Quartier Nouveau statt Agglolac – Utopie als Notwendigkeit
Die BielerInnen glauben den «Grösser – Besser – Neuer» Versprechungen ihrer Stadtoberen nicht mehr. Das Millionen-Beton-Grab Tissot-Arena oder der sistierte Westast zeigen es. Und die nächste unsichere Grossbaustelle folgt mit Agglolac bereits. Wird der Investoren-Traum realisiert oder geht die Planerei um das Expo.02 Gelände von vorne los? Mit Quartier Nouveau wird ein dritter Weg skizziert, der die Stärken von Biel nutzt, Innovation und Interdisziplinarität fördert und einen Weg aufzeigt, wie in einer zukunftsweisenden Stadtplanung auch Qualitäten wie Kreativität, Empathie und Anpassungsfähigkeit gelernt und gelebt werden könnten.
Nach 20 Jahren Architekturwettbewerben steht Hans Stöcklis Venedig-Vision vor dem Scheitern. Sollte Agglolac entweder in Nidau oder Biel abgelehnt werden, die Chancen dazu sind erheblich, steht die Planergilde vor einem Fiasko. Ein mehrheitsfähiges Nachfolgeprojekt ist auch nicht in Sicht, und Mobimo pocht auf Verträge – oder Millionen aus der leeren Bieler Stadtkasse. Was tun? Rasch ein Alibi-Projekt mit ein paar Beruhigungspillen (Sozialer Wohnungsbau, un peu Kultur, ein paar nette Beizli mit Spielplatz) hinhauen? Oder könnte auf der riesigen Fläche etwas entstehen, wovon die Region und ihre Menschen langfristig profitieren? Denn wir wissen alle: für die Herausforderungen der Zukunft, von Klimawandel, Ressourcen-Knappheit, technologischer Revolution bis zu neuen Arbeits- und Lebensformen, müssen neue Rezepte, Kooperationen und Systeme gefunden werden.
Was will das Quartier Nouveau?
Quartier nouveau ist eine Ideenskizze einer utopischen Zwischenform. Eine Aufforderung an interessierte Menschen und Gruppen, die Umwälzungen und Veränderungen nicht als Gefahr, sondern als Chance zu sehen. Auf dem Agglolac-Gelände könnte anstelle einer definitiven Überbauung eine temporäre Stadt, das «Quartier nouveau», entstehen. Hier sollen sich Leute einfinden, die Ideen, Systeme und Technologien testen, erklären oder erforschen. Anwendungen und Forschende rund um künstliche Intelligenz, Medizin und Mobilität, Robotik, Energie und Ernährung sollen sich vermischen und inspirieren. Antworten zu Staats-Ohnmacht und Silicon-Valley-Diktatur könnten gefunden oder Crypto-Währungen und ein Quartier-Nouveau-Basiseinkommen praktisch angewendet werden.
Im Interesse der Menschen
Im Gegensatz zu klassischen alternativen Siedlungen wünsche ich keine ideologischen Filter, weniger Dosenbier-Ambiente und Basisdemokratie-Dogmatismus, dafür mehr gelebte Selbstverantwortung. Ich stelle mir ein minimales Regelwerk vor, die Koordination erfolgt primär innerhalb der Quartiere / Gruppen. Eine zentrale Bedeutung kommt der Kommunikation zu, wobei die Formen und Systeme zu bestimmen sind. Eine humanistisch ausgerichtete Wirtschaft soll sich mit Forschung, Schulen, Utopisten und Realisten austauschen. Freaks und Gärtner mischen sich mit Forschern und Techies. Inspirationsquellen sind globale Megatrends wie der Umgang mit Ressourcen, der Klimawandel, die technologische Revolution. Und besonders die Systemfrage, wie der Wandel im Interesse der Menschen gestaltet werden kann. Die Kernkompetenzen der Zukunft sind Kreativität, Empathie und die Fähigkeit, sich rasch an neue Gegebenheiten anzupassen. Und diese Kompetenzen werden – Stand 2019 – nicht in staatlichen Schulen oder klassischen KMU’s vermittelt!
