Rosen oder Dornen?
Unsere Autorin lädt herzlich ein, sie auf ihrer Reise farbiger Erinnerungen und Gedanken zum Thema „weniger ist mehr“ zu begleiten. Los gehts…
Du und ich, wir sitzen zusammen im kleinen Bergdorf meiner Kindertage auf meinem Lieblingsbaum, eine Buche mit einer perfektbequemen Astgabelung. Vor uns ein kleiner Ast, der sich ohne Anstrengung als Steuerknüppel bedienen lässt. Etwas am Abhang steht er, mein Baumfreund, daher haben wir freie Sicht… erraten, wir sitzen im „Flugi“. Flugzeugsprit brauchen wir nicht – absolut umweltfreundlich also. Überallhin können wir damit fliegen, aber echt! Es fühlt sich einfach gut an… was brauchen wir mehr? Naja, wenn sich der Hunger meldet… Hast Du schon mal Butterbrot mit Gänseblüemli geschmeckt? Oder Tannenharzkaugummi gekaut? Ziemlich klebrige Angelegenheit jaja, aber wunderbar, vertreibt das Hungergefühl, gesund, nützlich. Damit liess sich in den Bergen unterwegs mal bequem ein abgebrochener Zahn provisorisch wieder anpappen.
Dann stand da jeden Herbst die honigtriefende, goldglänzende Bienenwabe zu Hause in der Speisekammer. Davon durften wir schlecken, soviel wir wollten. Es gab aber nur eine Wabe pro Winter für alle. Lange Bergwinter waren das damals. Da wird jedes Bisschen, das du in den Mund steckst, zum Fest! Weniger ist mehr!!!
Honig mit Wabe kauen – prima Chätschgumi! Nur der Zuckerstock war tabu: Notvorrat – sollte es jedenfalls sein. Ja, und dann der Frühling nach einem laaaangen Schneewinter, der riecht einfach himmlisch. Unter den Buchen werden die ersten „aperen“ Fleckchen Erde sichtbar. Dann gibt es kein Halten mehr. „Ich geh‘ den Frühling riechen!“, rief ich, jeden Frühling, `zig Male. Komm mit, zieh‘ deine Schuhe und Socken aus. Barfuss rennen wir durch den Schnee und lassen uns in das sonnenwarme Frühlingslaub fallen, graben unsere Nasen tief in dieses Gedicht von Frühlingsduft! Das ist Lebensqualität. Kein noch so ausgeklügeltes Spielzeug oder Freizeitpark kann das ersetzen. Das bekommst du für kein Geld der Welt und keine Kosmetikfirma kann den lebendigen Frühlingsduft synthetisch auch nur annähernd nachahmen. Zum Glück. Und … sowas von gut, nicht immer alles sofort „haben“ zu können! Überfluss bringt Überdruss, heisst es doch so treffend. Gib` dich dem Rhythmus der Natur hin und lass dich von Mutter Erde umarmen. Mit Gandhis Worten: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“
Naja, darüber und über “weniger ist mehr“ in allen Farben nachzudenken, ist ja schön und gut, macht sogar Spass…nur…ich bin satt, habe ein Dach über dem Kopf und warme Füsse … und wenn nicht? Wenn du schon mit weniger als wenig auskommen musst? In einer Zeit, in der ich mir mit Karriere machen eine goldene Nase hätte verdienen können, hab‘ ich alles von Heut auf Morgen an den Nagel gehängt, da mir der Preis dafür zu hoch schien. Klare Entscheidung für „weniger ist mehr“. Da stehst du dann über kurz oder lang vor vielen Fragezeichen. Energie investieren, um Arbeitslosengeld zu erhalten, um vom Regen in die Traufe zu kommen? Nein. Kreativität ausleben, innere Impulse leben? Ja, und zwar jetzt. Leben kannst du nicht aufschieben. Dazu gehören halt auch die Schattenseiten und alles, was dich bisher geprägt hat. Meine ganze innere Bande grimmiger, skeptischer Angstmache-Kerle fielen daraufhin über mich her und verurteilten mein Handeln. Sie zerzausten mein wackelig gewordenes Selbstbewusstsein und zogen mir den letzten Teppich unter den Füssen weg. Durch die Stadt laufen kann zur Qual werden, wenn du auch nicht das Nötigste besorgen kannst. Nun denn, wenn ich’s im Aussen im Moment nicht ändern kann, dann eben meine innere Haltung dazu. Wieso nicht den Dornenstrauch in einen Rosenstrauch verwandeln? – genussvoll laufe ich durch die Stadt und fühle mich frei und glücklich über all das, was ich nicht brauche. Und siehe da, die Situation ändert sich allmählich.
