Stadtentwicklung soft
Dass Stadtentwicklung uns alle etwas angeht, macht der folgende Beitrag von Göpf Berweger deutlich: wir sind nicht nur alle von den Veränderungen in der Stadt passiv betroffen, sondern gerade auch aufgerufen, aktiv zu einer lebenswerten Stadt beizutragen – als Teil der natürlichen Umwelt, als soziale Teilnehmer an der Gesellschaft und individuell als Menschen.
Dieser Tage ist Biel für seine starken Seiten gelobt worden: kreativ sei die Stadt, aufregend, fortschrittlich, charmant-nonchalant und vieles mehr. Das mache die Stadt für alle lebenswert, trotz leerer Stadtkasse, trotz heftigen politischen Streitereien, trotz klimatischen Warnzeichen. Biel sei halt doch die schönste, die unkonventionellste Stadt der Schweiz, lebenswert für alle.
Allerdings, so scheint es, machen die weltweiten Krisen sich auch in Biel bemerkbar. Die neusten kriegerischen Konflikte in der Welt verunsichern viele. Die Klimakrise hat sich mit dem Hochwasser 2021 bedrohlich bemerkbar gemacht. Die Toleranz für Migrant*innen und Geflüchtete ist nicht mehr so selbstverständlich. Der wachsende Graben zwischen Arm und Reich ist für viele stossend. Die nervigen stadtpolitischen Streitereien verunsichern. Auch die Bieler*innen spüren zunehmend, dass es nicht mehr wie bisher weitergehen kann.
Umdenken tut not
Umdenken tut not, wenn wir an die Entwicklung unserer Stadt denken. Stadtentwicklung muss auf ein weiterhin lebenswertes Biel für alle ausgerichtet sein. Für alle Menschen, aber auch für die Tier- und Pflanzenwelt, und für Luft und Wasser und Landschaft. Stadtentwicklung ist weit mehr als der Bau von Häusern und Plätzen und Strassen, weit mehr als städtische Infrastruktur, als Gewässerschutz und Abfallentsorgung, weit mehr als soziale Dienste und eine gute Gesundheitsversorgung. Lebenswert bleibt unsere Stadt nur, wenn wir auch die zugehörigen menschlichen Qualitäten bewahren und fördern, kollektiv und individuell – die Stadt auf ‘softe’ Weise entwickeln.
Fangen wir mit der sogenannten Umwelt an. Schon der Begriff zeigt unser falsches Verständnis: Umwelt beschreibt etwas von uns Getrenntes, etwas Manipulierbares, etwas Ausbeutbares, das uns Menschen zur Verfügung steht, das wir benutzen können. Da scheint der Begriff der Mitwelt passender: wir sind als Menschen Teil der Mitwelt (und nicht die Herrschenden im Anthropozän). Was wir erhalten, ist ein Geschenk. Wenn wir etwas nehmen, sollen wir auch etwas geben, denn die Grosszügigkeit und die Geduld unserer Mitwelt ist weder selbstverständlich noch grenzenlos. Wenn wir gegenüber der Natur eine Haltung des Miteinanders annehmen, werden wir automatisch ‘umwelt’freundlicher. Damit können wir nicht die Welt retten, aber unsere Stadt so weit wie möglich naturnah und lebenswert erhalten.
Auch im Sozialen braucht es Entwicklung. Wenn wir uns mit anderen immer nur vergleichen, gleichviel oder mehr haben wollen als diese, in Konkurrenz stehen zu ihnen und die Mitmenschen primär als Gegner*innen wahrnehmen, dann wird und muss die Marktwirtschaft immer weiterwachsen, was zu immer mehr Ungleichheit, Neid und Unzufriedenheit führt. Dann geht gemeinschaftliches Denken verloren, jede Firma, jeder Produzent und jeder Konsument nimmt am Markt als Einzelkämpfer teil. Ja, sogar die Personen im Dienstleistungssektor wie z. B. dem Gesundheitswesen wollen überleben und oft nur noch das eine – Geld verdienen. Warum soll nicht möglich sein, was in den Familien noch spielt: Rücksicht, Unterstützung, Hilfe, Solidarität ohne Eigeninteressen? Warum nur soll freie und einfühlsame Kommunikation nicht möglich sein, oder anders gesagt: warum sollen intolerante Verhärtung und kompromisslose Spaltung in unserer Gesellschaft immer weitergetrieben werden?
Gefordert sind insbesondere die Schulen und Bildungsinstitutionen: die Schule der Zukunft sollte vermehrt nicht-leistungsorientierte Fächer betonen, die den sozialen Zusammenhalt fördern. Zu denken ist da etwa ausser an Kunst und Sport an gemeinsames Werken, Gärtnern und Kochen, an Yoga, sozialen Austausch, gewaltfreie Kommunikation, Empathietraining usw. Ohne derartige Erfahrungen fürs Zusammenleben verlieren wir mit jeder Generation etwas mehr die Fähigkeit zu echtem Mitgefühl und zu gemeinschaftlichem Umgang. Die Stadt braucht ein umfassendes Gefühl der Verbundenheit, damit wir alle miteinander reden, freundlich sind mit allen, egal ob gross oder klein, reich oder arm, von dieser oder jener Religion (oder auch ohne), ob einheimisch oder fremdländisch, ob links oder rechts, ob Fussgänger oder Velofahrer oder mit dem Automobil unterwegs…
Gefordert sind wir alle
Wenn wir uns zu einer mitweltbewussteren und sozialeren Stadt entwickeln wollen, dann müssen wir uns auch als Individuen verändern, denn nur so werden sich auch Kommunikation, Kooperation, Hilfsbereitschaft und Toleranz verbessern. Als Individuum soll ich eine Grundhaltung der (relativen) Bescheidenheit und Dankbarkeit allem gegenüber entwickeln, darf nicht von Gier und Missgunst geleitet sein, darf nicht überheblich und arrogant auftreten, darf nicht das Ego in den Vordergrund rücken. Ich soll mitfühlend, mitmenschlich, mitkreatürlich sein. In einer lebenswerten Stadt gilt nicht nur, dass ich ‘niemandem etwas antue, was ich selber nicht will’ (frei nach Kant), sondern dass ich alle so behandle, wie ich selber behandelt werden möchte.
Wenn wir diese Grundsätze in Biel beherzigen und alle – Regierung, Verwaltung und Bürger*innen, Grossunternehmen und KMU, Parteien und Interessengruppen und die ganzen zivilgesellschaftlichen Organisationen – die Entwicklung unserer Stadt auf diese Werte der Verbundenheit ausrichten, dann besteht Hoffnung für eine rundum nachhaltige lebenswerte Zukunft für Biel-Bienne!
Text:
Göpf Berweger hat Oekonomie studiert, ausserdem Soziologie und war beruflich für verschiedene NGOs in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Er ist Mitbegründer der Gesellschaft für bedrohte Völker (Schweiz) und lebt seit vier Jahren in Biel.
Illustration:
Sofi Serendipia, geboren in Ecuador, lebt seit 2016 in Biel. Sie ist leidenschaftliche und neugierige Künstlerin und zeichnet seit sie einen Stift in der Hand halten kann.
Literatur:
– Andreas Weber, Indigenialität, Berlin: Matthes & Seitz 2024
– Gerald Hüther/Christa Spannbauer (Hg.), Verbundenheit. Warum wir ein neues Weltbild brauchen, Bern: Hogrefe 2021