Andri Kober, Präsident des Bäuerlichen Sorgentelefons, bietet als ausgebildeter und praxiserfahrener Mediator seine Dienste regelmässig bei Konfliktsituationen auf Bauernhöfen an. Insbesondere die Lösung zwischenmenschlicher Konflikte liegt ihm am Herzen, wie er im Gespräch mit Vision 2035 betont. Sie seien die vorwiegende Ursache aller auftretender Probleme, die auftreten. Kober ist sich sicher: das Wesentliche zur Klärung und Konfliktlösung ist immer wieder – und weit übers bäuerliche Umfeld hinaus – das «Mit-einander reden; anstatt Über-einander reden!».
Herr Kober, Sie begleiten ja seit bald 30 Jahren LandwirtInnen in ihren beruflichen und persönlichen Schwierigkeiten, zunächst 20 Jahre als Pfarrer, seit über 10 Jahren häufig auch als professioneller Mediator und Coach. Was hilft Ihrer Meinung nach, nicht in die Gefahr zu geraten, auszubrennen oder gar zu verzweifeln; und wie können Auswege und Ausstiege aus realer und gefühlter Not gefunden werden?
Die heute in allen Ratgebern immer wieder zu lesenden lebensnotwendigen «Resilienz Motivatoren»:
1. Das regelmässige aktive Reden über seine Gefühle in der Form einer steten Beziehungspflege zu wenigen wichtigen vertrauten Beziehungspersonen (Partner, Freunde, professioneller Coach, Mentorin).
2. Gesunde, regelmässige und nachhaltige Ernährung. Auch Bauern tut eine professionelle Ernährungsberatung gut, um zu verstehen, was unser Körper 2023 physiologisch wirklich in welchem Alter braucht.
3. Das tägliche Stärken seines Körpers, seiner physischen Form und seines immunen Abwehrsystems durch regelmässiges Sich-Bewegen in der Natur, das nicht zur Arbeiterfüllung gehört.
4. Das sich regelmässig geplante Herausnehmen von Ruhezeit (alle 2 Stunden mindestens 15 Minuten Pause, und mindestens 20 Min. Mittagsschläfen) Freizeit (für eine andere Tätigkeit wie Hobby, Chorsingen, Musik, Feuerwehr, Kegelclub etc…) und Ferienzeit.
5. Der sehr restriktive und zeitlich genau geplante Konsum von digitalen Informationen, Fernsehen, Social Media, Internet, Surfen etc…
Dazu bedarf es einer hohen Selbst- und Sozialkompetenz, Achtsamkeit sich und seinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen gegenüber und sehr viel Reflexionsarbeit. Stetig sich Gedanken über sich und sein Erleben und Verhalten im Leben zu machen.
Und letztlich als Seelsorger gesagt: Niemand «glaubt» nicht an Gott oder etwas wie auch immer Höherstehendes. Dankbarkeit für das Leben und das stetige Bewusstsein, dass wir nicht aus uns heraus etwas leisten, bewirken oder grundlegendes an den Gegebenheiten der Welt/Schöpfung verändern können, sondern dass da Geschenk, Gnade, Liebe und Zuwendung aus dem Leben vorhanden ist, das uns dieses Leben mit jedem Atemzug und jedem Herzschlag «gratis und franko» ermöglicht. Also sich seiner Seele als etwas, das uns zum höheren Ganzen verbindet, bewusst und dankbar zu sein und ihr «Sorge zu tragen» – Seelsorge eben.
Was glauben Sie, sind die stärksten Motive für die erhöhte Suizidrate bei Beschäftigten in der Landwirtschaft?
Es ist in jedem Suizidfall eine komplexe Summe von Nöten und Sorgen, persönlichen Veranlagungen und häufig unglücklichen Vorkommnissen, die das Fass zum Überlaufen bringen. Daher ist auch kein Fall mit dem anderen vergleichbar und nur die allerwenigsten Menschen erhalten eine detaillierte Ansicht, was letztlich zur Schreckenstat geführt haben kann. Nicht zuletzt sind es wohl Seelsorgende, allenfalls begleitende Psychiater und Psychologen, so sie besucht wurden, manchmal der Hausarzt oder eine nahe Vertraute – meist mit der Konstellation überforderte Vertrauensperson. Auf jeden Fall sind Hauptbeweggründe in der wachsenden Überforderung mit den komplexen Anforderungen der heutigen landwirtschaftlichen Betriebsführung, konstante Überarbeitung respektive Überbelastung, mangelnde Ausbildung und immer wieder fehlende Kommunikation über die eigenen Gedanken, Emotionen (nicht genügen können, Selbstzweifel) und Beweggründe (Schuldgefühle) mit Vertrauten, sprich erschütternde gefühlte Vereinsamung zu suchen.
Bereits wird es üblich, dass Bäuerinnen und Bauern ihren Lebensunterhalt nicht mehr nur von der Landwirtschaft bestreiten können und so immer häufiger Nebengeschäfte und -jobs tätigen müssen. Not macht erfinderisch. Der Kreativität für zweite Standbeine von Bäuerinnen und Bauern sind keine Grenzen gesetzt. Welche Projekte beeindruckten Sie besonders? Welche Möglichkeiten bestehen überhaupt noch?
