Wären Klimazonen mit blossem Auge sichtbar, so könnten wir aktuell in Echtzeit beobachten, wie sich die warmen Klimazonen täglich um 54 Meter nach Norden bewegen; pro Stunde sind das 2,25 Meter. Welche weitreichenden und dramatischen Auswirkungen das mit sich bringt, beschreibt Mark Lynas in der Neuauflage seines Buches „6 Grad“.
6 Kapitel des Schreckens
Die formale Struktur des Buches – je ein Kapitel pro Grad globaler Erwärmung – ist etwas irreführend , denn wir haben es in der Realität mit ineinandergreifenden, vernetzten und vor allem hoch komplexen, sich manchmal selbst verstärkenden (Kipppunkte!) und deshalb schwer vorhersagbaren Prozessen zu tun, die sich kaum an dieses klare 1,2,3…-Grad Szenario halten.
Dennoch ermöglicht uns diese Einteilung eine gewisse Orientierung über das, was auf uns zukommen könnte. Oder wird. Zudem – aber das erfahren wir erst nach einem informativen Abstecher in die Klimapaläontologie gegen Ende des Buches – stehen die 6 Grad für den Temperaturanstieg um 6 Grad am Ende des Perm (vor 251 Millionen Jahren), mit dem das damalige Massenaussterben ursächlich zusammenhing.
Eine letzte Warnung
Als Mark Lynas die erste Version seines Buches „Six degrees – a final warning“ im Jahre 2007 vorlegte, lag die globale Erwärmung noch unter 1 Grad. Inzwischen ist diese Stufe erreicht und wir bewegen uns grossen Schrittes auf die 2-Grad-Marke zu. Trotz Pariser Klimaabkommen und grossmundiger Absichtserklärungen der verantwortlichen Politiker*innen wurde und wird immer noch nicht entsprechend gehandelt. Ganz im Gegenteil: die Emissionen steigen Jahr für Jahr auf neue Rekordwerte. Die Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschungsarbeit dringen noch weitgehend wirkungslos ins politische System vor.
In dieser überarbeiteten Neuauflage hat der Autor – quasi als allerletzte Warnung – noch ausführlicher dargestellt, welche desaströsen Folgen der globale Temperaturanstieg auf die menschliche Gesellschaft und die Ökosysteme haben wird. Aber wer sollte dieses Buch lesen wollen? Bad News in dieser Konzentration sind nicht massentauglich.
1 Grad
Schon das erste Kapitel ist nur schwer zu ertragen, dabei ist es nichts als eine kondensierte Berichterstattung der aktuellen globalen Situation. Ca. im Jahr 2015 haben wir global 1 Grad Erderwärmung seit vorindustrieller Zeit erreicht. Ein Grad tönt nach wenig, aber es geht hier nicht um die Aarewasser-Temperatur, sondern um erstaunlich fragile ökologische Prozesse.
Hat der Buchumschlag mit der brennenden Erde eben noch reisserisch gewirkt, so stossen wir im Innern des Buches auf handfeste Information, sauber recherchiert mit vielen Quellenangaben, und uns dämmert die unangenehme Erkenntnis, dass irgendwo in unserem Gehirn ein supereffizienter „delete-button“ für schlechte Klimanews existiert. All die Brände, Dürren, Naturkatastrophen der letzten Jahre: nur ja schnell vergessen! Mark Lynas holt sie wieder hervor, fügt viele weitere hinzu, zeigt kausale Zusammenhänge auf. Und als wüssten wir’s nicht längst: das ökologische Gleichgewicht der Natur, die Basis unseres Überlebens auf diesem Planeten und damit das Wertvollste, was es für uns Menschen überhaupt gibt, ist bedroht – und zwar so richtig übel.
Dass in den letzten 12 Jahren in Afrika die Mehrheit der ältesten und grössten afrikanischen Baobabs höchstwahrscheinlich wegen Trockenheitsperioden abgestorben sind, nachdem sie Jahrtausende überlebt hatten, ist kein Zufall, sondern eines von immer mehr und immer deutlicheren Alarmzeichen. Was gestern noch „Jahrhundert-Überschwemmungen und Jahrtausend-Brände“ waren, entwickelt sich zum Normalzustand. Und was gestern noch in angenehmer globaler Distanz geschah, findet früher oder später auch den Weg in unser kleines heiles Schweizerparadieschen.
