Hochwasserschutz im Seeland – in 3 Akten

Die prekären Wasserstände im Seeland nach den langen Unwettern des Sommers 2021 lösen beim Beobachter ambivalente Gefühle aus. Bewunderung für die Errungenschaften der grossen Gewässerkorrektionen und Wissensdurst über Ingenieurskunst und politische Vernunft der Vorfahren. Aber auch Sorge um die künftigen Herausforderungen als Folge des Klimawandels. Eine Betrachtung in drei Akten, von der Gegenwart in die Vergangenheit und dann in die Zukunft.

2021

Im Sommer 2021 waren unsere Seen randvoll. Zum Bersten voll. Es hat nur wenig gefehlt und die gewaltigen Wassermassen hätten das Land überflutet und verheerende Schäden angerichtet. Gerade noch rechtzeitig haben die wochenlangen Starkregen nachgelassen. Wir hatten Glück, das Land blieb verschont.

Mais c’était tout juste. In Yverdon-les- Bains musste der Campingplatz geräumt werden. Und auf dem Bieler Strandboden drangen die Wasser in die Keller des Gymnasiums ein und beschädigten die Heizung.

In jenen bangen Wochen fuhr ich im Intercity den Seen entlang von Biel nach Yverdon und zurück. Mit Sorge betrachtete ich die überspülten Ufer. Ich wusste, dass unsere Seen miteinander verbunden sind durch ein ausgeklügeltes Kanalsystem, das den Behörden erlaubt, die Pegelstände zu regulieren und auszugleichen, damit die Schäden minim gehalten und gleichmässig verteilt werden können. Das ist das Werk der grossen Juragewässerkorrektion, begonnen im vorletzten Jahrhundert. Ingenieurskunst und politische Vernunft haben seither dazu beigetragen, dass der Hochwasserschutz ständig verbessert und weiter ausgebaut werden konnte. Ob das bewährte Regelwerk auch in Zukunft ausreichen wird um die Fluten zu bändigen und Katastrophen abzuwehren?

So erlebte ich die kritischen Tage im Seeland mit gemischten Gefühlen. Respekt und Bewunderung für das Werk der Vorfahren und gleichzeitig die Sorge um die wachsenden Herausforderungen für die nachfolgenden Generationen. Das Bieler Gymnasium wäre ein passender Ort, dachte ich, um das Wissen über den Hochwasserschutz weiter zu geben. Hier könnte am konkreten Beispiel gelernt werden, was uns bedroht und wie wir uns schützen können.  Die Lehren aus der Geschichte, verbunden mit dem aktuellen Wissen über den Klimawandel und die politischen Krisen der Neuzeit, das alles müsste zum Schulstoff gemacht werden.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich als Lehrer den Enkelkindern die Geschichte vom Hochwasserschutz am Bielersee erzählen würde und ich merkte, wie wenig ich davon verstehe. Ich wollte mehr darüber wissen. Meine Recherche führte mich ins Schlossmuseum von Nidau. Dort gibt es eine Dauerausstellung über die Juragewässerkorrektionen. Faszinierend, was da zusammengetragen wurde an Dokumenten und Bildmaterial, von den Notzeiten der wiederholten Überschwemmungen über die langen Jahre der politischen Auseinandersetzung, von Projektierung und Umsetzung, bis in die Gegenwart. Eine wahre Fundgrube!

Stoff für die Schule von morgen. Aus diesem Stoff könnte man Lektionen schöpfen. Lektionen und Exkursionen, für die Enkelkinder.

Drei Lektionen kamen mir in den Sinn auf dem Weg nach Hause. Ich ging vom Schloss durch das brachliegende Expogelände und über die Brücke zur Débarcadère. Auf dem Strandboden vor dem Gymnasium setzte ich mich auf eine Bank, den Blick zur Petersinsel.

Lektion Eins: Doktor Schneider, der “Retter des Seelands”, 1804-1880. Leben und Werk, vom armen Bauernbub aus Meienried zum Arzt und Politiker. Der lange Weg voller Hindernisse, Rückschläge und immer neuer Anläufe, ein Kampf über Jahrzehnte. Die Exkursion würde uns zu Schneiders Geburtshaus führen, ins Naturschutzgebiet der Alten Aare, wo der Hochwasserstand vom Jahr 1847 in der Hausmauer eingezeichnet ist. Anschauungsunterricht erster Güte.

