Die Nahrungsmittelfabrik Nr. 1 rüstet auf

„Wir wollen grundsätzlich nichts Fremdes im Trinkwasser haben“, lautet die Devise beim ESB, dem Bieler Trinkwasseraufbereiter. Mit dem neuen Seewasserwerk, das sich momentan im Bau befindet, kommt man der Zielsetzung entschieden näher. Herzstück ist eine speziell auf die hiesige Situation abgestimmte und damit weltweit einzigartige Umkehrosmose-Anlage. Sie soll insbesondere ohne Chemie auskommen und speziell polaren Spurenstoffen wie Chlorothalonil-Abbauprodukten den Riegel schieben. Trotzdem sind auch Kompromisse nötig.  

Im Seewasserwerk in Ipsach grummelt und rauscht es in dicken farbigen Röhren. Hier wird das Lebensmittel Nummer 1 der Bielerinnen und Nidauer produziert: Trinkwasser in riesigen Mengen. 14‘000 Liter fliessen von hier aus jede Minute und rund um die Uhr durch eine Transportleitung mit 80 Zentimeter Durchmesser in Richtung der beiden Städte, oder anders gesagt 100 Badewannenfüllungen pro Sekundenzeigerumlauf, bei Bedarf auch das Doppelte. Vom Rohstoff, den es dafür braucht, hat es reichlich: einen ganzen See voll, in den laufend neues Wasser fliesst – im langjährigen Durchschnitt 175 Kubikmeter pro Sekunde beim Wehr in Hagneck. Es kann aus dem Vollen geschöpft werden. 

Einziges Problem: das kühle Nass ist nicht über alle Zweifel erhaben. Was beim Ansaugen 38 Meter unter dem Seespiegel so alles mitkommt, erfordert ein mehrstufiges Säuberungs- und Desinfektions-Verfahren unter Einsatz von Filtern, Düsen, Flockungsmitteln, Chlordioxid, Ozon und Aktivkohle und beträchtlichen Mengen Energie (siehe Grafik). Die Anlage, die am 14. Oktober 1975 in Betrieb genommen wurde, ist ein technisches Meisterwerk, dessen Endprodukt höchsten Standards genügen muss und so pingelig überwacht wird wie kaum ein anderes Lebensmittel. Aber nun stösst das alte Seewasserwerk mehr und mehr an seine Grenzen, wie Andreas Hirt, Leiter Bau & Netzservices beim Energie Service Biel erklärt. Die Schadstofflast in den Gewässern nehme laufend zu. „Dabei spielt auch die Klimaerwärmung eine Rolle. Die Abwassermenge, die in den Bielersee gelangt, ist mehr oder weniger konstant, die Verdünnung in Trockenperioden aber natürlich schlechter.“ Zu schaffen machen den Wasseraufbereitern Medikamentenrückstände, chemische Mikroverunreinigungen aus Haushalt, Gewerbe und Industrie, sowie Pestizide und deren Abbauprodukte aus der Landwirtschaft. Laut dem letzten Gewässerbericht des Bernischen Amts für Wasser und Abfall AWA erreichen täglich 8 kg Mikroverunreinigungen bei Hagneck den Bielersee. Natürlich stark verdünnt, sprich gelöst. Gemäss NAWA-Programm (Nationale Beobachtung Oberflächengewässerqualität) wurden die Gewässer auf gesamthaft 63 Substanzen, nämlich 42 Pestizide, 5 Haushalts-/Industriechemikalien und 16 Pharmazeutika untersucht und bei Hagneck 11 davon in einer Gesamtkonzentration von 0.4 Mikrogramm pro Liter nachgewiesen. Beim Auslauf des Bielersees waren es bereits 0.5 Mikrogramm pro Liter. 