Seit 1999 wird die Erde – wie Satellitenbilder zeigen – immer brauner. Besonders deutlich zeigt sich die Erwärmung in der Arktis, wo die Temperaturen zwei- bis dreimal schneller steigen als im Weltdurchschnitt. Wenn im Dezember 2015 direkt am Nordpol Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt gemessen wurden, dann sind das 30 Grad mehr als normal. Rekordwerte werden heute nicht mehr um Zehntelsgrade, sondern gleich um mehrere Grad gebrochen. Das sind keine Ausrutscher mehr;
Es wird eine massive Abnahme des Nordpolareises beobachtet und eines scheint schon klar: die arktische Zirkulation, wie sie seit Jahrtausenden besteht, bricht aktuell zusammen. Auch die Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation verlangsamt sich. Der Golfstrom ist nur ein Teil dieses gewaltigen Systems, das Wärme im Umfang von 0,9 Petawatt aus den Tropen in nördlichere Breiten befördert. Das entspricht der Leistung einer halben Million AKWs. Da werden genaue Prognosen schwierig.
Prognosen
Wer Lynas Buch liest, kommt zum Schluss: der Weltklimarat ist nicht irgendein linkes, panikschürendes Öko-Kollektiv, sondern im Gegenteil ein stockkonservatives, um Seriosität bemühtes Wissenschaftler*innen-Gremium. Entsprechend zurückhaltend fallen – trotz ausgeklügelter Klimamodelle – immer wieder dessen Prognosen aus, welche sich häufig als viel zu konservativ herausstellen und von der Dynamik der Realität überholt werden: etwa wenn für’s Jahr 2090 vorausgesagte Schmelztiefen in der Arktis schon im Jahr 2020 beobachtet werden. Oder wenn der Weltklimarat im Jahr 2018 die Einschätzung aus dem Jahr 2014 schon wieder korrigiert und feststellt: „Tropische Korallen leiden womöglich unter einer grösseren Verwundbarkeit gegenüber dem Klimawandel, als aus unserer Einschätzung im Bericht von 2014 hervorgeht“. Tatsächlich sind am Great Barrier Reef in den Jahren 2015 und 2016 weite Teile dieses 2300 Kilometer langen und einzigartigen Ökosystems infolge einer Bleiche abgestorben.
Buch weglegen und vor dem zweiten Kapitel tief durchatmen: die gigantischen Ausmasse des globalen Wettergeschehens sind unsere persönliche Ohnmacht!
2 Grad
Waren vor Mitte der 1980er-Jahre Korallenbleichen noch unbekannt, so werden wir in einer 2 Grad-Welt 99% aller Korallenriffe verlieren. Die unglaubliche Pracht der Korallenriffe wird sich auflösen und alle von den Korallenriffen abhängigen Fische und andere Spezies werden verschwinden, die Schnorchelferien in Übersee werden abgeblasen: niemand will gespenstisch tote Korallenriffe sehen, es wäre zu deprimierend.
Wir werden dramatische Veränderungen beobachten können: weitere unschätzbar wertvolle Ökosysteme werden instabil werden oder ganz kollabieren. Der Permafrost taut auf. Die Arktis wird in wenigen Jahren zum ersten Mal seit etwa 3 Millionen Jahren eisfrei.
Auch für die Antarktis rechnet der sonst so zurückhaltende Weltklimarat mit einem Kipppunkt zwischen 1,5 und 2 Grad: „Die Schwelle der globalen Temperatursteigerung, die womöglich einen irreversiblem Verlust des Antarktischen Eisschilds und eine marine Eisschildinstabilität verstärken kann, wird auf einen Wert zwischen 1,5 und 2 Grad Celsius geschätzt“.
Die Gletscher werden weiter schmelzen, Krankheiten wie Denguefieber werden sich weiter in den Norden verbreiten und der Landwirtschaft stehen angesichts häufiger werdender Extremwetter-Ereignissen schwierige Jahre bevor. Alleine beim hitzeempflindlichen Mais drohen in einem 2 Grad-Szenario Ernteausfälle von 100 Millionen Tonnen.
Die Auswirkungen auf die globale Lebensmittelproduktion wären fatal: durch immer grössere Hitze und Trockenheit sinken die Ernteerträge in den wichtigsten Anbauregionen der Welt. Die renommierte, medizinische Fachzeitschrift The Lancet berichtet von einer neueren Projektion, wonach mit einer „weltweiten relativen Verringerung der Nahrungsverfügbarkeit von 99 Kalorien pro Person pro Tag“ gerechnet werden muss; mindestens eine halbe Million Menschen würde an Untereränhrung sterben. Bis 2050 wird jedoch die Weltbevölkerung auf schätzungsweise 9,5 bis 10 Milliarden ansteigen. Deren Ernährung gilt als unlösbares Problem, selbst wenn man die Folgen des Klimawandels ausser Acht lässt.
Hitzewellen und Mega-Hitzewellen werden massiv zunehmen und die Sommer in Europa werden so heiss wie der Sommer 2010, als Russland von einer zwei Monate andauernden Mega-Hitzewelle getroffen wurde, die schlimmste seit 1000 Jahren. Tanklastwagen besprühten die Strassen Moskaus, damit der Asphalt nicht schmolz.
