Stille als kraftvolles Friedens-Zeichen
Jeden ersten Montag im Monat – und das schon seit 11 Jahren – laden Samuel Cacciabue und Rahel Schweiter zu einem halbstündigen Stillekreis vor dem Bieler Bahnhof – aus Protest gegen die herrschende Asylpolitik und vor allem als Zeichen der Solidarität mit den Flüchtlingen.
Vision 2035 hat nachgefragt, was sie dabei erleben, wie diese Form des friedlichen Protestes wirkt und ob sie nicht auch manchmal lieber laut schreien würden. Dazu eingestreute Ausschnitte aus den Einladungsmails.
„Es ist der Wille zum Frieden, der uns motiviert. Wir stehen ein für Menschlichkeit und Würde im Umgang mit den Menschen, die zu uns kommen. Wir sind verbunden mit denen, die sich in der Welt aufrichten zum Frieden.“
Angefangen habe alles einst mit Franziskanermönchen im französischen Toulouse, erzählt Samuel Cacciabue. Sie protestierten dort 2007 zum ersten Mal mit einem Kreis der Stille gegen den unmenschlichen Umgang mit den Menschen in Ausschaffungszentren. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Art der Solidaritätsbekundung mit Geflüchteten und es entstanden überall in Frankreich und darüber hinaus über 180 solche Kreise der Stille. Einer davon in Biel, vor elf Jahren von Samuel und seiner Partnerin ins Leben gerufen. Nach vorab mehreren Jahren des Engagements mit Asylsuchenden und Sans-Papiers entstand ein interreligiöses Friedensgebet, das ziemlich rasch in die öffentliche, für alle zugängliche und laizistische Form mündete. Jeden ersten Montag im Monat stehen sie seither von 18 bis 18.30 Uhr schweigend und bei jedem Wetter vor dem Bahnhof in einem Kreis zusammen, auf dem Rücken Tafeln mit Sätzen und Slogans, die ihren Protest und ihre Solidarität ausdrücken, wie zum Beispiel: „Wir stehen hier… aus Überzeugung, dass jedes menschliche Leben ohne Perspektive verkümmert.“ „Wir stehen hier… zur Ermutigung der missachteten und unwürdig behandelten ausländischen Mitmenschen.“ Aus einer ursprünglich religiösen Aktion sei längst eine politische Bewegung geworden, so Samuel, auch wenn die Mehrheit der in Biel Teilnehmenden durchaus einen christlich-spirituellen Hintergrund habe.
Der Kreis sei offen für jeden und jede, betont der Friedensaktivist. „Wir laden die Passanten ein, sich dazuzustellen, auch nur für ein paar Minuten. Das machen manche spontan, andere nehmen dafür sogar extra auch mal einen Zug früher.“ Der Grossteil der Menschen eile aber natürlich an ihnen vorbei. „Einzelne halten verwundert an, umkreisen uns neugierig, lesen die Slogans, danken uns oder bringen uns auch mal ein Säckchen heisse Marroni von nebenan.“ Selten, dafür meist sehr heftig, gäbe es auch negative Reaktionen von Passanten.
„Unsere Anwesenheit, stehend und schweigend, ist wie eine kleine, oft flackernde, aber treue Kerze, die immer wieder neu erzählt, dass das Leben für jeden da ist, in der Gegenwart und in der Zukunft.“
Im Kern sind es 15 eher ältere Personen, die den Bieler Stillkreis regelmässig besuchen: „10 davon kommen fast immer, wir haben ihn in den elf Jahren nur drei oder vier Mal ausfallen lassen“, sagt Samuel. Trotz aller Konstanz heisst das aber nicht, dass keine Zweifel aufkommen: „Ich frage mich fast jedes Mal: was mach ich hier eigentlich? Bewirkt unser stiller Protest überhaupt irgendwas? Und komme jedes Mal wieder zum Schluss: Ja, doch, denn ohne solche und andere Friedensbewegungen überall wäre es wohl noch schlimmer auf dieser Welt.“ Was zähle, sei die Präsenz, um immer und immer wieder an die Situation der Flüchtlinge und Asylsuchenden zu erinnern. „Die Bevölkerung vergisst schnell. Wir halten mit unserer wiederkehrenden Aktion das Bewusstsein wach. Die Stille ist dabei ein altbewährtes friedliches Mittel, um etwas Unbequemes ohne direkte Konfrontation aufs Parkett zu bringen.“
Nicht zu vergessen die Wirkung des Stillekreises auf die Mitglieder der Gruppe selbst: „Manche brauchen ihn, um wachsam zu bleiben, um weiter zu machen“, erzählt Samuel: „Andere sind müde in ihrem Einsatz für mehr Gerechtigkeit, sie fühlen sich von der Gruppe getragen.“ Man treffe sich auch einmal im Jahr zu einem gemeinsamen Essen – und nach den Stillekreisen werde nicht selten noch bis 19 Uhr angeregt diskutiert, dem Ärger über all die Ungerechtigkeit Luft gemacht. Samuel gibt zu gar zwischendurch an Demos zu gehen: „Es tut auch mal gut, laut zu sein und zu schreien.“
Die Bieler Stillekreise beginnen Samuel und Rahel stets mit kleinen eindringlichen Inputs, in der Art, wie sie sie auch in den Einladungsmails verschicken. Nicht selten nehmen diese – bewusst heruntergebrochen und verallgemeinernd – Bezug auf ein kürzlich passiertes Drama, ein Bootsunglück im Mittelmehr, eine aktuelle politische Debatte, einen ausgebrochenen Krieg. „Das soll uns helfen, im komplexen Asylthema auf einen Aspekt zu fokussieren“, so Samuel. Er stellt zudem jeweils in die Mitte des Kreises einen Gegenstand, der als poetisches Symbol den Input aufnimmt.
Text:
Janosch Szabo, Reaktion
Foto:
Andreas Bachmann
Wer auch zum Bieler Kreis der Stille eingeladen werden möchte oder Fragen dazu hat, kann sich bei Samuel Cacciabue melden unter: csamuel@gmx.ch