Lektion Zwei: der abgesenkte Bielersee, oder wie die Juragewässer reguliert werden. Wie rund ein Viertel der Fläche der Schweiz in den Bielersee entwässert wird und wie am Regulierwerk in Port die Höhe der Seespiegel verändert werden kann, mit Rückwirkung für den Neuenburgersee und auch für den Murtensee.

Lektion Drei: das Abkommen von Murgenthal. Murgenthal? Nie gehört? Das ist der Ort an der Kantonsgrenze zwischen Solothurn und Aargau, wo das Wasservolumen der Aare gemessen wird. In Murgenthal darf ein Grenzwert nicht überflutet werden, damit das Unterland nicht überschwemmt wird. So einfach ist das. Murgenthal ist der Name für einen erfolgreichen politischen Kompromiss. Ein Abkommen zwischen den betroffenen Kantonen, von Bern bis in den Aargau, dass beim Wehr in Port nur so viel Wasser abgelassen werden darf, dass drunten in der Stadt Aarau die Keller trocken bleiben. Und es funktioniert! In Murgenthal wird gemessen (das heisst inklusive die Wasser der Emme, die ja nach Solothurn auch noch dazukommen) und in Port wird reguliert. Und wenn nötig werden die Seespiegel der Juragewässer angehoben und die Flutschäden werden gerecht verteilt. Die Messwerte von Murgenthal werden nach Port gemeldet. Zusammen mit den immer exakter werdenden Prognosen der Meteo über die zu erwartenden Regenmengen bilden sie die Faktenbasis für den Kompromiss. Die Fakten sprechen für sich, es braucht keinen Schiedsspruch einer übergeordneten Instanz. Zur Vertiefung des während der Exkursion  gewonnenen Wissens würde den Studierenden der Text von Jeremy Trottmann abgegeben, «Echte Kompromisse führen zu echten Lösungen. Der politische Entscheidungsprozess der ersten Juragewässerkorrektion.»

1837

Gotthelf musst du lesen! Das sagte mir mein Freund Tobias, der Historiker. Wenn du wissen willst, wie es früher war, für die armen Leute, vor dem Siegeszug der Technik, dann musst du Gotthelf lesen. “Die Wassernot im Emmental”.

Ich fand den Text im Internet, den ganzen Text von damals.

Jeremias Gotthelf, Die Wassernot im Emmental
am 13.August 1837
Erzählung (Geschrieben ab 1838, Erstdruck 1852)

Eine faszinierende Lektüre. Der Pfarrer von Lützelflüh erzählt mit unbändiger sprachlicher Wucht und mit tiefem Mitgefühl vom Katastrophenjahr 1837, als die Unwetter entlang der Emme und in den Seitentälern verheerende Schäden angerichtet hatten. Es fällt auf, dass die Ereignisse erst mit grossem zeitlichen Abstand schriftlich festgehalten und mit noch grösserer Verzögerung erst 15 Jahre später publiziert wurden.

Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius), der Pfarrer von Lützelflüh, und Johann Rudolf Schneider, Arzt und Politiker in Nidau, waren Zeitgenossen. Im von Gotthelf beschriebenen Katastrophenjahr 1837 wurde Schneider in den Regierungsrat des Kantons Bern gewählt. Das von Schneider gegründete Nidauer Initiativkomitee für den Hochwasserschutz im Seeland war schon seit 1832 aktiv. Zur gleichen Zeit, als Schneider mit seinen politischen Verbündeten für die technische Bewältigung der Naturgefahren kämpfte, beschwor der Dichter-Pfarrer seine Kirchgemeinde und Leserschaft, in den schrecklichen Gewalten der Unwetter die «Majestät des Schöpfers « zu erkennen.

«Das Jahr 1837 wird vielen Menschen unvergesslich bleiben, die nicht ihren Träumen oder ihren Sünden allein leben, die einen offenen Sinn haben für die Stimme Gottes, welche zu uns redet in Schnee und Sonne, bei heiterem Himmel und im Dunkel der Gewitternacht.