3 Grad
Ab 3 Grad Erwärmung „leben wir in einem Klima, das wärmer ist als je zuvor in der Geschichte der Menschheit“. Wir betreten damit erstaunlicherweise das Gebiet der Klimapaläontologie: vergleichbare Temperaturen herrschten zur Zeit des Pliozän vor rund drei Millionen Jahren.
Wir betreten damit auch völliges Neuland für die menschliche Spezies: Prozesse verselbständigen sich mit unabsehbaren Folgen, der Amazonas-Regenwald verpufft in einer riesigen Rauchwolke. Die schon bisher beschriebenen Folgen der Erwärmung multiplizieren sich; es ist eine Spirale des Schreckens: ganze Gebiete werden wegen Hitze schlicht unbewohnbar, die Wasserressourcen einer Milliarde Menschen ist bedroht und weil die Erträge aus der Landwirtschaft über bestimmten Temperaturen dramatisch einbrechen, werden wir Missernten und Hungersnöte sehen, wie man sie in der Neuzeit noch nicht erlebt hat. Welche sozialen Folgen das mit sich bringt, kann sich jedeR selbst vorstellen. Nein, niemand von uns möchte das erleben und trotzdem rücken solche Szenarien in denkbare Nähe.
4 Grad, 5 Grad, 6 Grad, Endspiel
Wer die folgenden Kapitel vier, fünf und sechs Grad auch noch tapfer durchgehalten hat, findet nach dieser endlosen Achterbahnfahrt auf Gleisen, die eigentlich nur immer steil nach unten führen, im Zusatzkapitel „Endspiel“ eine Art fossile Situationsanalyse und einen dringlichen Appell, jetzt und zwar subito und radikal zu handeln. Eben eine letzte Warnung. Noch haben wir „den globalen Kohlenstoffthermostaten weitgehend unter Kontrolle“, können entscheiden, wie’s weitergehen soll. Nur ein halbes Grad weniger Erwärmung bedeutet einen Riesenunterschied und Mark Lynas ruft dazu auf, immer weiterzukämpfen, selbst wenn die Flut steigt und die Wüste näher rückt: „Wenn nötig, werde ich mich über Jahre und Jahrzehnte mit grösster Unbeugsamkeit und grenzenloser Liebe einsetzen, bis die Temperaturen nicht mehr steigen und unsere Kinder eine Zukunft haben.“
Wie schafft er es, an dieser Stelle noch ein Quäntchen Mut zu schöpfen? Seine Worte der Aufmunterung wirken irgendwie deplatziert; ist dies der unterschwellige Zwang zum Happy End? Kauft sonst überhaupt niemand das Buch? Nur ja keine Panik schüren? Hoffen, dass vielleicht doch alles nur Fake News ist und sich das Klima mirakulöserweise bald selbst beruhigt? Dürfen wir das riskieren? Es wäre mal Zeit für etwas Panik; die Zeit drängt!
„Und die zwei Grad Celsius, die das Sozialgefüge der Menschen belasten und eine ganze Reihe natürlicher Ökosysteme wie Regenwälder und Korallenriffe zerstören werden, zeichnen sich bereits bedrohlich am Horizont ab. 3 Grad Erwärmung werden, wie ich mittlerweile überzeugt bin, eine ernste Gefahr für die Stabilität der menschlichen Zivilisation darstellen, während uns bei 4 Grad ein weltweiter Zusammenbruch der menschlichen Gesellschaften droht, begleitet von einer massiven Auslöschung der Biosphäre, wie sie seit zehn oder vielleicht sogar hundert Millionen Jahren auf der Erde nicht mehr stattgefunden hat. Bei 5 Grad erleben wir gewaltige positive Rückkopplungseffekte, die einen Grossteil unseres Planeten unbewohnbar machen werden, sodass die Menschen auf eine labile Existenz in kleinen Zufluchtsstätten zurückgeworfen werden. Bei 6 Grad droht eine unaufhaltsame Kettenreaktion, in deren Folge die gesamte Biosphäre absterben könnte und jegliche Lebensform auf der Erde für immer zerstört wäre.“
Mark Lynas
Text:
Andreas Bachmann, Mitglied Redaktion und zunehmend beunruhigt über die zunehmenden Extrem- Wetterereignisse rund um den Globus.
Mark Lynas (Klappentext Buch): Mark Lynas ist britischer Autor, Umweltaktivist und Journalist. Er verfasste zahlreiche Bücher zu den Themen Umweltpolitik und ökologische Nachhaltigkeit. Zwischen 2009 und 2011 beriet er den Präsidenten der Malediven, Mohamed Nasheed, als Experte zum Klimawandel. Derzeit ist er Fellow der Cornell Alliance for Science, die sich für wissenschaftliche Aufklärung und Forschung rund um die Welt einsetzt. Als Journalist schreibt er unter anderem für die New York Times, die Washington Post, das Wall Street Journal, den Guardian und CNN.com.