Leben Gesellschaft

100 Jahre SCI Schweiz – im Einsatz für den Frieden

Die Geschichte des Service Civil International (SCI) geht zurück auf ein Treffen von christlichen Pazifistinnen und Pazifisten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Bilthoven (NL). Mit dabei war der Schweizer Ingenieur Pierre Cérésole, der die Idee eines internationalen freiwilligen zivilen Dienstes für den Frieden als erster in die Tat umzusetzen versuchte – im Winter 1920/21 im kriegsversehrten Frankreich. Und vor einhundert Jahren – im Sommer und Herbst 1924 – fanden die ersten «Zivildiensteinsätze» auf Schweizer Boden statt: Ein Rückblick auf die Geschichte der Zivildienstbewegung – übernommen aus der Friedenszeitung.

Im Oktober 1919, also weniger als ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, trafen sich christlich motivierte Pazifisten und einige Pazifistinnen aus mehreren europäischen Ländern im niederländischen Bilthoven im Haus des bekannten Reformpädagogen Kees Boeke, um zu diskutieren, wie kriegerische Katastrophen in Zukunft vermieden werden könnten. An diesem Treffen nahm, auf Anregung von Leonhard Ragaz, auch Pierre Cérésole teil: An der ETH Zürich ausgebildeter Ingenieur, Sohn eines früheren Bundesrates aus dem Kanton Waadt und dezidierter Gegner des Militärdienstes. Aufgrund seiner guten Sprachkenntnisse (Französisch, Deutsch, Englisch) wurde Cérésole zum Sekretär der Konferenz berufen. Die von ihm vertretene Idee, mit internationalen Arbeitsdiensten praktische Versöhnungsarbeit mit Angehörigen zuvor verfeindeter Nationen zu leisten, fand an einer Folgekonferenz im Juli 1920, ebenfalls in Bilthoven, grossen Anklang.

Erster Freiwilligeneinsatz in Verdun

Im Winter 1920/21 schliesslich trafen sich einige Freiwillige aus mehreren Ländern, überwiegend Männer, darunter auch einige Deutsche, im vom Krieg stark versehrten Dorf Esnes in der Nähe von Verdun, um dieses unter einfachsten Bedingungen wieder aufzubauen. Die Zusammenarbeit mit den lokalen französischen Behörden gestaltete sich allerdings zunehmend schwierig, und im April 1921 musste das erste Experiment eines internationalen «Zivildienstes» bzw. «Workcamps» vorzeitig abgebrochen werden.

In den folgenden drei Jahren wurden keine weiteren derartigen Einsätze mehr durchgeführt. Man verlegte sich zunächst auf die politische Bewusstseinsbildung: 1923 wurde dem eidgenössischen Parlament eine Petition mit fast 40’000 Unterschriften eingereicht, welche die Schaffung eines zivilen Ersatzdienstes für Militärverweigerer aus Gewissensgründen forderte. Was heute in den meisten europäischen Ländern selbstverständlich ist – dass niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst gezwungen werden kann –, kam hier zum ersten Mal auf das politische Tapet und blieb, trotz prominenter Unterstützung durch Herman Greulich und Leonhard Ragaz, vorerst chancenlos.

Erster Schweizer Einsatz im Herbst
1924 in der Westschweiz

Auch um diese politische Forderung mit praktischen Taten zu untermauern, organisierten Cérésole und seine Gleichgesinnten im Sommer und Herbst 1924 schliesslich zwei internationale Freiwilligeneinsätze in Schweizer Berggebieten, die von akuten Naturkatastrophen betroffen waren: Im August 1924 halfen insgesamt 28 Freiwillige (19 Männer und 9 Frauen) bei der Beseitigung von Lawinenschäden in Vers l’Eglise bei Les Ormonts in den Waadtländer Alpen. Der Einsatz dauerte drei Wochen. Neben SchweizerInnen nahmen auch Freiwillige aus weiteren westeuropäischen Ländern teil.
Der Einsatz im Dorf Someo, das Ende September durch einen schweren Erdrutsch stark beschädigt worden war, begann im Oktober und endete kurz vor Weihnachten 1924. Diesmal hatte ein Komitee in der Presse einen Aufruf lanciert, dem insgesamt über 300 Freiwillige innert erstaunlich kurzer Zeit gefolgt waren. Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehörten Pfarrer und Notabeln aus der deutschen und französischen Schweiz, darunter erneut Leonhard Ragaz, aber auch der noch junge Redaktor bei der St. Galler Volksstimme und spätere Bundesrat Max Weber.

