Vielleicht rührt das besonders ausgeprägte Interesse der Bieler Bevölkerung am Fremden, am Ungewohnten und am Exotischen daher, dass Biel-Bienne im Laufe der Geschichte zu einer echt zweisprachigen Stadt geworden ist. Und natürlich auch, weil diese Stadt im letzten Jahrhundert dank der Uhrenindustrie mit der ganzen Welt in Verbindung gekommen ist. Dies hat die Bereitschaft, über die Stadt-, Kantons- und Landesgrenzen hinaus aufeinander zu zu gehen, zum Charakteristikum von Biel werden lassen.
Vor zwei Jahren sind wir nach Biel umgezogen, in die kleinste Metropole der Welt, so höre ich manchmal. Immer wieder ergeben sich erstaunliche Eindrücke von Multikulturalität, von Vielfalt, von Mannigfaltigkeit. Mir gefällt es hier! – Ein Vergnügen jedesmal, wenn ich am Zentralplatz oder beim Bahnhof beobachte, wie die unterschiedlichsten VerkehrsteilnehmerInnen ineinander verwoben sich in alle Richtungen bewegen… Fliessend in vernünftigem Tempo verkehren Busse vom und zum Bahnhof über den Zentralplatz… Gebremste Autos und Motorräder lassen den Vortritt auch ohne Ampeln… FussgängerInnen traversieren mühelos und frei von gelben Streifen… E-Bikes und Velos, auch Rollbretter und E-Trottinetts füllen die beweglichen Lücken…
Und dazwischen die unterschiedlichsten Menschen, die den Platz und die Strassen beleben. SchülerInnen, Ältere, mehr oder weniger Pressierte mit und ohne Einkaufstaschen, laute Jugendliche und stille Nachdenkliche sind kurz in meinem Blickfeld und gehen weiter. Modisch gekleidete Menschen, reichere und auch sichtbar ärmere Leute sind da, städtische Beamte und Arbeiter, Angestellte – und alles fliesst ineinander, zuvorkommend (mit wenigen Ausnahmen), oft sogar mit einem Lächeln. Und ganz selbstverständlich für Biel-Bienne: hellhäutige und dunkelhäutige Schüler und Schülerinnen, locker miteinander Schweizerdeutsch oder Französisch kommunizierend. Oder schwarze Frauen in auffällig bunten Röcken (manchmal auch ihre Männer in farbigen Hemden). Oder Frauen und Töchter mit Kopftüchern, tibetstämmige Menschen oder sonst asiatischer Herkunft, solche, die ihren nordafrikanischen Hintergrund stolz zeigen, Latinos aus Südamerika… alle offensichtlich vertraut mit Biel-Bienne, ganz selbstverständlich ihren Alltagspflichten nachgehend.
Lächeln im Alltag
In Biel habe ich wieder gemerkt, was ein Lächeln bringt. Ich bin mit dem Velo unterwegs, als eine Asiatin mittleren Alters die Strasse queren will. Wir nehmen Augenkontakt auf und entscheiden nach kurzem Zögern, dass ich einen kleinen Bogen nach links mache und wir so ohne Bremsmanöver aneinander vorbeikommen – mit einem wohlwollenden Lächeln beiderseits. Am Podringfest beobachte ich, wie zwei Afrikanerinnen mit ihren halbwüchsigen Kindern lachend und spielerisch die weggeworfenen Depot-Plastikbecher vom Platz und aus den Abfallbehältern rausfischen – ein Wettlauf, ein Spiel, ein Vergnügen, und als ich dann mich animiert fühle, ihnen meinen eigenen Becher zu überlassen, ist die fröhliche Dankbarkeit nicht zu übersehen und die Freude ansteckend. Ein weiteres Beispiel: am Bahnhof in der Haupthalle eine jüngere weisse Frau, sauber und bieder gekleidet, eher mager und bleich, mit einem schweren hängenden Rucksack, nähert sich einer schwarzen, gut und modisch gekleideten Frau, vielleicht eine Studentin – ob sie vielleicht eine milde Gabe machen möchte? Sie erhält nach kurzer Unterhaltung einen Batzen von der Bielerin mit afrikanischem Hintergrund, und dies mit einem vollmundigen schwesterlichen und verständnisvollen Lächeln. Solche Szenen erlebe ich in Biel-Bienne, und das tut mir gut.
