Natürliche und politische Erschütterungen im Erdbebengebiet
Am 6. Februar erschütterte ein starkes Erdbeben Teile Syriens und der Türkei. Mit katastrophalen Folgen für die Bevölkerung. Eine Welle humanitärer Hilfe rollte an, allerdings nur langsam, und sie stiess auf zahlreiche politische Hindernisse. Insbesondere wenn es um die von Kurden und Kurdinnen bewohnten Gebiete ging. Da diese Tragödien von den öffentlichen Medien meist nicht thematisiert werden, hat unser Autor mit Özlem Arik gesprochen. Sie ist Präsidentin von Heyva Sor A Kurdistane Swisre, dem Schweizerischen Kurdischen Halbmond, welcher Teil eines internationalen Netzwerks ist.
Wie hat Heyva Sor A Kurdistane auf das Beben reagiert?
Bei Heyva Sor A Kurdistane verfügen wir über zwei Arten von Aktionen; Erstens Massnahmen der Nothilfe, erste Hilfeleistungen nach Katastrophen oder Angriffen. Zweitens langfristige Projekte. Dazu gehören beispielsweise Projekte zur Unterstützung von Kindern oder medizinischen Einrichtungen. In Rojava zum Beispiel (Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens) konnten wir mit Heyva Sor A Kurd eine Schwesterorganisation aufbauen. Diese medizinische Institution verfügt mittlerweile über ein rund tausendköpfiges Team von Mediziner*innen, Krankenpersonal, Ambulanzen, etc. Unmittelbar nach dem Beben haben wir eine Kampagne gestartet, um unsere Erste-Hilfe-Partner vor Ort zu unterstützen. Bisher konnten wir 1,8 Millionen Euro in die betroffenen Gebiete schicken.
Wie wurde die humanitäre Hilfe vor Ort organisiert?
Dies ist keine simple Erderschütterung und nicht einfach eine natürliche Katastrophe. Meiner Meinung nach ist ein Viertel des Schadens auf einen natürlichen Ursprung zurückzuführen, drei Viertel wurden von den Autoritäten verursacht. In den letzten 20 Jahren haben die Behörden unzählige Bauten erlaubt, die nicht den aktuellen Normen entsprechen. Nach dem Beben hat der Staat zudem unzureichend reagiert. In gewissen Regionen ist erst drei Tage nach dem Erdbeben Hilfe eingetroffen. Glücklicherweise herrscht in den kurdischen Regionen eine ziemlich starke Kultur der Selbstverwaltung. In den ersten Stunden nach dem Beben waren unsere Partner in Diyarbakir, der inoffiziellen Hauptstadt Kurdistans, bereits in voller Aktion und hatten sichere Unterkünfte und Nahrung für ungefähr eine Million Menschen organisiert. Ab dem zweiten Tag nach dem Beben wollten sie Hilfe in die betroffenen Gebiete schicken, der türkische Staat hat sie allerdings am Verlassen der Stadt gehindert. Ich gehe davon aus, dass Fünf- bis Zehntausend Menschen hätten gerettet werden können, wenn der Staat dies nicht verhindert hätte. Ausserdem nutzte der Staat den ausgerufenen Ausnahmezustand als Vorwand, um Journalist*innen, welche die politischen Komponente dieser Katastrophe ansprachen, zu kontrollieren und zu zensurieren und willkürliche Verhaftungen zu legitimieren.
Wie hat die türkische Armee auf das Beben reagiert?
Der türkische Staat besitzt eine der grössten Armeen weltweit, mit Helikoptern, Flugzeugen, usw. Der Staat hat diese Macht allerdings nicht genutzt, um den Opfern zu Hilfe zu kommen. Im Gegenteil, am zweiten Tag nach dem Erdbeben hat die türkische Armee erneut Rojava angegriffen und bombardiert. Und die Angriffe dauern immer noch an.
Nach einer Intervention der UNO gab die Türkei offiziell einen Grenzübergang nach Rojava frei. Aber die Hilfe ist nie dort angekommen. In Rojava selbst wurde die erste Hilfe nicht unterbunden, da diese Region von der Autonomen Administration kontrolliert wird. An einige andere Orte, wie zum Beispiel Afrin, war es sehr schwierig, Hilfe zu entsenden. Unser Partner Heyva Sor A Kurd hat mehrere Male versucht, Erste-Hilfe-Teams dorthin zu schicken, sie wurden aber jedes Mal von pro türkischen Milizen daran gehindert. Wir erhalten Hilferufe aus diesen Regionen, aber in der Tat ist es sehr schwierig für die humanitäre Hilfe, diese von türkischen Söldnern besetzten Gebiete zu erreichen.
Wie beurteilst du die Situation heute, einen Monat nach dem verheerenden Erdbeben?
Obwohl wir nicht auf eine solche Situation vorbereitet waren, konnten wir mit unseren kurdischen Nothilfe-Partnern so gut es ging reagieren. Wir konnten auf die Unterstützung der gesamten kurdischen Diaspora zählen. Viele kleine Gruppen und Organisationen haben uns unterstützt, was uns erlaubte, bitter nötige Nothilfe zu leisten. Angesichts der Dimension der Katastrophe und der Zerstörung hat unsere Arbeit allerdings erst angefangen.
Wie kann man euch unterstützen?
Aufgrund der türkischen Unterbindung bleibt die materielle Unterstützung schwierig. Hingegen kann man unsere Nothilfekampagne unterstützen. Menschen, die helfen wollen, können Veranstaltungen organisieren, Solidaritätsessen oder Feste, Sit-Ins, oder können unsere Kampagne verbreiten und verschicken. Wir haben Spenden jeglicher Grössenordnung bekommen, und das alles kommt vom Volk. Das ist Solidarität.
Text:
Gregor Kaufeisen ist hauptsächlich in der Landwirtschaft und als Musiker tätig. Für Vision 2035 dokumentiert er ab und an gesellschaftspolitische Brennpunkte und selbstverwaltete Projekte.
Infokasten
Heyva Sor A Kurdistane ist eine humanitäre Organisation. Sie wurde 1993 in Deutschland gegründet als Reaktion auf die türkischen und irakischen Angriffe, die die kurdische Bevölkerung in den Regionen zwischen der Türkei, Syrien, Irak und Iran im Visier hatten. Das Schweizerische Pendant wurde offiziell im Jahr 2015 eröffnet. Die gesamte Arbeit der Organisation wird ehrenamtlich erledigt. Dementsprechend fliessen 95 – 97 Porzent der Spenden direkt in die humanitären Projekte vor Ort.
Die Kampagne zur Unterstützung der Erdbebenopfer ist online unter folgender Adresse zu finden: www.heyvasor.ch