Wie ein Flugzeug auf Autopilot

Sie sind sicherer, ökologischer und effizienter – und werden das Verkehrsverhalten umkrempeln: Selbstfahrende Fahrzeuge stehen kurz vor der Markteinführung. Auch dies ein guter Grund für einen Marschhalt bei der Bieler Stadtautobahn.

Die Bevölkerung ist noch abwartend bis skeptisch, doch für die Fachwelt steht fest: Bald wird der Megatrend Digitalisierung auch unser Verkehrsverhalten erfassen. Selbstfahrende Fahrzeuge und Sammeltaxis, die zentral gesteuert werden, miteinander kommunizieren, für längere Strecken aneinander docken und selbständig an Staus und Baustellen vorbei den schnellsten Weg zum Ziel suchen: Das ist keine utopische Zukunftsphantasie. Die Post experimentiert im Wallis bereits mit ersten Bussen. Es dürfte nur noch zehn Jahre dau- ern, bis autonome Wagen durch unser Land kurven. Dies sagte kürzlich Bernhard Gerster, Leiter der Automobiltechnik an der Berner Fach- hochschule, im «Bieler Tagblatt». Laut dem Verband digital.swiss sind im Themenfeld Mobilität hierzulande erst 35 Prozent des Potenzials der Digitalisierung ausgeschöpft.

Es stehen also tief greifende Umwälzungen bevor, vergleichbar mit der Erfindung des Autos oder des Smartphones. Mobilitätsforscher Markus Maibach vom Büro Infras spricht von fünf Etappen bis zur weitgehenden Digitalisierung: Während schon heute vielfältige Fahrassistenzsysteme im Einsatz sind, werden nächstes Jahr erste Autos über vereinzelte autonome Funktionen verfügen, um dann ab 2025 «hoch automatisiert» auf Autobahnen zu fahren. 2030 sollen die ersten autonomen Fahrzeuge serienreif sein, und für 2040 prognostiziert er eine «spürbare Marktdurch- dringung autonomer Fahrzeuge». Dabei ist der kombinierte Mischverkehr in Städten mit Autos, Velos, Trams und Fussgängern die schwierigste Herausforderung. Die Fachwelt geht daher davon aus, dass ausgewählte Autobahnstrecken als erstes Experimentierfeld frei gegeben werden, gefolgt von Überlandstrassen.

Den besten Beweis, dass die Technologie kurz vor dem Durchbruch steht, liefert die Industrie: Die Autobauer investieren massiv. Denn wer zu spät kommt, den bestrafen die Konsumentinnen und Konsumenten, wie zuvor schon in der Medienbranche oder beim Detailhandel. GM und Ford haben in den letzten Wochen die Schliessung herkömm- licher Fabriken bekanntgegeben, um Ressourcen freizuschaufeln. Daimler experimentiert seit 2014 mit selbststeuernden, intelligenten Lastwagen, die auf abgesperrten Teststrecken bis zu 80 km/h fahren und etwa einen Krankenwagen im Notfall akustisch erkennen und zur Seite fahren; das Unternehmen rechnet schon 2025 mit der Markteinführung. Und der VW-Konzern hat vor wenigen Wochen bekannt gegeben, dass er 44 Milliarden Euro in die E-Mobilität investieren wird.

Versteht sich von selbst, dass die kühl kalkulierenden Konzerne dies nicht einfach aus Spass an der Freude tun. Ihnen eröffnet sich ein riesiger Markt. Vollautonome Fahrer ohne Fahrzeuge könnten «jährlich mehrere Milliarden Franken volkswirtschaftlichen Nutzen bringen», hat das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) in einer kürzlich publizierten Vorstudie errechnet. Und auch wenn mit der Digitalisie- rung diffuse Ängste verbunden sind, dürfte sie viele Vorteile mit sich bringen:

  • Automatisierte Fahrzeuge werden den Strassenverkehr sicherer machen, weil die häufigste Fehlerquelle, der Mensch, entlastet wird.
  • Betagte, Behinderte und Kinder haben vermehrt Zugang zur Mobilität, auch wenn sie selber fahruntüchtig sind.

Tätigkeiten, weniger Zeitverlust für die Parkplatzsuche sowie allgemeine Kosteneinsparungen durch die Automatisierung.

Auf der Schiene ist die Digitalisierung mit 64 Prozent schon weiter entwickelt als auf der Strasse, wo das Potenzial nach Angaben von «Digital.swiss» erst zu einem Fünftel ausgeschöpft wird. Die im Programm «smartrail 4.0» zusam- mengeschlossenen Schweizer Bahnbetriebe sehen dennoch weitere grosse Entwicklungsmöglichkeiten: Sie rechnen damit, dass bis 2040 durch Digitalisierung und Automati- sierung nicht nur die jährlichen Systemkosten um rund 450 Millionen Franken reduziert werden, sondern dass die Kapazität im bestehenden Netz um bis zu 30 Prozent erhöht werden kann – bei gleichzeitiger Verbesserung von Sicherheit und Pünktlichkeit. Die Eisenbahnbetreiber wollen nächstes Jahr eine erste Pilotanlage testen und dann einen «industriellen Rollout» ab 2027 durchführen.

