Was Krieg und Frieden mit Männlichkeit zu tun haben

Krieg und Gewalt sind im wesentlichen männliche Attribute, Frieden und Friedfertigkeit werden eher dem Weiblichen zugeordnet. Doch was steht der männlichen Friedfertigkeit eigentlich im Weg? Sind es die noch immer wirkenden patriarchalen Muster in unserer Gesellschaft? Ein Interview mit Markus Theunert, Leiter von maenner.ch, dem Dachverband progressiver Schweizer Männer- und Väterorganisationen, darüber, wie Männer von heute zur Verbesserung der Situation beitragen können und was es sonst noch dafür braucht.

Was machen Männer falsch? – So muss man sich fragen, wenn wir an all die schrecklichen Kriege und Konflikte in jüngster Zeit denken. Das brutale Regime der Taliban in Afghanistan ist primär von Männern durchgesetzt. Für den mörderischen russischen Angriff auf die Ukraine ist Putin zum männlichen Sinnbild geworden, und für die Verteidigung und den Gegenangriff der Ukraine Selenski zum männlichen Ebenbild. Für die verabscheuungswürdigen terroristischen Überfälle der Hamas auf Israel sind, sowohl was die Planung als auch die brutale Durchführung betrifft, Männer zuständig. Ebenso stehen Männer für die unmenschlichen Vergeltungsmassnahmen Israels in Gaza mit endlosen zivilen und militärischen Opfern. Hören wir von den Taliban, vom Krieg in der Ukraine, von all den Scheusslichkeiten in Gaza/Israel, so ist die Frage mehr als berechtigt: welche typischen Männlichkeitsvorstellungen stehen dahinter, welche Werte, welche Männlichkeitsideale sind hier wegleitend? Und wo bleibt da die männliche Friedfertigkeit?

Was machen Männer falsch? – Das müssen wir Männer uns fragen, auch wenn wir nicht selbst an den kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt sind. Sind hinter den feindseligen Konflikten etwa ähnliche Werte und Motive wegleitend wie wir sie aus unserem Alltag kennen? Sind in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen nicht auch viele zerstörerische, eben typisch männliche Verhaltensweisen dominant und schaffen viel Leid. Man denke etwa an Gewaltbereitschaft, Rachereaktionen, Ausbeutung, Macho-Gehabe, Konkurrenzverhalten… Oder denken wir an unser männliches Innenleben: Gefühle der Wut, der Vergeltung, des verletzten Stolzes, der beleidigten Selbstgefälligkeit, der Besserwisserei oder des verletzten Egos…

Einer, der sich schon lange intensiv und beruflich mit diesen Fragen beschäftigt, ist Markus Theunert, Leiter von männer.ch, dem Dachverband progressiver Schweizer Männer- und Väterorganisationen. Vision 2035 hat ihn befragt.

Vision 2035: Wie hat sich das Männerbild in unserer Gesellschaft in den letzten 50 Jahren gewandelt?

Markus Theunert: Massiv. Schauen wir doch kurz zurück: Vor 50 Jahren konnte der Mann seiner Gattin beispielsweise noch verbieten, ein eigenes Konto zu haben oder einer Berufstätigkeit nachzugehen. Ein Mann, der heute noch solche Forderungen stellt, würde sich völlig unmöglich machen. Weil wir uns aber als Gesellschaft bislang weitgehend vor einer Auseinandersetzung mit unserem patriarchalen Erbe gedrückt haben, wirken diese alten Männerbilder weiter.

Wie wirkt sich das auf das männliche Selbstverständnis aus?

Es besteht eine grosse Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, die aber nach wie vor erst wenige Männer von sich aus ansprechen. Gesellschaftlich werden klassische Männlichkeitsideale – Härte, Stärke, Agressivität – zusehends problematisiert, aber gleichwohl weiterhin eingefordert. Gleichzeitig wird von Männern immer mehr verlangt, auch Kompetenzen wie Empathie, Sensibilität, Teamfähigkeit und Selbstsorge zu entwickeln. Das ist sehr widersprüchlich – und in dieser Widersprüchlichkeit eine sehr spezielle Situation: Das Alte trägt nicht mehr, aber das Neue ist noch nicht wirklich da. Es ist anspruchsvoll, mit diesen Doppelbotschaften umzugehen.

Heisst das, dass die heutigen Männer überfordert werden?

Auch. Vor allem werden sie sehr allein gelassen. Die Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Männlichkeitsanforderungen wird zu wenig transparent gemacht, zu wenig öffentlich diskutiert, zu wenig ernst genommen. Und Jungen, Männer und Väter erhalten zu wenig Unterstützung, um sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Wir übertragen einfach jedem einzelnen Mann, irgendwie einen Umgang mit all den Widersprüchen zu finden, welche wir als Gesellschaft hervorbringen. Fair ist das nicht.

Welche Perspektiven und Orientierungsmuster braucht es in der aktuellen geschlechtsspezifischen Umbruchsituation?

