Urbanismus

Das Dorf in die Stadt holen

Funktionierende Ideen für Wohnformen der Zukunft gibt es eine Menge. Agglolac ist keine davon. Gegen nachhaltige Konzepte wie das von „Neustart Schweiz“ sieht die heutige Planung alt aus.

Den Nachbarn knapp grüssen, vielleicht ein paar höfliche Worte austauschen. „Wie geht’s den Kindern?“ Man beschwert sich über den Mieter aus 3b. Wenn’s hoch kommt, liegt ein gemeinsames Glas Wein auf der Terrasse drin.

Der Nachbarschaft wird heute beim Bau neuer Siedlungen wenig Beachtung geschenkt. Das ginge auch anders. Anstatt auf das Treppenhausgespräch und ein gelegentliches Quartierfest beschränkt zu sein, könnten in einer Nachbarschaft auch neue soziale Strukturen und wirtschaftliche Funktionen entstehen. Das ist die Vision des Vereins „Neustart Schweiz“. Er sieht die Nachbarschaft grösser. Rund 500 Personen seien ideal, um eine Nachbarschaft zu bilden. In der grösseren Gruppe wiegen Konflikte weniger schwer, ohne dass Zusammenhalt verloren geht. Im Kern der Nachbarschaft gibt es alles für die Grundversorgung.

Neben Quartierladen, Begegnungszentrum und einem Restaurant umschliesst das auch die Kinderbetreuung und ein medizinisches Zentrum. Weiter gibt es eine Kooperation mit Landwirtschaftsbetrieben. Der Bauer aus dem Umland liefert frisches Gemüse und Fleisch. Die Bedürfnisse des täglichen Gebrauchs müssen in kurzer Distanz erreichbar sein. Für weniger alltägliche Anschaffungen wie beispielsweise Elektrogeräte gibt es Angebote im Quartier. Das Quartier wiederum ist optimal an den öffentlichen Verkehr angeschlossen. Durch die verdichtete Bauweise braucht es weniger Strassen.

So entsteht eine nachhaltige, soziale und solidarische Lebensform, die gleichzeitig den immensen Vorteil mit sich bringt, das Leben zu vereinfachen. Es gilt, die Sonnenseite des urbanen Lebens mit den Vorteilen des Landlebens nachhaltig zu verbinden. Dann ist es gelungen, das Dorf in die Stadt zu holen.

Eine Utopie mit Zukunft

Das Konzept von „Neustart Schweiz“ ist eine Utopie mit Zukunft. Mehrere Gruppierungen in der Schweiz haben diese Vision bereits in konkrete Projekte übernommen. So hat beispielsweise die Zürcher Bau- und Wohngenossenschaft NeNa1 zum Ziel, ihre anonymen Siedlungen in multifunktionale Nachbarschaften umzubauen. Sie will mit diesem Schritt einerseits die Zersiedelung stoppen und den individuellen Mobilitätsstress gleich mit zurückstutzen. Solche Nachbarschaften sollen Ökologie und Lebensqualität, ein reichhaltigeres Leben und mehr Komfort miteinander verbinden.

In Basel wurde 2015 die Bau- und Wohngenossenschaft LeNa gegründet, die ebenfalls im Sinne von „Neustart Schweiz“ bauen will. Sie verspricht sich mehr Wohnkomfort und Effizienz dadurch, verschiedene Nutzungen gezielt zu bündeln. In einer sozial und ökologisch integrierten Nachbarschaft kann der übliche Fehler, durch verstreute Nutzungen eine Menge Fläche und Energie zu verschwenden, vermieden werden. So entsteht ein neues, lebendiges Zentrum und eine gemeinsame Infrastruktur zum Nutzen aller.

Auch in der Romandie ist diese Idee angekommen. Unter dem Namen „voisinage 2300“ werden 500 Personen gesucht, die an einem entsprechenden Projekt in La-Chaux-de-Fonds teilhaben wollen.

Quartier- statt Siedlungsplanung

Die Planung von Agglolac hingegen mutet rückschrittlich an, wenn die Vision von „Neustart Schweiz“ als Vergleich dient. Auf der Webseite der Projektgesellschaft stechen trotzdem als Erstes zwei Bilder ins Auge: Auf dem einen wird idyllisches Gitarrenspiel an der Ländte suggeriert, auf dem anderen tummeln sich Skateboarder am Hafen. Sie alle sind jung, hip, wohl kreativ und sportlich, genau wie die Sprüche: „Bühne frei für das Seequartier“, „Vielfalt im Seequartier“ oder „Promenade sans frontière“. Der Eindruck drängt sich auf, Agglolac sei für alle da. Tatsache ist indes, dass hier für ein höheres Preissegment gebaut werden soll. Dass der Raum zwischen den Bauten dann so öffentlich genutzt werden kann, wie es bis anhin möglich ist, wirkt unrealistisch.

Dass Agglolac für ein höheres Preissegment gebaut wird, zeigt sich besonders deutlich beim Umgang mit dem Thema „gemeinnütziger Wohnungsbau“. Im Projekt Agglolac ist heute ein Anteil von 15 Prozent für den gemeinnützigen Wohnungsbau vorgesehen. Es ist aber nirgends verbindlich festgelegt, dass dieses Versprechen auch umgesetzt werden muss. Im Plan zur Teiländerung der baurechtlichen Grundordnung findet sich auf jeden Fall kein zusammenhängendes Baufeld mit einer Nutzungsbeschränkung zugunsten des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Zudem ist fraglich, ob die Wohnbaugenossenschaften bei den geplanten Rahmenbedingungen die finanziellen Verpflichtungen überhaupt tragen könnten. Es ist zu befürchten, dass es bei Lippenbekenntnissen der Projektgesellschaft bleibt und erschwinglicher Wohnraum in Agglolac ein Wunschtraum bleibt.

Allein diese beiden Punkte zeigen auf, dass beim heute vorliegenden Projekt grosser Verbesserungsbedarf besteht. Von einer nachhaltigen, zukunftsträchtigen Nachbarschaft, wie sie „Neustart Schweiz“ vertritt, sind wir am Bieler Seeufer heute meilenweit entfernt. Und: Schlechte, sprich gescheiterte Verdichtung, wie sie bei Agglolac der Fall wäre, verhindert auch gute Vorhaben. Es braucht eine Quartier- anstelle einer Siedlungsplanung. Zudem gefährdet dieses Bauprojekt eines der wenigen Bieler Naherholungsgebiete. Überlegen wir uns lieber zweimal, wenn nötig auch dreimal, was wir mit unserem wertvollen Seeufer machen wollen. Hier bietet sich eine einmalige Chance, den See attraktiv zu gestalten. Machen wir es besser, für die Bevölkerung, für Biel, für Nidau.

Lena Frank, 28, ist Stadträtin der Grünen in Biel und wohnt in einer verdichteten Generationensiedlung der Stiftung Abendrot.

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