Weltneuheit statt viel Kohle

Und immer Neues wird im Wasser entdeckt. Jüngstes Beispiel: das Fungizid Chlorothalonil und dessen Abbauprodukte, die seit drei Jahren in aller Munde sind, leider auch im wahrsten Sinne des Wortes. Zurückhalten lassen sich diese Spurenstoffe nämlich mit Filtern und Ozonbehandlungen in der klassischen Wasseraufbereitung nur bedingt, „oder nur mit extrem viel Aktivkohle“, so Hirt. Diese wird aktuell auf der letzten Stufe der Aufbereitung eingesetzt. Die je 43 Tonnen in den vier Becken des Hauptfilters reichen für jeweils 5 Jahre. Hirt hat ausgerechnet, dass sie alle 6 Monate ausgewechselt werden müssten, um der jetzigen und künftig voraussichtlich noch zunehmenden Schadstoffbelastung der Gewässer Herr zu werden. „Das ist aus ökologischer Sicht nicht sinnvoll. Das würde viel zu viel Co2 verursachen. Die Kohle kommt mehrheitlich aus China oder Amerika.“     

Also wurden im Rahmen der sowieso nötig gewordenen Erneuerung des Seewasserwerkes auf andere innovativere Technologien fokussiert. Und weil es keine Patentlösung gibt und schon gar keinen Filter, der alles Schlechte rausnimmt, die für den Menschen guten und wichtigen Mineralien aber belässt, mussten die Fachleute tüfteln und ausprobieren. Nach zwei Jahren Pilotierung stand schliesslich fest: Die Lösung für Biel ist die Umkehrosmose und zwar ohne Einsatz von Chemie, was laut Hirt „nach unserem Wissensstand ein Weltnovum sein wird bei der Aufbereitung von Oberflächenwasser.“ Doch der Reihe nach. Zunächst durchläuft das Seewasser einen mechanischen Vorfilter, quasi ein Sieb, und dann die Ultrafiltration. Die Ultrafiltration desinfiziert das Wasser durch Zurückhalten der Bakterien und der Mehrheit der Viren und entfernt alle Partikel die grösser sind als 20 Nanometer. Sodann folgt die Umkerosmose. Hier wird das vorgereinigte Rohwasser gegen eine synthetische halbdurchlässige Membran gepresst, die für Wassermoleküle durchlässig ist, für Salze und Unreinheiten des Rohwassers jedoch nicht. Das Prinzip beruht auf dem natürlichen osmotischen Verlangen von durch eine Membran getrennten Flüssigkeiten nach Konzentrationsausgleich, wird aber durch das Zufügen von Druck umgekehrt. So erhält man nahezu 100 % reines Wasser.

Es braucht alle Reinigungsstufen

Das Problem: damit sich keine Salze ablagern oder Kalk die Membrane verstopft, muss bei Umkehrosmose-Anlagen, vor allem bei der Meerwasseraufbereitung, in der Regel ein chemisches Mittel als „Antiscalant“ eingesetzt werden. Das wollte man beim ESB vermeiden. Die Lösung: „Wir fahren die Ausbeute auf 50% herunter. Die Membran wird dadurch sehr viel weniger belastet und langlebiger“, erklärt Hirt die Besonderheit der künftigen Bieler Umkehrosmose-Anlage. Die Konsequenz daraus: Es muss mehr Rohwasser aus dem See geholt werden, aber davon habe es ja genug. Und noch etwas ist speziell an der Bieler Lösung: nur die Hälfte des im neuen Seewasserwerk aufbereiteten Wassers wird durch die Umkehrosmose geleitet werden. „Würden wir alles damit behandeln, hätten wir keine Mineralstoffe wie Calcium und Magnesium mehr im Wasser und müssten es am Ende remineralisieren.“ In dem man 50 % des Wassers in der Aufbereitung an der Umkehrosmose vorbeileite, könne das umgangen werden. 

Durch alle anderen Reinigungsstufen fliesse es selbstverständlich hindurch. Das ist auch nötig. Denn die Umkehrosmose sei zwar gerade bei der Bekämpfung von Chlorothalonil-Abbauprodukten und vielen anderen der sogenannten polaren Stoffe wirklich effizient. Aber es gebe auch Ausreisser. Das Korrosionsschutzmittel Benzotriazol beispielsweise, welches vor allem durch Reinigungsmittel für Spülmaschinen in die Gewässer gelangt, halte auch die Umkehrosmose nicht zurück. Man wisse physikalisch bis heute nicht genau warum, sagt Hirt: “In der Ozonstufe danach wird Benzo aber quasi 100 prozentig eliminiert, jedenfalls bis unter die Nachweisgrenze.” Umgekehrt kann Ozon Chlorothalonil kaum etwas anhaben. Am Ende, so der Leiter der Bieler Wasseraufbereitung, erreiche man mit dem neuen Seewasserwerk zusammengenommen eine 90-prozentige Elimination der unerwünschten Spurenstoffe.

