Ganz ohne Geld leben

Geld ist omnipräsent. Kaum ein Tag vergeht, an dem wir kein Geld verdienen oder ausgeben. Geld bestimmt unser Leben. Die meiste Zeit sind wir daran, Geld zu verdienen!

Wir brauchen Geld, um unsere Miete zu begleichen, die Rechnungen zu bezahlen, Lebensmittel einzukaufen, Kleider, ein neues Auto, Möbel, um einen Kaffee zu trinken und um Ferien zu machen. Geld ist so zentral in unserem Leben, dass wir schon gar nicht auf die Idee kommen, ohne Geld zu leben. Aber trotzdem möchte ich die Frage stellen: Geht es auch ganz ohne?

Die Antwort ist „Ja“. Ein paar Pioniere haben das scheinbar Unmögliche gewagt, nämlich, völlig auf Geld zu verzichten. Einige lebten eine gewisse Zeit ohne Geld, andere für immer. Ihre Gründe des Geldverzichts waren individuell; die Umsetzungen des grossen Vorhabens ebenso. Die Einsichten, die sie hatten, sind erstaunlich und zeigen die wunden Punkte unseres Gesellschaftssystems auf.

Heidemarie Schwermers Motto war: «Aus dem Herzen leben.» Die 1942 Geborene beschloss im Alter von 54 Jahren völlig ohne Geld zu leben. Die Lehrerin und Psychotherapeutin hatte schon als Kind den Wunsch, einmal geldfrei zu leben. Nachdem sie einen Tauschring gegründet hatte und verschiedene Personen ihr anboten, sie könne ihre Wohnungen während Ferienabwesenheiten hüten, verschenkte sie all ihre Habseligkeiten und kündigte ihre Wohnung. Von da an lebte sie bei anderen Personen, denen sie als Gegenleistung Beratungen anbot oder andere Dienste erbrachte. Lebensmittel und Kleider wurden ihr geschenkt oder sie erhielt sie durch Tausch mit Dienstleistungen.

Heidemarie Schwermer, die letztes Jahr verstorben ist, lebte vor ihrem geldfreien Leben nie in Mangel, war aber trotzdem irgendwo tief im Inneren unzufrieden mit unserem Lebenssystem. «Wir sind ein Sklavenheer», sagte sie in einem Interview mit TV Heinrichplatz. «Menschen richten sich danach, was sie verdienen. Sie fragen sich gar nicht, mache ich dies gerne. Das ist bei mir ein wichtiger Punkt. Mache ich das, was ich mache, wirklich gerne? Da geht’s immer lang. Da bin ich in der Freude und dann kann ich auch viel weitergeben.» Das schwierigste für sie war, Vertrauen zu haben; zu vertrauen, dass es jeden neuen Tag eine Lösung gibt, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen. Je mehr sie dem Schicksal vertraute, je eher wurden ihre Wünsche erfüllt. Ihre Vision war eine Zukunft ohne Geld, in der alles viel einfacher wäre. Anstelle der Konkurrenz und des Wettbewerbs sah sie das Miteinander und das gegenseitige Unterstützen, anstatt Schnelligkeit und Oberflächligkeit die Intensität des Augenblickes und die Hingabe an ihn, anstatt Kritik am anderen, Selbstwert und Zuspruch dem anderen.

Heidemarie Schwermer erhielt neben viel Bewunderung auch viel Kritik. Eine war, dass sie nur geldlos leben könne, weil ihre Kinder schon gross waren, als sie dem Geld den Rücken kehrte. Ohne Geld zu leben geht aber auch mit Kindern. Der 1983 geborene Raphael Fellmer beschloss nach einer geldfreien Reise mit seinen Kollegen von Holland nach Mexiko, geldfrei zu leben. «Ich kam zum Schluss, dass ich weiterhin nach der Rückkehr nach Europa geldfrei leben möchte, um mehr Bewusstsein zu schaffen für die Thematik des Überflusses und der Verschwendung, mit der wir alle zu tun haben.»

So setzte er nach seiner Rückkehr nach Berlin sein Vorhaben zusammen mit seiner Frau und später zwei Kindern konkret um. 5 ½ Jahre lang lebte er ohne Geld. Er ernährte die ganze Familie, indem er anfänglich nächtlich aus den Abfalltonnen in den Hinterhöfen der Lebensmittelläden in Berlin weggeworfene Lebensmittel illegal herausfischte (Mülltauchen). Später kam er ins Gespräch mit den Lebensmittelläden und erhielt das Weggeworfene legal. Er konnte in einer Wohnung eines Friedenszentrums umsonst leben, indem er im Haus, Garten und Büro der Institution mithalf. Wenn er etwas Materielles brauchte, wie zum Beispiel einen Kinderanhänger fürs Velo, diskutierte er mit dem Anbieter, um einen Tauschhandel zu machen. Raphael Fellmer stellt sich eine Zukunft ohne Geld vor, die über eine Tauschgesellschaft hinweggeht. Er denkt, dass wir uns vom «Ich tu dir was Gutes und du mir» befreien können und sagen, „ich trage bei zum Wohle von allen und dafür werde ich auch von diesen unterstützt“. «Mein Traum ist,» sagt er in einer SWR-Fernsehreportage, «dass wir in Frieden hier auf der Welt leben, alle zusammen.»

