Die Stadtutopie zurückbringen

Die Gartenstädte, hervorgebracht von Ebenezer Howard (1850-1928), sind eine konkrete und gelebte Utopie. Sie veränderten den Blick auf die Stadt fundamental, sind noch heute zukunftsweisend und fanden auch in Biel u. a. durch den Architekten Eduard Lanz ihre Verwirklichung.

Mit 38 Jahren liest der Londoner Büroangestellte Ebenezer Howard (1850-1928) das Buch «Ein Rückblick aus dem Jahr 2000» von Edward Bellamys, das ein ideales Gemeinwesen beschreibt. Davon inspiriert, verfasst Howard «Tomorrow. A Peaceful Path to Real Reform» (1898). Er entwirft darin die Gartenstädte. Das Ziel: die Aufhebung von Stadt und Land durch ländliche Wohnsiedlungen, Fabriken und Kultur. Ein wichtiges Merkmal ist die Kollektivierung von Grund und Boden zur Vermeidung von Spekulation, nicht alle Gartenstadtsiedlungen folgen jedoch diesem Punkt. Kernpunkt ist auch die Selbstversorgung mit Energie und Lebensmittel, denn Parks und Gärten nehmen einen grossen Teil der Stadtfläche ein. Sämtliche Bereiche der Stadt sind per Fuss oder Rad zugänglich, selbst die Arbeitsplätze, um unnötiges Pendeln zu vermeiden. Die Zentralstadt mit rund 58’000 Einwohner*innen wird von kleineren Gartenstädten mit je rund 32’000 Einwohner*innen umgeben, eine solche ist allerdings nie realisiert worden.

Soziale Utopien als Reaktion auf die Industrialisierung

Die Erfindung der Dampfmaschine, des mechanischen Webstuhls und der Dampflokomotive, um nur einige zu nennen, führen dazu, dass England im 18. Jahrhundert Vorreiter der Industrialisierung wird. Das Wachstum der Städte, die grassierende Wohnungsnot, die steigende Bodenspekulation, der aufkommende Welthandel mit der Verdrängung der lokalen Märkte, führt zu bitterster Not in breiten Bevölkerungsschichten. Die Industrialisierung bringt einen neuen Typus Mensch hervor: Die Bäuer*innen, die ihr Land bearbeiten, es sogar besitzen oder eine Pacht zahlen, haben eine gewisse «Kontrolle» über ihr Leben und ihre Arbeit. Hingegen haben die Industriearbeiter*innen nur ihre Arbeits- kraft und geben so einen grossen Teil ihrer Freiheit und Selbstbestimmung auf – der Begriff der Lohnsklaverei entsteht.

Die Gartenstadt als umfassende Selbstversorgung

Die Ideen Howards finden aber weiter Verbreitung, so wird 1899 die Garden City Association gegründet. 1903 wird die erste Gartenstadt in Letchworth (GB) errichtet. Die Gartenstadt Welwyn im Norden Londons, in der er bis zu seinem Tod lebt, entspricht ihm allerdings mehr. Die erste Gartenstadt in Deutschland entsteht in Hellerau im Jahre 1909. Sie verpflichtet sich der Lebensreformbewegung und wird durch den Möbelfabrikanten Karl Schmidt im Verbund mit den Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst und einem Festspielhaus initiiert. Weitere Siedlungen entstehen später u. a. in Essen und Berlin.

In der Nähe von Basel entsteht die erste Gartenstadt in Neu-Münchenstein im September 1912 mit 36 Wohnhäusern. Aus kollektiver Selbsthilfe lanciert Bernhard Jaeggi (1869-1944), SP-Politiker und Präsident des Aufsichtsrates des VSK (Verband Schweizer Konsumverein in Basel, heute Coop), mit Mitstreiter*innen das Freidorf in Muttenz. Von 1919-1921 wird das Modellprojekt einer Vollgenossenschaft mit rund 600 Bewohnenden, die alle beim Konsumverein arbeiten, gebaut. Von Wohnen und Haushalt über gemeinsame Arbeit und Kinderbetreuung bis zu Bildung und Kultur sowie Gesundheitswesen sind alle Bereiche abgedeckt. Es gibt sogar zwei Läden und ein Restaurant, eine Wohlfahrtskasse, eine Kollektivversicherung, eine eigene Zeitung sowie ein eigenes genossenschaftliches Geld, das «Freidorfgeld». Weitere Gartensiedlungen entstehen in den Städten Genf, Zürich, Thun, Zug und Lausanne – und natürlich in Biel.

Soziales Gedankengut und menschenwürdige Architektur

Der Bieler Architekt Eduard Lanz (1886-1972) weilt von 1916-1918 in Berlin, ist Zeuge der Novemberrevolution im Jahr 1918 und begeistert sich für sozialistische Ideen seit seiner Studienzeit am Polytechnikum in Zürich. Lanz ist Meisterschüler an der Akademie der Künste und studiert gleichzeitig an der Technischen Hochschule Berlin, auch dort gewinnt die Gartenstadtbewegung an Bedeutung.