Der Bundesrat hat jedenfalls in seiner Strategie «Digitale Schweiz» neue Schwerpunkte gesetzt und die «Multimodalität» oder eben die «nahtlose Mobilität» zum Thema gemacht. Laut diesem Konzept sollen klassische Verkehrsträger wie Auto,

Velo, Taxi und der öffentliche Verkehr dereinst durch digital gesteuerte Mobilitätsdienstleister ersetzt wer- den, welche alle Verkehrsträger über Internet-Plattformen verbinden und steuern.

Natürlich birgt die rasante Entwicklung auch Nachteile: Problembereiche wie Datenschutz und Cyber- Sicherheit sind nicht ansatzweise gelöst. Da in diesen Bereichen die Meinungen der Experten noch weit auseinander liegen, bremst dies im Moment den raschen Einsatz der neuen Technologien, zu Recht. Auch ist die Debatte derzeit noch zu stark technologie- und marketinggetriebenen, so dass einige wichtige haftungsrechtliche, ethische und gesellschaftliche Fragen noch immer offen sind. Kritisiert wird zudem, dass die Digitalisierung der Mobilität – wie bisher fast jede neuer Entwicklungsschritt bei Infrastrukturen – Mehr- verkehr und mehr Leerfahrten generieren könnte, wenn der Staat keine Leitplanken setzt. Zudem dürften einzelne Branchen ganz verdrängt werden, wie etwa die Taxibranche, speziell die Ubers dieser Welt.

Die Digitalisierung der Mobilität bringt vor allem dann effizientere und ökologischere Lösungen, wenn man sie mit Telekommunikations- und Internetdiensten im Sinne der «shared

  • Selbstfahrende
den Verkehr verflüssigen und den Benzinverbrauch reduzieren, weil weniger Stop-und-Go-Manöver notwendig sind, wie Tests von Volvo in Südschweden ergaben.
  • Die Strassenkapazitäten können besser über den Tag verteilt werden, unproduktive Zeiten im Stau werden reduziert.
  • Die Fahrzeuge könnten effizienter genutzt werden: Heute sind Fahrzeuge unterbesetzt und vornehmlich «Stehzeuge», wie Experte Maibach neulich an einer Tagung in Luzern frotzelte: Sie stehen zu 95 Prozent still auf dem Parkplatz oder in der Garage. Mit Car Pooling und einer intelligenter Einsatzsteuerung liesse sich dieses Missverhältnis korrigie- ren.
  • Und schliesslich erwartet das ARE in seinen Berechnungen eine bessere Nutzung der Reisezeit für produktiv

economy» intelligent vernetzt und kombiniert. Das Auto mieten statt besitzen, die Fahrten teilen oder ideale Routen und den idealen Mix von Verkehrsmitteln finden, um rasch ans Ziel zu kommen – damit kann das Mobilitätsverhalten der Zukunft optimiert werden. Speziell auf der ersten und letzten Meile könnten selbstfah- renden Sammeltaxis oder auch das in Biel entworfene Elektrofahrzeug ENUU den öffentlichen Verkehr wirkungsvoll ergänzen. Damit wäre der private Fahrzeugbesitz nicht mehr der Schlüssel zur individuellen Mo- bilität: Das Auto würde seinen gesellschaftlichen Status als persönliches Prestigeobjekt zusehends verlieren.

Die Digitalisierung der Mobilität wird also zu einem Quantensprung im Verkehr führen. Die jüngsten Zukunftsprognosen lesen sich daher wie eine perfekte Begründung für den Verzicht auf den weiteren Ausbau von Autobahnen. Dank selbstfahrenden Fahrzeugen, die gemeinsam ge- nutzt werden, braucht es künftig auch keine neuen Autobahnen als «Einfallschneisen in die Städte» mehr, wie dies der Direktor des Bundesamtes für Strassen, Jörg Röthlisberger, neulich forderte. Die Digitalisierung habe «das Potenzial, die Verkehrslandschaft der Schweiz in den nächs- ten 15 bis 25 Jahren zu verändern, also bis 2031 bis 2041», schreibt der Bundesrat in einem Bericht zur Beantwortung eines Postulats von Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer.

Das ist genau der Zeitrahmen, in welchem Bund und Kanton in Biel den umstrittenen Westast mit zwei überdimensionierten Autobahnan- schlüssen von je 270 Metern Länge bauen wollen. Das Vorhaben aus den 1960er-Jahren steht damit erst recht schief in der Landschaft. Ein Marschhalt erscheint zwingend, bevor für 2200 Millionen Franken ganze Stadtteile zubetoniert werden.

Catherine Duttweiler war von 2004-2011 Chefredaktorin des Bieler Tagblatts.
 Sie arbeitet heute als selbständige Autorin, Moderatorin und Kommunikationsberaterin und engagiert sich ehrenamtlich im Komitee «Westast so nicht!»