Wie soll Quartier Nouveau funktionieren?
Das neue Quartier ist temporärer Natur, auf eine zu bestimmende Dauer ausgelegt. Warum nicht mit dem Slogan, „Die Zukunftstadt Biel geht wirklich neue Wege“. Gestartet wird klein, der Ausbau erfolgt nach und nach, bereits bestehende lokale Initiativen könnten integriert werden. Die entstehenden Quartiere werden von ihren Nutzerinnen verwaltet. Das Ziel: wir bauen eine «glokale Low / High-Tech Smart City», wo man temporär wohnen und arbeiten kann. Oder einfach nur vorbeischauen.
Die Wohn- und Gewerbeelemente (Tiny Housing / Elementbau) werden in einer zentralen Produktions-Zelle fabriziert. Rund um diese Produktionswabe entstehen Gebäude oder Quartiere für Gastronomie, Kultur-Kreation und Konsum, Bildung und Pflege, Erholung und Sport, Co-Arbeiten und Forschung, Wohnen und Schlafen, Ernährung, Lernen und Studieren, Mobilität und Energie. Natürlich ergänzt mit der notwendigen Service-Infrastruktur, sprich Toiletten bis Veloparking.
Und welche Menschen sollen denn hier einziehen?
Die Wohn- und Kreationsplätze werden lokal bis international ausgeschrieben und im Bewerbungsverfahren vergeben. Durch eine zu bestimmende Patronatsgruppe. Eine heterogene Zusammensetzung von Jung und Alt, Alpha und Beta, kreativ und praktisch, bauend und forschend, Freaks und Forschern, Künstlern und Computer-Cracks ist erwünscht. Notwendige Ressourcen, von Nahrung über Energie bis Bildung, werden selber produziert, Wissen und Technik ausgetauscht, gute Ideen getestet und auch vermarktet. Ohne Scheuklappen und Bürokratie.
Aber warum in Biel, das ist doch zu klein und provinziell?
Biel ist wilder, schneller und innovativer als andere Schweizer Städte. Auch ärmer und kleiner, aber trotzdem irgendwie international und kreativ. Freiräume sind noch vorhanden, die Stadt ist nicht fertig gebaut. Hier herrscht Esprit statt Beamtenluft, was natürlich nicht alle Politiker davon abhält, zu glauben, man könne Innovation und Kreativität aus der Amtsstube heraus mit teuren Gebäuden und tollen Imagekampagnen bestellen. Nein, kann man nicht. Aber man kann Voraussetzung schaffen, damit in Biel Zukunftsideen erprobt werden, spannende Leute herziehen und Verbindungen entstehen.
Wer bezahlt denn das und überhaupt…
Zur Frage der Finanzierung nur soviel: Wenn die Idee originell und einzigartig ist, finden sich Geldgeber! Viel grösser sind die organisatorischen und inhaltlichen Herausforderungen: Wie kann unter den BewohnerInnen und BearbeiterInnen des „Quartier nouveau“ ein gemeinsamer Nenner gefunden werden? Wie behält man die interne und externe Balance, wie lassen sich unterschiedliche Weltanschauungen integrieren? Lassen sich Nachbarn und PolitikerInnen vom Konzept überzeugen? Insbesondere eine Politik, die Risiken scheut und sich immerwährend nach allen Richtungen absichert – um ja nichts falsch zu machen oder WählerInnen zu vergraulen. Und dabei das Wichtigste übersieht: nicht schöne Reden schwingen, sondern Realitäten zu kreieren, die uns Alle weiterbringen!
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Visualisierungen Quartier Nouveau, Wohn- einheiten, Veranstaltungs-Pavillon“ etc. von Hervé Thiot, Airbios.
Matthias Rutishauser ist Kommunikations-Berater, Velo-Lobbyist, Terrain Gurzelen-Aktivist und trägt noch ein paar Hüte mehr.
„Quartier Nouveau“ Ausstellung und Diskussion
Quartier Nouveau – jetzt als Ausstellung