Lebensstile verhandeln
Wer verlangt, die Regierungen sollten auf die Klimakrise mit der gleichen Entschlossenheit reagieren wie auf die Coronakrise, vergisst, dass die Staaten ohne eine Hygienebewegung, die Jahrhunderte zurückreicht, in diesem Bereich kaum Machtbefugnisse besässen. Die Klimabewegung muss für klimaverträgliche Lebensstile ähnlich konkret Ansprüche formulieren, um am Verhandlungstisch nicht übergangen zu werden.
Am 17. April 2020 steht eine Frau im roten T-Shirt und mit blau getönter Sonnenbrille in Huntington Beach, Kalifornien, vor einer Filiale der Eiscrème-Kette «Baskin-Robbins» und hält neben einer Amerikaflagge ein Schild in die Kamera: «Gebt mir Freiheit oder gebt mir den Tod». Zusammen mit zahlreichen teilweise rechtsextremen Trump-Fans protestiert die Frau gegen den rund einen Monat früher staatlich verordneten Lockdown. Lieber würde die Frau mit dem Schild an Covid-19 sterben, scheint sie zu sagen, als dass sie die Freiheit aufgäbe, wann immer es ihr passt, Eiscreme zu konsumieren. Welch kompromisslose Verteidigung eines Lebensstils!
1992 schickt der amerikanische Präsident George H. W. Bush seine Beamten nach Rio zur Vorbereitung des sogenannten «Erdgipfels». Auf der Traktandenliste stehen das erste internationale Klimaabkommen zur Reduktion des CO2-Ausstosses und ein Abkommen zum Schutz der Biodiversität. Einen Satz wiederholen die US-amerikanischen Diplomaten ein ums andere Mal: «Der amerikanische Lebensstil ist nicht verhandelbar!».
Zwei Krisen
Zwischen Coronakrise und Klimakrise gibt es viele Parallelen.
Da sind einmal die Ursachen: Hier ein unsichtbares Virus, dort ein unsichtbares Gas. Hier eine lebensähnliche molekulare Struktur, die sich ohne aufzufallen in Fledermäusen vermehrt und plötzlich, durch einen unglücklichen Zufall, menschliche Körper krank macht. Dort ein simples Molekül, seit Milliarden von Jahren Bestandteil der Erdatmosphäre, dessen Konzentration mit einem Mal bedrohlich ansteigt.
Da sind die Warner: Hier die Virologinnen, Epidemiologen und anderen Wissenschaftlerinnen, die uns empfehlen, den gewohnten Alltag herunterzufahren und stattdessen zuhause zu bleiben. Dort die Klimatologen, Biologinnen und anderen Wissenschaftler, die uns raten, die Produktionsweisen zu ändern und unseren Lebensstil zu überdenken.
Da sind jene, die sich weigern, den Ratschlägen zu folgen. Es gibt sie in Amerika, von wo alles etwas schriller herübertönt, es gibt sie genauso bei uns. Es sind jene, die nicht im Wald spazieren möchten, statt mit dem Auto auszufahren, die kein Vergnügen daran finden, selbst zu kochen, statt bei McDonalds einzukehren.
Ein gewichtiger Unterschied
Und da ist der Staat. Und spätestens hier enden alle Gemeinsamkeiten. Während die Regierungen keine Mühe zeigen, einen Lockdown durchzusetzen und die Ausbreitung von Covid-19 mit drastischen Massnahmen zu stoppen, hat der Nationalrat ein wenig ambitioniertes CO2-Gesetz verabschiedet, und die Berner Kantonsregierung kommt am 20. Mai dieses Jahres in einer Stellungnahme zum Schluss, der Klimaschutz solle besser doch nicht in der Kantonsverfassung verankert werden (angeregt hatte den Vorschlag der grüne Grossrat Bruno Vanoni, der Entscheid des Parlaments ist noch ausstehend). Die streikende Klimajugend fordert angesichts der zaudernden Politik zu Recht, wir müssten – wie bei der Coronakrise – mehr «auf die Wissenschaft hören».
Doch geht dabei ein Punkt vergessen. Der ehemalige Corona-Beauftragte Daniel Koch ruft ihn uns in einem Interview in Erinnerung, das der «Blick» am 15. April 2020 mit ihm führt und in dem er den Bundesrat gegen den Vorwurf verteidigt, zu zögerlich vorzugehen: «Die Anzahl Erkrankter ist nicht das einzige Kriterium, das wir bei unseren Entscheiden berücksichtigen müssen. Wir müssen uns auch überlegen, welche Massnahmen die Bevölkerung akzeptieren wird». Am nächsten Tag beschliesst die Regierung dann den Lockdown. Sie fühlt sich stark genug, mit ausreichender Legitimität und Autorität versehen. Man wird ihr folgen. Tatsächlich sind wir beim Klima nicht an diesem Punkt. Der französische Philosoph Bruno Latour sagt es in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin L’Obs so: «Damit der Staat ökologisch wird, muss er spüren, dass die Zivilgesellschaft es will».
Von der Hygiene lernen
Mittel und Autorität gegen Epidemien vorzugehen, haben sich die Regierungen während rund zweihundert Jahren Schritt für Schritt erworben. «Hygiene», so der Schlüsselbegriff, erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Der Badische Arzt Johann Peter Frank schreibt in seinem 1779 bis 1819 erschienenen Grundlagenwerk zur wissenschaftlichen Hygiene, dem «System einer vollständigen medicinischen Polizey» über Reproduktion, Kindererziehung, Ernährung, Kleidung, Wohnen, Reinlichkeit und verschiedene Todesarten ebenso, wie über Begräbnisformen, Heilkunst, Anatomie und Bevölkerungskontrolle.