Um eine vertiefte und intellektuelle Kritik an unserem ganzen Lebenssystem geht es dem irischen Aktivisten, Autoren und Ökonomen Mark Boyle, dem «The Moneyless Man». Er lebte von 2008 bis 2011 ohne Geld. Er wohnte in einem Wohnwagen auf einem Bauernhof, bestellte dort ein Stück Land, wusch sich im Bach und konstruierte ein Plumpsklo. Die Kochstelle hatte er draussen. Manchmal tauschte er mit anderen. Er ging weite Strecken zu Fuss, manchmal fuhr er auch mit dem Velo.

Mark Boyle meinte in einem Interview mit arte: «Es ist für mich als Mensch sehr wichtig, Wind, Schnee, Kälte und Sonne zu erfahren.» Damit spricht er eine der drei wichtigen Grundideen an, die er über Geld hat, nämlich, dass Geld dazu führe, dass wir uns von der Natur getrennt fühlen. So kaufen wir Dinge ein, die irgendwo produziert wurden und zu welchen wir keine persönliche Beziehung haben. Wir wissen nicht, mit wieviel Aufwand, Energie und von wem sie produziert wurden. So werfen wir sie auch schnell weg. Würden wir das Essen und unsere Möbel selber produzieren, würden wir viel sorgsamer damit umgehen, so Boyle. Würden wir das Wasser trinken, dass uns ein Bach oder See zur Verfügung stellt, würden wir es nicht durch unsere Exkrete verschmutzen. Umweltverschmutzung ist gemäss Mark Boyle das Symptom der Entfremdung von der Produktion. Nur wenn wir uns wieder mit der Natur verbinden, können wir das der Umweltverschmutzung zugrunde liegende Problem angehen.

Geld gebe uns das Gefühl von Sicherheit, so die zweite Grundidee von Mark Boyle. “In den letzten 13’000 Jahren fand eine kontinuierliche Erosion des Gemeinschaftslebens statt. Die Menschheit suchte nach Unabhängigkeit. Aber Unabhängigkeit ist ein Mythos, denn wir sind abhängig von der Erde und von unseren Mitmenschen», erklärt er im TedTalk in O’Porto. Im Leben ohne Geld war Mark Boyle auf die Mitmenschen angewiesen und schätze sie mehr denn je. Die Kontakte wurden enger und verbindlicher.

Und provokativ formuliert er seine dritte Grundidee: «Prostitution ist betreffend Sex das, was Kaufen und Verkaufen betreffend Geben und Nehmen ist.” Denn das Kaufen und Verkaufen hat etwas mit der schnellen und unverbindlichen Befriedigung der Bedürfnisse zu tun, so wie die Prostitution. Geben und Nehmen dagegen ist etwas Intimes, etwas Respektvolles, etwas das die Leute miteinander verbindet.

Mark Boyle stellt sich ähnlich wie Raphael Fellmer eine Welt vor, in der das verschenkt wird, was eine andere Person braucht, so wie dies in Familien geschieht, wo Dienstleistungen und Materielles nicht monetisiert werden. Er nennt sein Modell Freeconomy. 2015 hat er «An Teach Saor» gegründet, ein Zentrum wo er mit anderen Leuten zusammen lebt und Freeconomy praktiziert. Jeden Morgen, wenn er aufsteht, fragt er sich, wie viel kann ich heute geben und wie viele Leute kann ich heute zum Lächeln bringen.

Die Beispiele der drei Pioniere Schwermer, Fellmer und Boyle zeigen, dass ein Leben ohne Geld dazu führt, sich tief mit unserem Gesellschaftssystem auseinander zu setzen, sondern auch dazu, mehr Freude am Leben zu haben. Das scheint schon sehr paradox. Unsere ganze westliche Lebenseinstellung zielt dahin, genügend oder gar viel Geld zu verdienen, um glücklich zu sein. Aber sind wir alle, die Geld benützen, denn glücklich?

Die Pioniere des Geldverzichts werfen für mich noch viele weitere Fragen auf: Wie viel Zeit verbringe ich, um Geld zu verdienen? Brauche ich denn dieses Geld wirklich? Was brauche ich, um zu leben? Könnte ich auch eine andere Lebensform wählen? Wie sieht meine Beziehung zur Erde aus? Wie sieht meine Beziehung zu den Mitmenschen aus? Kann ich einfach geben, ohne etwas zurück zu erwarten? Kann ich einfach vom Überfluss leben, den diese Gesellschaft erzeugt?

Die Pioniere der Geldverweigerung zeigen uns aber auch auf, dass es möglich ist, seine Träume zu verwirklichen. Mark Boyle schliesst seinen TedTalk mit den wunderschönen Sätzen: «Sei du selbst die Veränderung in der Welt, die du sehen möchtest. Lass zwischen Kopf, Herz und Händen keinen Widerspruch aufkommen. Die Welt braucht Taten nicht Worte. Bis die Soldaten des Friedens so stark sind wie die Soldaten des Krieges, gibt es keine Veränderung in dieser Welt.»

Bücher:

Wunderwelt ohne Geld: Erzählungen aus seinem Leben. Heidemarie Schwermer

Glücklich ohne Geld! Wie ich ohne einen Cent besser und ökologischer lebe. Raphael Fellmer

The Moneyless Man, Mark Boyle

The Moneyless Manifesto, Mark Boyle

Youtube:

https://www.youtube.com/watch?v=Pj2MnTVrXQI

Links:

https://ohnegeld.net/ 

https://sites.google.com/site/livingwithoutmoney/Home

www.justfortheloveofit.org

 

Film:

Living without money