„Ich bringe auf jeden Fall Leben ins Haus“

Der ORT hinter dem Neumarkt-Migros wird noch von sich Reden machen. Denn Christine Walser, die ihn soeben initiiert hat, will hier viele Leute zusammenbringen, Themen lancieren, Projekte vernetzen. Sie selbst sieht sich als fleissige Biene und Vernetzerin. Vision 2035 hat sie zum Gespräch getroffen. 

Guten Morgen. Es ist kurz nach 8 Uhr. In deinem bisherigen Berufsleben in der Schule würde jetzt der Unterricht beginnen. Was ist das für ein Gefühl, stattdessen hier in den Räumen deines eigenen Projekts zu sein?  

Es fühlt sich gut an und vor allem ganz frei. Ich kann mir den Tag selbst einteilen. Normalerweise bin ich erst so ab 9 Uhr hier, nehme es gemütlich am Morgen und arbeite dafür am Abend länger. Es gibt aber auch Ähnlichkeiten mit dem Job als Lehrperson im Zyklus eins. Auch hier gestalte ich und Menschen kommen. Sobald ich im Parterre bin und man mich durchs Schaufenster sieht, geht es los. Gestern zum Beispiel: zuerst eine Arbeitskollegin mit ihrem Sohn, dann ein Mann, der anbot, mir als Elektriker zu helfen. Mit zweien von der Äss-Bar hatte ich eine Besprechung abgemacht. Später trat eine pensionierte Frau ein und schüttet mir ihr Herz aus. Es folgten Christoph Walther, der den gesegelten Kaffe vorbeibrachte, und schliesslich eine Frau, die mir zeigen wollte, was sie aus Restposten und Abfällen von Blumenläden kreiert. So geht das hier und ich höre ganz viel zu. Das tu ich sehr gerne. Es ist ein Querschnitt von Biel, der hier vorbeikommt. Genau so hatte ich mir das vorgestellt. 

Was ist das nun hier eigentlich, der ORT? 

Ich nenne es Vernetzungs- und Verbindungsort. Ein Ort, an dem ich ganz unterschiedliche Menschen zusammen bringen will. Biel ist extrem bunt, aber viele Leute bewegen sich in ihren Blasen. Diese Blasen „wot ig ga güfele“. Denn ich bin der Überzeugung, dass die Gesellschaft nur widerstandsfähig ist, wenn sie in ihrer Diversität wahrgenommen wird und aus dieser heraus auch agiert. Es braucht ganz viele Verschiedene, wie in der Natur. Jeder Mensch hat etwas sehr Wertvolles in sich und kann etwas beitragen zum Ganzen. Hier sollen sie zusammen an einem Tisch reden und dann zusammen in Handlung kommen. So entsteht Gemeinschaft. 

Also reden einerseits und machen andererseits…

Ja. Alles, was wir Menschen erschaffen haben, war zuerst in einem Kopf. Dort beginnt es also, von dort muss es raus. Dafür beabsichtige ich, den FantasTISCH zu lancieren, eine Art Forum, um Bedürfnisse und Ideen zur Sprachen zu bringen und gemeinsam Lösungen dafür zu suchen. Es gibt viele brennende Themen wie lokale Währung, Gestaltung des öffentlichen Raums, Mobilität, Freiräume für Kinder und Erwachsene, oder Umgang mit Konflikten. Ich will je nach Thema auch gezielt Experten einladen, Vertreterinnen aus der Politik, Repräsentanten der Transitionbewegung, ebenso wie Leute hier vom ORT, die mit dem Thema in Berührung sind. Sie alle sollen miteinander fantasieren, reden, diskutieren. Gerade Ersteres ist wichtig; aber wir haben sie verloren, die Imagination. „Wie wärs wenns schon wär?“ Da können wir viel von den Kindern lernen, die in ihrer Fantasiewelt Stundenlang Geschichten erfinden können, und dann ists wie es ist. 

Schwingt da eine Dringlichkeit in Bezug auf Lösungen für eine bessere und nachhaltigere Welt mit? 

Durchaus. Jetzt muss einfach etwas gehen. Deshalb ist mir auch die Handlung wichtig. Ich glaube nicht, dass wir noch lange Zeit haben. Aber auch wenn manchmal beim Lesen all der alarmierenden Berichte Panik aufkommen will, so bleibe ich doch Optimistin und gebe einfach alles, was ich habe. Hier und jetzt. Wenn man etwas will, gibt es einen Weg.

