität auf das Velo. Bern zeigt, wie viel trotz geringer Mittel aber mit etwas politischem Willen diesbezüglich möglich ist. Ganz im Gegenteil dazu Biel.

Dafür geht ihr nun auf die Strasse. Was bedeutet Critical Mass eigentlich?

Das wurde in den 1990-er Jahren in San Francisco gestartet, mit der Absicht, den Anliegen der Velofahrenden Gehör zu verschaffen, indem man mit einer möglichst grossen Masse Velos eine Stadtrundfahrt macht, um so den Verkehr einen Moment lang zu blockieren. Je nach Grösse dieser Masse dauert das unterschiedlich lang: in Biel zur Zeit vielleicht nur zwei bis drei Minuten, in grösseren Städten wie Hamburg kann es aber schon auch mal eine halbe Stunde dauern, bis tausende von VelofahrerInnen durchgefahren sind. Wir wollen mit der kurzfristigen Blockade aber nicht die anderen Verkehrsteilnehmenden provozieren, sondern sie auf uns und unsere Anliegen – die Veloförderung – aufmerksam machen. Den Behörden senden wir ein Signal: „Wir sind unzufrieden, macht etwas für die Förderung des Velos“.

Am Abstimmungswochenende vom 23. September erzielte der Velo-Artikel gesamtschweizerisch eine sehr hohe Zustimmung. Wird jetzt alles gut?

Schön wär’s! Ich bin etwas gespalten. Grundsätzlich ist das „Ja“ besser als nichts, aber insgesamt ist der Artikel recht zahnlos, weil man von einer „muss“-Formulierung zu einer „kann“-Formulierung in der Verfassung gekommen ist, also nur noch den Veloverkehr unterstützend.

Wenn man sieht, mit welcher Wucht der Artikel angenommen wurde, so hätte man – wie es in verschiedenen Kommentaren geschrieben wurde – den Artikel auch mit einer „muss“-Formulierung durchgebracht. Das schmerzt natürlich sehr, und so habe ich ein lachendes und ein weinendes Auge.

Man weiss aber jetzt, dass Dreiviertel der Bevölkerung eine aktive Veloförderung befürworten. Das ist ein markantes Zeichen.

Apropos markantes Zeichen. Wie hast du das erste Critical Mass Ende Juli erlebt?

Es gab zwei Unsicherheiten: Wie viele Leute werden kommen, und wie nimmt es die Polizei auf?

Die Medien waren sehr interessiert: innert einer Woche kamen alle Lokalmedien, BT, JdJ und Canal3, vorbei und wollten Interviews. Das verschaffte uns eine super Publizität. Bei der Polizei meldeten wir uns erst zwei Abende vorher an und waren vom sehr konstruktiven Dialog und ihrer Unterstützung positiv überrascht. Hier müssen wir aber auch erwähnen, dass wir sehr viel in ein eigenes Verkehrsteam mit eigenen Leuchtwesten und Warnlichtern investiert haben. Wir setzen alles daran, dass es keine Konflikte auf der Strasse gibt, und benehmen uns anständig, damit man uns hört und ernst nimmt. Wir wollten nicht als Unruhestifter abgestempelt werden. Das kam bei der Polizei super an.

Und dann natürlich die grosse Spannung, als um 18 Uhr erst etwa zehn Leute da waren. Doch um 18:10 Uhr, wumm!, standen plötzlich rund 150 Leute mit ihren Velos da. Die Ausfahrt dann war eine Freude, die Stimmung super: es gab etwas Musik, der Polizist hatte Freude, die Leute am Strassenrand winkten zurück. Alles in allem eine wirklich positive Botschaft für’s Velo.

Wie geht es weiter?

Das Critical Mass Biel Bienne findet immer am letzten Freitag im Monat statt (siehe auch Infobox), wobei der 28. Dezember noch offen ist. Ich hoffe, dass die Bewegung weiter wächst, und möchte alle Leserinnen und Leser der Vision 2035 aufrufen, im Grossraum Biel zu mobilisieren und mit ihren Leuten zu kommen, damit der Anlass vom „Mässeli“ zur eindrucksvollen Masse wird und wir damit wirklich Druck erzeugen können.

Wie sehen deine Visionen für die Mobilität der Zukunft aus?

Der Blick nach Norden ist für mich eine Vision: Holland ist ein Paradebeispiel für eine landesweite Velo-Infrastruktur – ich war gerade im Sommer dort – das ist der Wahnsinn. Meine andere Vision ist eine Velokultur à la Dänemark; eine Velokultur des Miteinanders statt des Gegeneinanders.

Und Visionen für Biel wären zum Beispiel eine Velo(hoch)strasse und ein innerstädtisches Velo-Leitnetz, das einen – getrennt vom PKW-Verkehr – schnell und effizient zu den wichtigsten Punkten in der Stadt führen könnte – mit grüner Welle und mit durchgängigen Velostreifen. Trennen ist vielleicht nicht überall möglich, aber mit etwas Wille ist sehr viel möglich.

Wäre eine motorfahrzeugfreie Stadt eine ferne Zukunftsvision?

Schwierig zu sagen, aber verkehrsfreie Gebiete auf jeden Fall. Die Dufourstrasse z.B. wäre genial – eine fantastische Achse, mit Ausweichmöglichkeiten links und rechts. Für solche Visionen lohnt es sich bestimmt zu kämpfen. 

Das Interview führte Andreas Bachmann mit Manuel Schmid

Die Bieler Städteinitiative, getragen von rund einem Dutzend lokaler politischer Parteien und Initiativen, wie auch national aktiver Initiativen wie „umverkehR“, Greenpeace und „Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz, AEFU“ wurde Ende 2012 eingereicht, 2014 vom Stadtrat angenommen und als „Reglement zur Förderung des Fuss- und Veloverkehrs, sowie des öffentlichen Verkehrs“ verankert.

Die Critical Mass Biel Bienne findet immer am letzten Freitag im Monat statt.

Treffpunkt: 18 Uhr, Zentralplatz, Abfahrt ca. 18:15, Dauer ca. 1h

Verhalten: Wir sind 8-88, friedlich, fröhlich, bunt, lustig und setzen so ein positives Zeichen für den Veloverkehr. Wir fahren nicht auf der Gegenfahrbahn, bleiben als Velogruppe zusammen (auch bei Ampeln) und lassen uns nicht von wartenden Autos provozieren. Ein Verkehrsteam unterstützt den Velokorso in der Stadt.

Öffentliche Ansprechpersonen: Manuel Schmid und Patrik Widmer 

Interessant zu wissen: Die Bewegung besteht im inneren Kern aus 4-5 Leuten, im äusseren aus ca. 20 Leuten, welche die Critical Mass antreiben – unabhängig und weder von einer politischen Partei noch von ProVelo oder von Westastsonicht finanziert. Alle finanziellen Aufwände (Ausrüstung Verkehrsteam, Werbung usw) werden aus eigener Tasche bezahlt. Vor Ort gibt es jeweils eine Kollekte.



Aktuelle Infos:

Aktuellste Infos: https://www.instagram.com/criticalmassbielbienne/
Wo ist’s für Velos in Biel gefährlich, wo supertoll?
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