Bis es mit dem neuen Seewasserwerk soweit ist, muss „der VW Golf mit 50000 Kilometern und immer top im Service“, wie Hirt das alte Werk liebevoll nennt, den Betrieb bis zur fliessenden Übernahme der neuen Anlage aufrecht erhalten. Es liefert mittlerweile nahezu 100 Prozent des Bieler Trinkwassers, seit im Zuge der Chlorothalonil-Verunreinigung der Grundwasser-Zustrom aus Worben abgestellt wurde. Einzig die Leugenenquelle steuert noch – mit Unterbrüchen – maximal 5 Prozent ans Bieler Trinkwasser bei.

Gebaut wird in Ipsach also aussenherum. Ende 2023 soll die erste Hälfte der neuen Anlage in Betrieb gehen, zwei Jahre später dann auch die zweite Hälfte. Das ganze Projekt ist mit deutlich mehr als 50 Millionen Franken veranschlagt.

Aufrüstungen, die Hoffnung machen

Und was passiert eigentlich mit dem, was in der Umkehrosmose zurück bleibt? Es wird zurück in den See geleitet, so Hirt. Der Grund ist einfach: die polaren Stoffe sind in jenem Teil des Wassers, das auf der einen Seite der Umkehrosmose zurückbleibt, nun zwar doppelt so hoch konzentriert wie davor, aber immer noch in einer sehr grossen Wassermenge gelöst. Sie können nicht einfach herausgepickt und im Sondermüll entsorgt werden. Weil auch die ARA sie kaum zurückhalten würde, bleibt nur die Rückführung dorthin, wo sie herkamen. In Zahlen aufgeschlüsselt sieht das so aus: 36 Tonnen Schmutzfracht kommen täglich im Bielersee an (abgestorbene Blätter und andere Stoffe natürlichen Ursprungs, aber auch Kot, Pneuabrieb etc.). Im Seewasserwerk in Ipsach, das täglich 0.09 Prozent des Zuflusses des Bielersees ansaugt, werden 32.5 kg davon herausgefiltert, aufkonzentriert, in die ARA geleitet und schliesslich als Klärschlamm in der Müllverbrennungsanlage verbrannt. 3.5 Gramm gelöste Stoffe hingegen – davon 1.3 Gramm Chlorothalonil-Metaboliten – werden in den See zurückgegeben, irgendwo inmitten von 7000 Litern Wasser pro Minute, vorgereinigt in der Ultrafiltration.

Das Seewasserwerk hilft also gesamthaft gesehen gar, den See ein wenig zu reinigen.  Spätestens unterhalb der Abwasserreinigungsanlage (ARA) in Port sind allerdings dann noch mehr Stoffe in der Aare, die dort nicht hingehören. Weitere kommen flussabwärts hinzu. Im aargauischen Murgenthal jedenfalls fand das Bernische Amt für Wasser und Abfall 2018 bereits 23 Substanzen mit einer Gesamtkonzentration von 0.7 Mikrogramm pro Liter und eine Fracht von täglich 16 kg Mikroverunreinigungen. Das ist doppelt so viel wie im Bielersee.
Hoffnung macht da das vom Bund aufgestellte Programm, ausgewählte ARAs bis 2035 mit einer vierten Reinigungsstufe auszustatten, sowie die Resultate der ersten derart für 19 Millionen Franken aufgerüsteten Anlage im Kanton Bern, die ARA Thunersee in Uetendorf: Alle 12 überprüften Indikatorenstoffe wurden deutlich mehr als vor der Aufrüstung abgeschieden, elf von zwölf nahezu zu 90 Prozent, während sie sich vorher kaum oder gar nicht eliminieren liessen, wie zum Beispiel das Arzneimittel Metoprolol, welches verbreitet zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen eingesetzt wird. 

Auch der ARA Region Biel steht eine solche Aufrüstung bevor. Sie reinigt das Abwasser von rund 85 000 Menschen.

Text:
Janosch Szabo, Mitglied der Kernredaktion von Vision 2035, hat vor zwölf Jahren schon einmal für das Bieler Tagblatt über das Seewasserwerk geschrieben und sich jetzt wieder damit auseinandergesetzt. Zuhause und auch im Restaurant trinkt er am liebsten Hahnenwasser. 


Seewasserwerk Ipsach

Weitere Informationen zur Erneuerung des Seewasserwerk und zum Fortschritt der Arbeiten.