Einkaufen und Ausgehen
An die Bedienung in Biels Ladengeschäften habe ich mich schon fast gewöhnt: wenn ich als Deutschschweizer manchmal zunächst auf Französisch angesprochen werde, dann geht das Gespräch an der Ladenkasse entweder nahtlos ins Deutsche über oder die Verkäuferin nimmt mein doch recht holpriges Französisch wohlwollend an.
In der Stadt lockt eine hervorragende internationale Gastronomie für jedes Budget: französische, italienische, spanische, türkische Lokale gibt es schon lange, in den letzten Jahrzehnten sind solche aus dem Balkan, aus Indien, aus China und Südamerika dazugekommen. Falls ich selber etwas Besonderes kochen will, dann finde ich die ausgefallensten Spezialitäten in grossen Ladengeschäften Biels: von Maniok, Linsen, Früchten, frischem und eingemachtem Gemüse bis zu Trockenfisch, heissen Chilischoten und allen möglichen Gewürzen ist einfach alles da.
An den Grossanlässen wie Podring, Braderie, Lakelive oder First Friday wird die Stadt erst recht bunt und vielfarbig: an den Essensständen ist von peruanischen Empanadas, thailändischen Reis-Gemüse-Gerichten, afrikanischen Fleischspiessen bis zu tibetischen Momos alles zu haben. Auf den Bühnen und Strassen sind brasilianischer Bossa Nova, afrikanische Trommeln oder Tuareg-Gesang zu hören. Reggea, indische Sitar oder Romaklänge aus dem Balkan klingen an. Und die Kleider sind noch bunter, die Lebensfreude noch spürbarer und das Lachen noch freier. Kurz: ich bin begeistert.
Kehrseiten
Wenn ich nun gar euphorisch werde, so weiss ich natürlich auch, dass mit dieser Vielfalt nicht alles einfach harmonisch ist, dass es auch Leute gibt, die der ganzen Multikulturalität nicht viel abgewinnen können. Menschen, die gleich besorgte oder schlimme Befürchtungen haben, wenn sie von Fahrenden in Wileroltigen oder bei der Tissot-Arena hören. Leute, die gar nichts von Aufnahme und Integration und Willkommenskultur wissen wollen, wenn etwa das Rückkehrzentrum Bözingen geschlossen werden soll, weil es den grundlegenden menschenrechtlichen Anforderungen nicht zu genügen vermag. Ich will die problematischen Seiten der vielfältigen bevölkerungsmässigen Begegnungsmöglichkeiten keineswegs ausblenden, wie etwa unterschiedliche Pünktlichkeitsverständnisse, verschieden lautes Verhalten, ungleiche Spontaneität. Und auch die zuwanderungsbedingten Kosten für Schulen, Wohnen, Gesundheit und soziale Fürsorge können Sorge machen. Doch wenn ich an Biel-Bienne denke, dann bin ich überzeugt, dass kulturell, gastronomisch, musikalisch, kommunikativ und auch sozial so viel Schönes dabei ist, dass sich etwas gegenseitige Toleranz und Grosszügigkeit auf jeden Fall lohnen. Gerade deswegen schätze ich diese Stadt!
Text und Foto:
Göpf Berweger (77), hat Oekonomie und Soziologie studiert und war beruflich für verschiedene NGOs in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Er ist Mitbegründer der Gesellschaft für bedrohte Völker (Schweiz) und lebt seit zwei Jahren in Biel.