Kein Frieden ohne Gerechtigkeit
Das schweizerische Bürgerrecht grenzt einen Viertel unserer Mitbewohner*innen aus. Das ist ein demokratischer Skandal, den die Demokratie-Initiative jetzt angeht. Ein friedliches Zusammenleben setzt eine angemessene demokratische Inklusion voraus.
Oft hören wir diesen Ruf: «Kein Frieden ohne Gerechtigkeit!», in Demos, in Diskussionen oder anderen aktivistischen Artikeln. Und tatsächlich: er fasst ein wichtiges Prinzip zusammen. Frieden ist viel mehr als die Abwesenheit von Krieg oder sichtbarer Gewalt. Frieden setzt ein gewisses Mass an sozialer und politischer Gerechtigkeit, an Freiheiten und sozialen und politischen Rechten voraus. Oft denken wir dabei an Menschen im Ausland, die unter verschiedenen Diskriminierungen und Ausgrenzungen leiden. Und wir solidarisieren uns entsprechend, organisieren Unterstützungskomitees, Demos und andere Aktionen, um Gerechtigkeit einzufordern. Gleichzeitig sind wir seit Jahrzehnten so durch die rechtsreaktionäre Hetze gegen die Ausländer:innen dominiert und eingeschüchtert – man denke an die Initiativen gegen die «Überfremdung» in den 1970er-Jahren, ausländerfeindliche Initiativen der SVP, zuletzt die neue Volksinitiative gegen die «10 Millionen Schweiz» –, dass wir die Ausgrenzung im eigenen Lande entweder stillschweigend hinnehmen oder gar nicht mehr erkennen.
Die kürzlich bekanntgewordenen Geschehnisse rund um das Bieler Migrationsamt – Ausländer:innen wurde seitens Stadtbeamten, die deren prekäre Situation ausnutzen wollten, gegen Geld oder Sex angeboten, die Erneuerung der Aufenthaltsbewilligung rascher abzuwickeln – sind nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs: Symptom eines ausgrenzenden, menschenverachtenden Systems, welches in Städten wie Biel ein Drittel unserer Mitmenschen zu Menschen zweiter Klasse degradiert und in absurde und unvorstellbare Nöte treibt, u.a. wenn sie während Monaten auf die Erneuerung ihrer Aufenthaltsbewilligung warten und deshalb Jobmöglichkeiten verlieren, bei Polizeikontrollen in Erklärungsnot geraten und allgemein prekär unter uns leben müssen, wie die lokale Presse mehrmals berichtete.
Mitmenschen, die zum grossen Teil seit Jahrzehnten unter uns leben, oder sogar seit Generationen, und deren Nachkommen dennoch mit dem Stempel des «Ausländer»-seins geboren werden. Menschen, denen man mit einem teuren und dem europaweit (nach Litauen) schwierigsten Einbürgerungsverfahren die Möglichkeit verwehrt, auf dem Papier «Schweizer:in» zu werden. Mitmenschen, die dadurch in eine prekäre Lage gedrückt werden, wo sie immer wieder um ihre soziale Lage und ihre Aufenthaltssicherheit bangen müssen. Menschen, die dadurch erpressbar und ausbeutbar gemacht werden. Menschen, die immer wieder zum Sündenbock für alle möglichen Probleme gemacht werden, sei es Wohnungsnot, steigende Krankenkassenprämien oder Arbeitslosigkeit (siehe z.B. die Broschüre, die zusammen mit der neuen Volksinitiative gegen die 10 Millionen Schweiz, allen Haushalten der Schweiz in den Briefkasten gelegt wurde).
Der zivilgesellschaftliche Verein «Aktion Vierviertel» hat im Mai letzten Jahres den Mut gehabt, den Kern dieses ausgrenzenden Systems anzufechten: unser völlig schikanöses Bürgerrecht. Dafür hat er die Demokratie-Initiative https://demokratie-volksinitiative.ch/ lanciert, damit alle Einwohner*innen der Schweiz als vollwertige Mitglieder anerkannt werden und die Chance erhalten, am politischen und gesellschaftlichen Leben vollwertig teilhaben zu dürfen.
Bisher sind etwa die Hälfte der Unterschriften gesammelt. Bis November 2024 ist Zeit, 100’000 gültige Unterschriften zusammen zu bekommen.
Wer sich für die Demokratie-Initiative engagieren möchte, melde sich beim Lokalkomitee Biel. Es braucht dringend Unterstützung.
Text:
Jorge Cancio, Mitglied des Initiativkomitees der Demokratie-Initiative
Foto:
Andreas Bachmann