Jede Person ist mit ihren Gaben und Fähigkeiten, mit ihrer Geschichte und ihren Gegebenheiten einmalig und besonders. Ebenso wie es jeder Hof, jeder Flecken Land auf dem Erdenrund ist. In den oben beschriebenen Resilienz-fördernden – sprich sinnvollen Überlebensstrategien – steckt jede Antwort auf Ihre Frage drin: Sich selber erkennen als der, der man ist, verstehen, wie und welche Beziehungen man sinnvollerweise führt und pflegt und in stetiger Aus- und Weiterbildung alle Gegebenheiten, ebenso wie alle Veränderungen im alltäglichen (Wetterwechsel) wie auch im grossen Ganzen (Klimawandel) auf seinem Land, auf seinem Hof und mit seinen Mitlebewesen – von den kleinsten Mikroorganismen bis zum kräftigsten Bullen – verstehen, beobachten und antizipieren können und wollen. So führt die Summe aller jeweiligen Gegebenheiten zur jener einmaligen, über all diese Gemengelage prägenden «richtigen» Flughöhe, auf der unser Lebensschiffchen optimalerweise auf einem stetig lebensförderlichen Kurs zu behalten zu suchen ist; immer im Bewusstsein, dass «höhere Mächte», Schicksalsschläge und Fehleinschätzungen zu tiefergreifenden Veränderungen führen und geduldig-gelassenes Neuanpassen erfordern. Leben halt…
Dürfen Sie Angaben machen, wie häufig Anrufe erfolgen, und welche Beweggründe meist dahinterstehen?
Im Vergangen Jahr 2022 haben uns 114 Telefonate mit einer Dauer von durchschnittlich 27 Min erreicht. Die zunehmende Dauer der Anrufe verdeutlicht uns die wachsende Komplexität der Problemstellungen in Beziehungen und in der heutigen Hofführung. Wir können nur Zuhören, Abhören und das echte empathische Gefühl übermitteln, dass jemand in der Gegenwart des Gesprächs für den Menschen in Not da ist. Das hilft zu beruhigen, zu Atem zu kommen, durch ruhiges gezieltes Fragen in die oft verworrenen Gedankenwelten etwas Klärung zu bringen und meistens im guten Fall erste Optionen und Möglichkeiten eines oder zwei nächster konkreter Schritte festzulegen.
Was hilft Ihrer Meinung nach am besten, um Bäuerinnen und Bauern in ihrem Berufsalltag effizienter begleiten zu können? Wie können Beschäftigte in der Landwirtschaft besser gewürdigt und bessere Arbeitsbedingungen und Entlöhnungen geschaffen werden?
Alle beruflichen und professionellen Angebote, die für die Landwirtschaft da sind, zu kennen und die Leute dazu motivieren, sie auch zu nutzen. Kaum ein Berufsstand in der Schweiz verfügt über ein so breites diversifiziertes Beratungsfeld wie der Bauernstand!
Was sind Ihrer Meinung nach die aktuell grössten Herausforderungen in der Suizidprävention?
In erster Linie, dass die Medien sich jeglichem trendigen «Bauern-Bashing» enthalten und so häufig wie möglich über Positives, Erfreuliches, Sinnspendendes und Lebensförderndes berichten, in einer ohnehin so schwerbelasteten negativen, und durch eine exorbitant verschuldeten Klimaveränderung existenziell bedrohlicher Lebensumwelt…
Interview:
Alain Bopp ist Autor und Künstler, im Vorstand der City Card Biel/Bienne, in der Marketing AG als Gründungsmitglied der LeihBARàObjets, und initiierte gerade den gemeinnützigen Verein zur politischen Partizipation und kulturellen Bildung namens FREIE MITTE – CENTRE LIBRE.
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Anlaufstellen
- Das Bäuerliche Sorgentelefon ist ein Hilfsangebot für Bäuerinnen, Bauern und ihre Angehörigen sowie alle anderen in der Landwirtschaft tätigen Menschen in schwierigen Situationen.
Dreimal in der Woche ist die Nummer 041 820 02 15 betreut:
Mo, 8.15-12h, Di,13-17h und Do, 18-22h. - Der Schweizerische Bäuerinnen- und Landfrauenverband vermittelt Fachpersonen in Fällen von Familienkonflikten und Scheidung unter 079 520 27 87.
- Das Netzwerk Mediation ist erreichbar unter www.hofkonflikt.ch, 031 941 01 01 und 078 790 04 04.
- Hilfe in der Not bietet auch die Dargebotene Hand unter der Nummer 143.
Der erste Schritt zur Selbsthilfe ist meist bereits ein offener Zuhörer, der qualifiziert und ernsthaft auf einen hilfebedürftigen Menschen eingeht, und womöglich beratend und zuhörend, den Anrufer auf neue Ideen und Möglichkeiten bringt.