Die Kunst des Weglassens hat mir als junger Mensch ein Zeichnungslehrer beigebracht: „vollendet ist etwas, wenn du nichts mehr wegnehmen kannst.“ Ein so schönes Bild habe ich noch nie gemalt, fand ich eines Tages, einfach perfekt. Da kommt dieser Lehrer und sagt: Lösche alles weg, bis du nichts mehr wegnehmen kannst, dann ist es ein gutes Bild. Damals habe ich ihn zum Kuckuck gewünscht, diesen Lehrer. Heute fällt mir „Weglassen“ zwar immer noch schwer, bin ihm für den wertvollen Impuls jedoch sehr dankbar. Er ist anwendbar in allen Lebensbereichen.
Es gibt ach so viele Weniger-Möglichkeiten, die für den Planeten Erde mit all seinen Lebewesen hilfreich sein könnten, wie weniger Fern und mehr Nah-Sehen, weniger Müll, weniger Entmündigung, weniger Grosskonzerne, weniger Gift, weniger Gier, weniger Angst, weniger Administration, weniger Stress, weniger Manipulation, undundund …. und für die es sich einzusetzen lohnt – solange das „Weniger ist mehr“ nicht zum Mainstream Modetrend wird mit damit verbundener Tendenz, Jede/n urteilend auszugrenzen, der/die nicht wie vorgegeben mitmacht … mannomann, oder gleichberechtigt ausgedrückt, frauofrau, vor sowas graust mir!
Oh, das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen: die Zauberworte, die dem „weniger ist mehr“ überhaupt Leben einhauchen – und von denen es nicht weniger, sondern viel, viel mehr geben sollte – Liebe, Freude, jede Menge Spass, Frieden, Zufriedenheit… und Dankbarkeit – nicht das anerzogene Dankeschön, weil es sich halt so gehört, oder die urkirchenväterlich kreierte Dankbarseinsvorgabe, um den Menschen zwecks Machtausübung in obrigkeitsgläubiger Abhängigkeit zu halten, sondern freudiges, echtes Dankgefühl aus tiefstem Herzen eben. Still-warm fühlt sich das an oder leicht oder quirligluftig. Freudig eben. Ein wunderschönes Gefühl, das entsteht, wenn wir zum Beispiel in strahlende Kinderaugen schauen dürfen.
Prisca MüZu, aufgewachsen in den Bündner Bergen, in Biel seit 1980, in Magglingen seit 2003, ist Heilpädagogin, Märchenfrau und Kräuterkundige. Das Leben und Zusammenwirken mit Natur und Mensch ist zu ihrem Hauptlebensinhalt und -Unterhalt geworden. Mit Ehepartner Hans Peter führt sie Wildkräuterkurse durch und stellt hochwertige Naturprodukte her.
Wer jetzt Lust hat, sich selbst assoziativ von den Worten „weniger ist mehr“ mitreissen zu lassen, kann folgende von Prisca MüZu empfohlene Erfahrung machen:
sich etwas Zeit schenken und die Worte „weniger ist mehr“ wirken lassen. Welche Gefühle, Assoziationen, Bilder, Gedanken steigen auf? Alles kunterbunt aufschreiben, zeichnen oder malen. Dann alles auf die Seite legen, später nochmals anschauen – und? – hat sich etwas verändert?