Wir haben uns als Gesellschaft darauf verständigt, die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter in allen Lebensbereichen umzusetzen. Also nicht nur die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, sondern auch darum besorgt zu sein, dass Männer und Frauen gleich viel haben und dürfen. So steht das – zum Glück – in der Schweizer Bundesverfassung.

Für Männer heisst das: Es führt an der Veränderung kein Weg vorbei. Die Frage ist nur, wie wir diese Veränderung gestalten. Wir brauchen ein Bild, wie wir auch in einer Gesellschaft gern und fair Mann sein können, die gerechte Geschlechterverhältnisse realisiert hat. Welche Kompetenzen brauchen Männer, um ihren eigenen Weg zu finden? Dafür ist die grundlegende Einsicht unerlässlich: Mannsein ist nicht durch die Biologie ausdefiniert. Mannsein ist gestaltbar. Ich kann selbst bestimmen, wie sehr und in welchen Aspekten ich kulturellen Männlichkeitsanforderungen genügen will – und wo eben nicht. Das bringt ja extrem viele Freiheiten mit sich.

Wie werden wir Männer also gesellschaftsverträglicher, umgänglicher, sozialer, ja friedlicher?

Ich möchte diese Frage nicht beantworten, ohne klar zu machen: Individuelle Veränderungsprozesse können nur ein Teil der Veränderungsdynamik sein. Es braucht auf gesellschaftlicher und politischer Ebene eine Entsprechung: Indem wir flächendeckend in geschlechterreflektierte Pädagogik, Väterbildung und Männerarbeit investieren. Indem wir uns mit Männlichkeit auseinandersetzen – und indem wir diese Auseinandersetzung normalisieren. Patriarchatskritik und männliche Selbstbefragung sollten in der öffentlichen Diskussion viel selbstverständlicher werden.

Und was kann jeder einzelne Mann tun?

Damit Männer selber sich von einengenden Männlichkeitsimperativen lossagen können, schlage ich drei Kernkompetenzen vor: die Fähigkeit, sich selbst beizustehen, für sich sorgen zu können; die Fähigkeit, sich selber und den anderen Grenzen zu setzen; die Fähigkeit, Gefühle zuzulassen und sich ein Stück weit dem Leben hingeben zu können. Daran müssen wir Männer arbeiten. Und das wäre auch der Beitrag eines jeden Mannes zu einer friedlicheren Welt!

Geschätzt immerhin rund ein Drittel der Männer in der Schweiz versucht in dieser schwierigen Situation aktiv eine Lösung zu finden, indem sie neue Rollen übernehmen, fair und nachhaltig leben, für ihre Kinder echte Väter und gewissermassen ‘feministisch’ Mann sind. Ungefähr ein zweites Drittel der Männer kommt allerdings mit den Rollenveränderungen nicht klar, ist überfordert, desorientiert, verwirrt und leidet psychisch und manchmal auch physisch. Die Dritten verhärten sich gar, kämpfen gegen die Entwicklung, fordern männliche Dominanz zurück, sind reaktionär und werden gar ‘toxisch’ männlich (nach M. Theunert, in „Der Bund“ vom 09.12.23)

berraschend dabei ist, wie vom Forschungsinstitut Sotomo kürzlich nachgewiesen, dass bei der jüngeren Generation bis 30 Jahre die Unterschiede zwischen Frauen und Männern am grössten sind. Junge Männer, die meinen, es sei nun genug der Gleichstellung der Geschlechter, der Emanzipation der Frauen und der Frauenförderung, fühlen sich in ihren Möglichkeiten und in ihrem Selbstbewusstsein bedroht. Ihre Abwehr verhärtet sich…

Um nochmals auf die internationale Bühne zu gehen: es geht nicht um frauliche oder männliche Werte, sondern es geht um menschliche Werte. Und weil es eben nicht biologisch zwingend ist, als Mann hart und aggressiv und erfolgreich sein zu müssen, erinnern wir uns doch an versöhnliche Werte, wie etwa an die männliche Friedfertigkeit eines Mahatma Gandhi, eines Dalai Lama, eines Nelson Mandela oder – um in der Schweiz zu bleiben – eines Bruder Klaus!

Text:
Göpf Berweger. Der Interviewteil basiert auf einem Artikel, der in der Lokalzeitung «Küsnachter» erschienen ist.
Foto:
Symbolisches Kunstwerk/Denkmal gegen die schweizerische Waffenausfuhr in Bern,  wahrscheinlich 1987.

Weiterlesen:

Markus Theunert, „Jungs, wir schaffen das – Ein Kompass für Männer von heute“, Stuttgart: Kohlhammer 2023

Markus Theunert, „Faktor M – Männlichkeit und Radikalisierung“, 2024, Bericht zum Download auf http://www.maenner.ch/radikalisierung/

Richard Reeves, „Von Jungen und Männern. Warum der moderne Mann Probleme hat“, Berlin: Xenomoi 2023