Dein ORT zeigt das ganz gut. Wie kam es eigentlich dazu? 

Ich war schon lange auf der Suche, habe viele Sachen gemacht, Neues probiert, und fühlte mich doch in meinem Berufsleben nie ganz ausgefüllt. Vor zweieinhalb Jahren dann kam ich durch einen Workshop zum Thema alternative Wohnformen mit Martin Albisetti in Kontakt und erfuhr von seiner Schule für Gestaltung re:format, wo die zentrale Frage lautet „Lebst du dein Talent?“. Das hat mich interessiert. Irgendeinmal hab ich mir gesagt: jetzt gehst du hin, und dann bin ich sofort in den Lehrgang eingestiegen und alle zwei Wochen zu ihm gegangen. Er hat immer die passenden Fragen gestellt. Bald hatte ich einen solchen Ort im Zentrum der Stadt im Kopf. Aber ich sträubte mich dagegen, hatte Angst und Zweifel, den grossen Schritt zu wagen. Dann, an einem Abend im letzten Herbst wurde mir plötzlich klar, dass ich wirklich einen Strich ziehen muss, um mir den Rückweg abzuschneiden. Ich hatte mich schon für eine halbjährige Weiterbildung angemeldet und im Kindergarten rechnete für das nächste Semester sowieso niemand mit mir. Da entschied ich, kurzerhand meinen Job zu künden und die Weiterbildungskurse abzusagen. Natürlich hatte ich mit meiner Familie gesprochen, sie waren alle bereit, den Gürtel fortan etwas enger zu schnallen, schliesslich würde fast die Hälfte des Familien-Einkommens wegfallen. Was auch grad unseren Konsum vermindern würde, als positiver Nebeneffekt. Mein Mann war zudem bereit, bei seiner Arbeit wieder auf 100-Prozent aufzustocken.

Und dann also volle Fahrt voraus…

Ja, jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit den Zweifeln war es dennoch nicht vorbei. Zum Beispiel als ich den Mietvertrag für das gefundene Lokal unterschreiben sollte. Da dachte ich: das kannst du nicht machen. Die Vermieter kamen mir zwar sehr entgegen. Dennoch: ich investiere hier all mein Erspartes und bin, wenn es nicht läuft, nach einem Jahr privat Konkurs. Wieder war es in dieser Situation Martin Albisetti, der die richtigen Fragen stellte, die mich zu mir und zum Vertrauen in meine Intuition führten. Ich habe den Schritt gewagt und unterschrieben. Und meine Vermieter haben auch Mut bewiesen, mein Konzept ist nicht 0815. Aber ich bringe ihnen auf jeden Fall Leben ins Haus, damit konnte ich sie überzeugen. 

Du machst quasi ein Bienenhaus daraus. Das jedenfalls drücken deine Konzeptzeichnungen aus. Warum Bienen? 

Ich habe Bienen sehr gerne, ebenso ihren Honig. Ausserdem funktioniere ich selbst, wie ich bei Martin entdeckt habe, wie eine Honigbiene. Ich liebe das Gewusel und bin ziemlich fleissig. Bienen denken ans Ganze, nicht jede für sich, auch wenn sie ganz spezifische Aufgaben haben. Sie kommunizieren ständig miteinander. Sie wissen ganz genau: eine Biene allein macht keinen Honig. Das entspricht mir und meiner Idee für diesen Ort: wenn die Leute hier gut zusammen arbeiten, dann fliesst der Honig bei allen. Ich wünsche mir ganz viele Leute, damit entstehen kann, wovon ich träume. Auch einen riesigen Bienenschwarm, von aussen unterstützenden Menschen (siehe Infobox).

Trotzdem hast du keinen Verein gegründet, sondern eine Einzelfirma. 

Ja, das war ein grosser Entscheid. Aus treuhänderischer Sicht war eigentlich klar, dass das Projekt als Verein aufgegleist werden sollte. Viele Argumente sprachen dafür. Trotzdem fühlte es sich für mich nicht stimmig an. Meine Intuition sagte mir: mach es selber, als Einzelfirma. Denn als Verein wäre das Unterfangen sofort träg geworden, das entspricht der Biene nicht. Die will losfliegen, wenn die Sonne scheint.  