Es war ein merkwürdiges Jahr, aber ein banges, angstvolles für Tausende; wohl ihnen, wenn diese Angst jetzt ihre Frucht trägt, ein gläubiges Vertrauen!»

Mit diesen Worten beginnt Gotthelf seinen Bericht. Gläubiges Vertrauen! Man kann sich fragen, wie das Gespräch und die Verständigung zwischen den beiden Männern wohl verlaufen wäre und ob sie sich zu einem Bündnis der Tat hätten zusammenfinden können, da beiden doch das Wohl der Armen ein Herzensanliegen war.

2035

Zum Saisonende 2021 lädt die Bieler Schifffahrtsgesellschaft auf eine 3-Seen-Fahrt mit Sonntagsbrunch und Referat. Werner Könitzer, der Präsident des Schlossmuseums Nidau und frühere Statthalter berichtet über das Jahrhundertwerk der Juragewässerkorrektion. Während wir durch die Nebellandschaft gleiten spricht Könitzer über die Absenkung des Seespiegels und über die Regulierung der Pegelstände im Wehr von Port. Er gibt Einblicke in die Langwierigkeiten der politischen Prozesse und erzählt die Erfolgsgeschichte der Konsenssuche, die zum Murgenthaler Abkommen geführt hat. Das Schiff passiert den Zihlkanal, erreicht den Neuenburgersee und dreht ostwärts zum Broyekanal. Vor der Ankunft in Murten ist noch Zeit für Fragen. Ob das Regelwerk auch in Zukunft genügen würde?  Der Redner gibt sich zuversichtlich, doch er mahnt, es brauche mehr Respekt und Demut vor der Natur. Und er schliesst mit dem Satz «wir müssen den Flüssen wieder Breite geben».

Auf der Rückfahrt döse ich ein. Im Traum befinden wir uns auf der Strandbodenwiese vor dem Bieler Gymnasium. Es ist das Jahr 2035. Eine Schulklasse sitzt im Kreis, spricht mit einem Lehrer. Ich trete näher und erkenne meinen Enkel Tonino, er ist der Lehrer, ein Mann von 25 Jahren. Ich höre, wie er einer Schülerin antwortet. Sicher, sagt Tonino, wir haben alle technischen Voraussetzungen für den Hochwasserschutz. Das «Early Warning System» liefert alle nötigen Informationen in Rekordzeit. Das genügt nicht, wirft ein Junge ein, wir brauchen Early Action! Genau, fällt ein anderer ein, und da steckt doch das Problem, wir sind zu langsam. Weil wir nicht konsensfähig sind, ruft eine Mädchenstimme.

Das Schiffshorn weckt mich. Wir sind im Hafen von Biel.

Gerhard Pfister, 75, pensionierter Soziologe und Mediator. Entdeckt das Seeland als Wanderer und Poet. Folgt den Flussläufen und ihrer Geschichte. Dabei entstehen kurze Prosatexte. Seine Bücher „Bieler Miniaturen“ (2019) und „Balladen am Fluss“ (2021) sind im Kulturbuchverlag herausgeber.ch erschienen.

Bücher und Artikel
zum Thema
  • Mathias Nast, „überflutet – überlebt –  überlistet. Die Geschichte der Juragewässerkorrektionen.“
    Verein Schlossmuseum Nidau, 2006
  • Jeremy Trottmann, „Echte Kompromisse führen zu echten Lösungen. Der politische Entscheidungsprozess zur ersten Juragewässerkorrektion.“
    Verein Schlossmuseum Nidau, 2017
  • Stephan Künzi, „Wie das Wasser möglichst gerecht verteilt wird.“
    Berner Zeitung, 05.10.2019

 

Schlossmuseum Nidau

Die Dauerausstellung zur Juragewässerkorrektion ist von Montag bis Freitag von 8 – 16 Uhr geöffnet und am Samstag und Sonntag von 10 – 16 Uhr. Eintritt kostenlos. Führungen gibt es auf Anfrage.