Lanz beteiligt sich 1918 am «Ideenwettbewerb zur Erlangung eines Bebauungsplanes für die Stadt Biel und ihre Vororte» mit seinem Entwurf «Rot und Schwarz» in welchem er die Ideen zur Gartenstadt heranzieht. Leider trifft dieser durch die politischen Ereignisse verzögert bei der Jury ein und kann so nicht mehr berücksichtigt werden.

Fortan ist Lanz bestrebt, mit seiner Arbeit den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt zu fördern, Ausdruck findet dies im markanten Klinker-Bau, dem Bieler Volkshaus (1932) und insbesondere dem genossenschaftlichen Wohnungsbau, für den er insgesamt 275 Wohnungen entwirft. «Es sind Bauten mit guter, solide durchdachter Architektur, die den Ansprüchen der Zeit genügen – schnell gebaut, kostengünstig, konsequentes Wohnkonzept auf geringem Raum für eine hohe Anzahl an Bewohnern», schreibt Nathalie Ritter in ihrer Dissertation zu Eduard Lanz. Die Wohnkolonien der Genossenschaften reduzieren die Wohnungsnot und befördern den sozialen Aufstieg der Stadt (Neues Bauen 1921-1939). Die Ideen von Ebenezer Howard setzt er pragmatisch um. Jede Wohneinheit hat eine eigene Gartenparzelle zur Selbstversorgung. Zu den aktiven Förderern zählt auch der sozialdemokratische Stadtpräsident Guido Müller (1921-1947).

Siedlungen der Gartenstadtbewegung sind wichtige Zeitzeugen und leisten einen Beitrag zu einer vielfältigen und durchgrünten Stadt. Dieses Erbe gilt es zu schützen und bekannt zu machen – auch um auf die zukünftigen sozialen und ökologischen Herausforderungen Antworten zu finden.
Die Rolle der Wohnbaugenossenschaften muss hierbei eine führende sein. Der Bie- ler Architekt Gilbert Woern ist ein profunder Kenner von Eduard Lanz und bereitet gerade ein Buch über ihn vor. Er erinnert darin an die Initiative für gemeinnützigen Wohnungsbau von 2014 und deren Wichtigkeit, um der Spekulation entgegenzuwirken. Das Ziel: Bis 2035 soll dieser Anteil auf 20 Prozent erhöht werden. Er moniert allerdings, dass dieses Bestreben verfehlt wird, denn dazu bräuchte es 1400 neue Wohnungen in gemeinnütziger Hand.

Text:
Mathias Stalder ist Gründer von Stadt Ernähren und aktiv im OK Bankett de Bienne.

Foto:
zVg, Gilbert Woern
Die Siedlung Möösli 1 ca. 1928. Zur Beseitigung des Wohnungsproblems: Aus der Enge der Behausungen in der Altstadt in die Peripherie.

Überblick der Gartenstadt-Siedlungen in Biel:

  • Rennweg-Mett, 1925
  • Nidau-Hofmatten (Eisenbahner Baugenossenschaft, 1912-1918 und 1929 letzte Etappe von Lanz)
  • Falbringen, 1926-1931
  • Champagne, 1929 und 1931
  • Linde, 1930
  • Möösli, 1927-1947



Lesetipp – Dissertation über Eduard Lanz

Nathalie Ritter: Eduard Lanz 1886-
1972, ROT UND SCHWARZ, lokale
Architekturkarriere und internationales
Selbstverständnis

Pont linguistique

Retrouver l’utopie urbaine

En réaction à la brutalité de l’industrialisation et à la misère noire qu’elle entraine pour les populations ouvrières, Ebenezer Howard (1850-1928) conçoit des cités-jardins, sorte de communauté idéale, qui doit apporter une réponse sociale à la crise du logement et à la spéculation foncière, et permettre l’autosuffisance alimentaire et énergétique. Ses idées se répandent dans toute l’Europe grâce à la Garden City Association, fondée en 1899. En 1903 la première cité-jardin est construite à Letchworth. En Allemagne, à Essen et Berlin se trouvent également de tels lotissements. En Suisse aussi ces idées sont reprises par l’architecte biennois Eduard Lanz, qui met en œuvre les concepts de Howard de façon pragmatique et s’efforce de promouvoir le progrès social dans son travail. A Bienne il réalise ainsi la maison du peuple et 275 logements, solidement conçus et réduisent la pénurie de logement. Près de Bâle, le Freidorf à Muttenz, à Genève, Zürich, Thoune, d’autres cités-jardins existent. Un article pour renouer avec l’histoire de notre ville et ses «utopies ». (cm)

Glossaire

die Gartenstadt – la cité-jardin
die umfassende Selbstversorgung – l‘ autosuffisance totale
entstehen – voir le jour, surgir
die Zukunftschancen – les perspectives d’avenir
die Selbstbestimmung – l’autodétermination