Und was ist nun deine Rolle? Wer bist du jetzt, nach dem du bei Martin dein Talent entdeckt hast? 

Ich bin an sich die Gleiche wie vorher, aber lebe mein Potential zusehends besser aus. Ich bin eine Mentorin. Ich kann gut organisieren und einfädeln, Menschen zusammenbringen. Das, was ich jetzt grad mache. Aber ich bin nicht die Person, die die Sachen umsetzt. Sobald es ums tüfteln und weiterentwickeln einer Idee geht, braucht es andere, die sich in dieser Rolle wohl fühlen. Ich setze Schwellen runter, hole Leute ins Boot, stosse an. Agieren müssen sie dann selber.   

Aber du bist doch auch eine kreative Macherin. Kommt dieser Teil von dir nicht zu kurz? 

Keine Sorge. Ich hab ja hier alle Möglichkeiten. Ich packe handwerklich mit an und zeichne zum Beispiel alles selbst. 

Reden wir noch über Biel. Du bist zugezogen. Was waren deine ersten Eindrücke dieser Stadt?

Ich war schon bevor ich herzog oft in Biel. Mein Mann arbeitete hier, wir sind seit 14 Jahren ein Paar. Aber ich habe ihm immer gesagt: vergiss es, nach Biel komme ich nicht. Ich hatte ein Bild von dieser Stadt, wie es viele Schweizer haben. Wir haben dann verschiedene Zusammenlebensformen ausprobiert, pendeln, Einfamilienhausleben in einem Dorf bei Thun, wo ich herkomme, alles war unbefriedigend. Dann meinte er: komm ich zeig dir Biel mal richtig. Und plötzlich ging Alles ganz schnell. Wir fanden eine Wohnung, ich einen Job, es floss. Ich kam mit meinen Kindern, damals 8 und 10 Jahre alt, nach Biel und kaufte gleich als erstes für uns drei ein Bibliothekskärtli und ein Saisonabo fürs Strandband. In den Sommerferien entdeckten wir Biel, probierten alles aus, erweiterten Tag für Tag unser Terrain. Wir kannten niemanden. Dann ging die Schule los und es explodierte mit den sozialen Kontakten. Unsere Nachbarin gründete TerreVision mit. Wir stiegen gleich mit ein und schwupps habe ich sie im Vorstand vertreten. Ich habe sehr schnell viele Leute kennen gelernt. Dass all diese Kontakte nicht älter als 8 Jahre sind, kann ich manchmal kaum glauben. 

Und die Stadt, wie gefiel sie dir nun? 

Biel erinnert mich in Vielem an Brasilien, wo ich einst lebte. Man schreibt sich Ordnung und Fortschritt auf die Fahne, aber die Bevölkerung kommt immer wieder dazwischen. Das liebe ich, auch wenn es manchmal mühsam ist. In Brasilien habe ich die Improvisation geliebt, das können die BielerInnen auch, sie gehen kreativ mit Freiräumen um. Ich liebe diese Stadt! 

Du könntest auch einfach hier arbeiten, wohnen und in der Freizeit die Vorzüge von Biel geniessen, den Jura, den Wald, den See. Warum machst du das nicht? 

Das frage ich mich manchmal auch. Aber hast du schon mal eine Biene gesehen, die sünnelet? Ich bin rastlos, wie diese Insekten.  

Wie schaltest du ab, in diesen turbulenten Anfangszeiten deines neuen Lebens? 

Manchmal gehe ich morgens früh in den Wald. Laufen in der Natur tut mir gut. Auch brauche ich Weitblick, den geniesse ich zu Hause vom Balkon aus. Aber es stimmt schon: seit ich hier Mieterin bin, mache ich kaum mehr frei. Aber es fühlt sich gut an. Es ist Lebenszeit und ich mache es leidenschaftlich. Ich sehe, was ich gemacht habe, und ich tanke im Austausch mit den Leuten. 

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Foto: Jana Walser

Janosch Szabo, 35, ist Mitherausgeber der Vision 2035



Der ORT

Auf der Website vom ORT wird das Konzept in zwei Videos kompakt erklärt.
DER ORT an der Marktgasse 34 bietet ab sofort Platz für Arbeitsplätze, Sitzungen, Seminare usw. Interessierte melden sich bei Christine Walser unter: mail@der-ort.ch