Die Einsätze waren offen für hilfsbereite Menschen unabhängig von der politischen Einstellung – eine pazifistische Gesinnung oder die Befürwortung der Militärdienstverweigerung waren keineswegs Voraussetzung für eine Teilnahme. Viel Wert wurde auf quasi militärische Disziplin gelegt, denn es galt zu zeigen, dass der Zivildienst genauso effektiv sein konnte wie der zu überwindende Militärdienst. Immerhin 13 TeilnehmerInnen von Someo mussten aus Mangel an Disziplin nach Hause geschickt werden.

Auch «Schwestern» waren im Einsatz

In beiden Einsätzen spielte Pierre Cérésoles Bruder Ernest, der in der Armee den Rang eines Obersten bekleidete, als Arbeitskoordinator eine tragende Rolle. Er sorgte auch dafür, dass den Freiwilligen Militärkleider zur Verfügung gestellt wurden. Und selbstverständlich arbeitete man eng mit den lokalen Behörden und der Bevölkerung zusammen.

Die weiblichen Freiwilligen, die damals schon und noch während Jahrzehnten «Schwestern» genannt wurden, waren zuständig für den ‹rückwärtigen› Dienst: Küche, Wäsche, Reinigung, Krankenpflege. Anders aber als im Militär waren sie vollwertiger Teil der Gruppe und lebten mit den Männern gemeinsam unter einem Dach. Der Zivildienst vor hundert Jahren war also einerseits klar geprägt von einem traditionellen Rollenverständnis von Männern und Frauen, andererseits aber grenzte er sich deutlich von den männerbündischen, die Frauen ausschliessenden Strukturen
des Militärdienstes ab.

Noch Jahrzehnte
bis zu einem Zivildienst für Militärdienstverweigerer


Die Hoffnungen auf eine baldige konstruktive Lösung des «Militärverweigererproblems» wurden bekanntlich enttäuscht: Es sollte noch fast sieben Jahrzehnte dauern, bis auch in der Schweiz, einem der Pionierländer des internationalen freiwilligen Zivildienstes, ein offizieller ziviler Ersatzdienst eingeführt wurde. Aber auf praktischer Ebene blieben die Pionierdienste des Jahres 1924 nicht folgenlos: Im Jahr 1926 folgte ein weiterer Freiwilligeneinsatz, diesmal im bündnerischen Almens. 1928 halfen Hunderte von Freiwillige aus ganz Europa bei Aufräumarbeiten nach Überschwemmungen des Rheins im Fürstentum Liechtenstein. Und in den 1930er-Jahren folgten weitere Einsätze in Frankreich, Grossbritannien und in der Schweiz, aus jeweils unter- schiedlichem Anlass – und der Aufbau von Vereinsstrukturen namentlich in diesen drei Ländern.

Heute organisiert allein der Schweizer Zweig des längst weltweit verankerten Service Civil International (SCI) jährlich rund 20 Workcamps und etliche weitere Aktivitäten.

Text
Heinz Gabathuler
ist Internationaler Archivar des SCI. Dieser Beitrag ist zuerst in der Friedenszeitung des Schweizerischen Friedensrates (SFR) Nr. 48 vom März 2024 erschienen.

Foto:
Gruppenbild der TeilnehmerInnen der ersten Konferenz in Bilthoven im Oktober 1919 (SCI International Archives).

Zu den heutigen Aktivitäten des SCI informieren:

– die Website des Schweizer Zweigs: scich.org
– und jene des internationalen SCI sci.ngo

Mehr zum Jubiläumsprogramm des SCI Schweiz unter: scich.org/jubilaeum-100-jahre-sci-schweiz/

Mehr zum Schweizerischen Friedensrat und der Friedenszeitung unter: friedensrat.ch

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