Leben Gesellschaft

Mit dem Pluriversum aus der Blase

Jenen, die sich für besonders offen halten, wird vorgeworfen, übermässig zu polarisieren. Doch gegen die Bildung von Meinungsblasen hilft nicht Toleranz, sondern Auseinandersetzung. In der Sonntagszeitung war kürzlich ein brisanter Artikel zu lesen. Er thematisierte die zunehmende Polarisierung unserer Gesellschaft. Das Pikante dran: Ausgerechnet jene, die sich selbst für besonders offen hielten – die linken und gebildeten Städter:innen – würden, so die Autorin, andere Meinungen am wenigsten akzeptieren und seien intoleranter als Konservative und Rechte. Der Artikel stützte sich dabei auf eine grosse europäische Meinungsumfrage. Während Weltwoche, Nebelspalter und rechte Kommentator:innen in den sozialen Medien sich die Hände rieben, hagelte es von sozialwissenschaftlicher Seite Kritik, die ihrerseits von liberalen und linken Medien aufgegriffen und geteilt wurde. Affektive Polarisierung Die Kritik schien mir berechtigt. Im Kern ging es darum, dass die Forschenden keine «Intoleranz» untersucht hatten, sondern etwas, das sie «affektive Polarisierung» nennen. Dazu wurde den Teilnehmenden beispielsweise gesagt: «Es gibt

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Das Leben besetzen

Im französischen Notre-Dame-des Landes entsteht über mehrere Jahrzehnte die erste ZAD – eine real existierende Utopie mit grosser Ausstrahlung. Doch auch nach innen ist die Besetzung fruchtbar, es entspinnen sich neue Arten die Welt zu bewohnen. Die «Besetzung» nimmt in Gene Sharps umfassender Sammlung gewaltfreier Aktionsformen keinen besonderen Platz ein. Als 173te von 198 Methoden steht sie neben Reden, Bannern, Zeitungen, Liedern, Märschen, Streiks und Boykotten. Was aber in Erinnerung bleibt, ist das Beispiel, mit dem der amerikanische Politikwissenschaftler die gewaltfreie Besetzung in seinem vor 50 Jahren erschienenen Klassiker illustriert: Im November 1969 nimmt eine Gruppe von Ureinwohnern die kleine, vor San Francisco gelegene Felseninsel Alcatraz ein. Sechs Jahre früher war das berühmte aber marode Hochsicherheitsgefängnis geschlossen worden. Die Ureinwohner berufen sich auf alte Verträge, denen zufolge nicht mehr genutztes Bundesland an seine ursprünglichen Besitzer zurückfällt. Mehrere Familien richten sich auf «The Rock» ein, wie die Insel auch heisst, eröffnen

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Lebensstile verhandeln

Wer verlangt, die Regierungen sollten auf die Klimakrise mit der gleichen Entschlossenheit reagieren wie auf die Coronakrise, vergisst, dass die Staaten ohne eine Hygienebewegung, die Jahrhunderte zurückreicht, in diesem Bereich kaum Machtbefugnisse besässen. Die Klimabewegung muss für klimaverträgliche Lebensstile ähnlich konkret Ansprüche formulieren, um am Verhandlungstisch nicht übergangen zu werden. Am 17. April 2020 steht eine Frau im roten T-Shirt und mit blau getönter Sonnenbrille in Huntington Beach, Kalifornien, vor einer Filiale der Eiscrème-Kette «Baskin-Robbins» und hält neben einer Amerikaflagge ein Schild in die Kamera: «Gebt mir Freiheit oder gebt mir den Tod». Zusammen mit zahlreichen teilweise rechtsextremen Trump-Fans protestiert die Frau gegen den rund einen Monat früher staatlich verordneten Lockdown. Lieber würde die Frau mit dem Schild an Covid-19 sterben, scheint sie zu sagen, als dass sie die Freiheit aufgäbe, wann immer es ihr passt, Eiscreme zu konsumieren. Welch kompromisslose Verteidigung eines Lebensstils! 1992 schickt der amerikanische Präsident George

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Meer, nicht weniger

Wir leben in Zeiten des Immer-mehr. Immer mehr Menschen fordern darum weniger. Doch dieses Weniger hat seine Tücken. Es stellen sich Fragen: Weniger wovon? Und wessen Meer? Ein Essay. Wir kennen die Form des Immer-Mehr bis zum Abwinken: Wachstumskurve über Wachstumskurve, nur die Einheiten variieren: Bruttoinlandprodukt, Rohstoffgewinnung, Energieverbrauch, Personenkilometer, Düngemitteleinsatz etc. Und gleichzeitig steigt die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre, die Versauerung der Ozeane, der Biodiversitätsverlust, die Abfallmenge. Seit den 1950er-Jahren krümmen sich viele dieser Kurven steil und steiler nach oben. Die Forschenden um den Berner Umwelthistoriker Christian Pfister nannten das vor über 25 Jahren ein «1950er-Syndrom». In jüngerer Zeit wird auch von einer «Grossen Beschleunigung» (great accelleration) gesprochen. Erdwissenschaftler sehen in der Mitte des 20. Jahrhunderts den Beginn einer neuen Epoche, des Anthropozäns – der Mensch, so ihre Erkenntnis, ist zu einer geologischen Kraft geworden. Das Immer-Mehr verändert unseren Planeten in seinen Grundfesten. Zur Illustration: Eine Gruppe von Forschern um

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