Mr. Cloud
Man kann nicht leugnen, dass uns die Digitalisierung bereits jetzt unzählige Vorteile gebracht hat. Zum Beispiel lässt sich innert kürzester Zeit die Antwort zu den absurdesten Fragen finden. Ich muss mir also nicht mehr länger den Kopf darüber zerbrechen, warum sich Katzen unheimlich erschrecken, wenn man sie mit einer Salatgurke überrascht. Ich google einfach die Frage, die bestimmt schon einmal gestellt und ausführlich beantwortet wurde, und voilà, Volltreffer. Oder wenn sich die Familie darüber streitet, ob man da jetzt einen optimalen Blick auf das Mittaghorn oder auf den Rohrbachstein hat, zückt man lässig das Smartphone mit der Peakfinder-App und schon erntet man Anerkennung von der Grossmutter, welche natürlich Recht hatte, da sie die ganze Bergkette 1944 (!) auswendig lernen musste und noch immer runterrattern könnte.
Aber eigentlich möchte ich in diesem Text eher die andere Seite der Digitalisierung beleuchten. Die Seite, die mir Angst macht. Die Seite, die alle Informationen von mir abspeichert, berechnet und nie vergisst. Ich nenne diese Seite der Digitalisierung «Mr. Cloud», weil es mir durch die Personifizierung einfacher fällt, diese komplexe Welt zu erfassen. In meiner Vorstellung hat jeder Mensch einen eigenen Mr. oder eine eigene Mrs. Cloud (denn ansonsten würde Mr. Cloud in der heutigen Zeit in seiner Arbeit versinken, wenn er mehrere Menschen gleichzeitig überwachen müsste). Mein Mr. Cloud ist auf jeden Fall ein schmuddeliger Computernerd mit fettigen Chipsfingern, ungewaschenen Haaren und einem fiesen Lachen. Mr. Cloud sitzt täglich vor mehreren Bildschirmen und hat den kompletten Zugang zu meinem Handy, meinem Computer, meiner Kreditkartenabrechnung, zu allen öffentlichen Kameras und zu vielem mehr. Er ist angestellt bei diversen Riesenkonzernen und sein einziger Job ist es, mich rund um die Uhr zu überwachen und ein Aktivitätenprotokoll zu erstellen. Er kriegt einen Bonus, wenn er mein nächstes Treffen, meinen nächsten Konsum oder meine nächste Erkältung prophezeien kann. Er wird gut bezahlt und liebt seinen Job.
Einige würden an dieser Stelle sagen: «Na und?! Solange man nichts zu verheimlichen hat, kann einem dies egal sein.»
Diese Aussage halte ich für sehr gefährlich.
Klar, falls ich nicht gerade professionelle Meisterdiebin oder eine berühmte Hollywoodschauspielerin werden möchte, wird sich wohl nie jemand für meine riesige Datenbank interessieren. Aber sollten nicht auch uninteressante Personen, die nichts zu verheimlichen haben, ein Recht auf (digitale) Privatsphäre haben? Und sind wir als mündige Bürger und Bürgerinnen nicht auch ein wenig verpflichtet, uns stärker für den Schutz unserer Daten einzusetzen und Mr. Cloud das Leben schwerer zu machen? Das Internet heisst «Netz», weil wir im Netz gefangen sind. Es ist aber auch sehr einfach einen Fisch zu fangen, der nicht einmal Anstalten macht, seiner Gefangenschaft zu entkommen.
Lasst uns doch rebellischere Fische werden mit einem grösseren Interesse an Artikel 12 der internationalen Menschenrechte.
PS: Katzen haben nur Angst vor Salatgurken, wegen dem Überraschungseffekt, nicht aus evolutionären Gründen. Zudem gibt es auch Katzen, die den Gurken die kalte Schulter zeigen. Nur werden solche Videos natürlich nicht veröffentlicht, da diese nicht so viele «Likes» generieren.