Tatsächlich haben sich die Lebensweisen breiter Bevölkerungsschichten mit der Industrialisierung drastisch verändert. In den wachsenden Städten leben Menschen – insbesondere der Arbeiterschicht – immer dichter beieinander und es brechen neue Epidemien wie Cholera und Typhus aus. Louis Pasteur beweist 1878 die Existenz von Mikroben, Robert Koch entdeckt den Tuberkelbazillus und etwas später den Erreger der Cholera, der Schweizer Alexandre Yersin beschreibt 1894 in Hongkong den Erreger der Pest.
Eine richtige Hygienebewegung entsteht mit eigenen Lehrstühlen, gemeinnützigen Vereinigungen und Kommissionen. Man interessiert sich für Lichtmangel, schlechte Durchlüftung und undichte Kanalisationen. Der Fabrikarbeiterschutz, die Meldepflicht für epidemische Krankheiten oder Baunormen werden in Gesetze gegossen. Häusliches Leben, Körperpflege und Städtebau wandeln sich grundlegend. «Hygiene» wird vom Konzept zum Lebensstil (ein Lebensstil, über den wir heute freilich billig lächeln).
Auch die zunehmenden Klimastörungen machen einen tiefgreifenden Wandel unseres Lebensstils nötig. Während wir in der Schweiz pro Person rund 5,5 Tonnen CO2-Äquivalente ausstossen und durch unseren Konsum in anderen Ländern weitere 8,5 Tonnen verantworten, liegt das planetenverträgliche Mass rund vierzehn Mal tiefer bei ungefähr einer Tonne CO2. Folgerichtig möchte die Gletscherinitiative fossile Energieträger bis 2050 vollständig verbieten. Demgegenüber skandieren die Klima-streikenden «Ufe mit em Klimaziel» und fordern die Klimaneutralität bis 2030. Doch selbst wenn es gelänge, sich auf eines dieser Ziele zu einigen, die wirkliche Arbeit – nämlich «abe mit em CO2» – steht noch bevor. Es wird nicht genügen, einfach weniger Auto zu fahren und seltener zu fliegen – es braucht eine andere Mobilität. Es wird nicht ausreichen, weniger zu heizen – wir müssen lernen anders zu wohnen. Es ist nicht damit getan, weniger Fleisch zu essen – wir brauchen eine andere Lebensmittelproduktion. Anders als in den Hygienekrisen müssen wir einen klimaverträglichen Lebensstil immer noch Wort für Wort mühsam hervorbuchstabieren, mit Inhalt füllen. Wir kennen das Ziel, nicht jedoch den Weg.
Konkrete Ansprüche markieren
Die Velospuren, die während des Lockdowns in zahlreichen Städten Europas auf Kosten des Autoverkehrs eingerichtet wurden, könnten uns helfen, Wege zu finden. Denn sie markieren nicht ein Ziel, sondern Ansprüche. In der Schweiz gab es mit Ausnahme Genfs keine solchen «offiziellen» Initiativen. Doch am 14. Mai dieses Jahres verwandeln in der Gessnerallee beim Zürcher Hauptbahnhof Aktivistinnen und Aktivisten, bewaffnet mit Schablonen, etwas Sprayfarbe und ein paar Verkehrskegeln, eine Autospur in einen «Pop-up-Veloweg», wie das Onlinemagazin «Tsüri» berichtet. Es regnet, nach einer halben Stunde ist der Spuk vorbei, das mediale Echo bleibt bescheiden. Dennoch passierte hier etwas Interessantes.
Um klimaverträglich zu leben, brauchen Menschen Velos. Velos brauchen Raum. Menschen mit klimabelastenden Lebensstilen fahren Auto. Autos brauchen Raum. Zwei territoriale Ansprüche prallen aufeinander. Statt Lebensstile als «unverhandelbar» zu deklarieren, statt «Kompromisslosigkeit» zu proklamieren, sollten wir beginnen zu verhandeln. Nicht mit dem Wunsch, den Anderen auszulöschen. Sondern mit dem Ziel, freundlich und bestimmt den Spielraum zu vergrös-sern, in dem klimaverträgliche Lebensstile sich entfalten können. Aufs Wohnen übertragen könnte dies bedeuten, den Anspruch auf klimaneutralen und gleichzeitig erschwinglichen Wohnraum einzufordern. Beim Essen könnte es darum gehen, küchennahe Produktionsorte vor dem Zubetonieren zu schützen. Das Deklarieren und Markieren von Ansprüchen ist der erste Schritt, um in offene und öffentliche Verhandlungen zu treten. Es geht darum zu signalisieren «welche Massnahmen die Bevölkerung akzeptieren wird», um es nochmals mit den Worten Daniel Kochs zu sagen.
Oliver Graf ist Biologe und Mitglied der unabhängigen Botschaft für territoriale Entwicklung. Er berät die öffentliche Hand in Fragen der Umweltkommunikation, redigiert Texte und wirkt im Quartierladen Épicerie 79a mit. Er lebt in Biel.
Foto: @ by Jamie Lee Curtis Taete, www.jlctjlct.com