Bereits vor über 100 Jahren eingefordert, aber erst vor 32 Jahren eingeführt: Dass es den Zivildienst heute gibt, ist keine Selbstverständlichkeit. Es brauchte manch Mutigen, der hin stand und den Dienst verweigerte. Tausende gingen dafür ins Gefängnis, dass sie nicht lernen wollten, im Konfliktfall zu töten. Ein Blick zurück, der den Autor insbesondere zu Exponenten aus der Region führt, die sich auf unterschiedliche Weise für einen Zivildienst stark machten und couragiert für Frieden einstanden.
Denke ich an jenen Moment im September 2006 zurück, als ich mit damals 21 Jahren zur Gewissensprüfung erscheinen musste, durchläuft mich ein Schauer. Vor mir die Zulassungskommission, fünf Männer und Frauen mindestens, alle Augen auf mich gerichtet. Ziel der Befragung: mein Gewissen zu durchleuchten. Freilich: ich war gut vorbereitet, hatte selbst in einem zweiseitigen Gesuch eindringlich dargelegt, warum ich einen Militärdienst nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann und den Gebrauch von Waffen zur Konfliktlösung ablehne. Ich hatte mich beraten lassen und wusste, dass ich die Antwort auf all zu intime Fragen auch ablehnen durfte. Und doch: die Anhörung ging mir nahe, war sehr persönlich.
Verrückt, denke ich heute, sich derart „ausziehen“ zu müssen, um den friedlichen Weg gehen zu dürfen. Ich hatte mich von Anfang an für den Zivildienst entschieden und alles gegeben, um „tauglich“ zu sein. Ich war in einer Hundertschar junger Männer nur einer von Drei oder Vier, die an diesem Wochenende in Summiswald direkt nach der Aushebung zur Anhörung gingen, die nicht zuerst doch die Rekrutenschule ausprobieren wollten und auch nicht mit einem psychologischen oder medizinischen Attest auf „untauglich“ machten. Ich fühlte mich zwar ausgestellt, und doch stark, mutig und voller Überzeugung.
Jetzt, fast 20 Jahre später, beschäftige ich mich für diese Nummer wieder mit Militärdienstverweigerung – und sehe in die Geschichte eintauchend die wahre Dimension dieser Bewegung, und die wirklich Mutigen: Männer, wie mein Vater, die sich für Frieden einstehend einsperren liessen. Sie hatten gar keine andere Wahl, ein Zeichen zu setzen. Zivildienst gab es noch nicht, auch wenn bereits 1903 Pfarrer Paul Pettavel erstmals eine Petition zur Schaffung eines Zivildienstes eingereicht hatte. Erst viele gescheiterte Vorstösse später, gelang 1991 im Rahmen der sogenannten Barras-Reform, einer Revision des Militärstrafgesetzes, die Einführung eines Arbeitsdienstes für Dienstverweigerer, wie im Historischen Lexikon der Schweiz nachzulesen ist. Nur ein Jahr später wurde eine auf Helmut Hubacher zurückgehende Eingabe zur Einführung des Zivildienstes durch Verfassungsänderung mit 82,5% Ja-Stimmen vom Volk gutgeheissen.
Aber eben: davor bedeutete Ablehnung des Militärdienstes, Dienstverweigerung und also Knast und gesellschaftliche Ausgrenzung. Mein Vater schrieb im Oktober 1978 – als er sich gegen die Angst vor Vaters und Grossvaters Zorn und Enttäuschung durchgerungen und bereits Rekrutenschule und 5 WKs (Wiederholungskurse) durchgemacht hatte – wortgewandt an die zuständigen militärischen Stellen: „Ich lehne das Töten und das Tragen einer Waffe ab. Ich glaube an den gewaltfreien Weg zum Frieden, an die gewaltfreie Lösung von Konflikten.“ Und weiter so aktuell als wäre es heute: „Ich verurteile die riesige weltweite Aufrüstung, die wenigen Reichtum und vielen Elend bringt. Die Armee ist ein Produkt der entgegengesetzten Haltung, die das Töten bejaht, die an die gewaltsame Bewältigung von Konflikten glaubt, die Aufrüstung verharmlost und sie als notwendiges Übel zur Friedenssicherung durch Abschreckung bezeichnet. Ich verweigere darum von heute an den Militärdienst und die Unterstützung der militärischen Landesverteidigung.“ Er wusste, was er tat und was ihm drohte: „Ich mache einen Schritt, der in der Schweiz immer noch aussergewöhnlich und verboten ist, der mit Gefängnis und Ausschliessung von Ämtern bestraft wird…“ Aber er war nicht allein, hatte sich mit sechs anderen Männern zusammengeschlossen, liess die Verweigerung zur Aktion werden: Gemeinsam gaben sie noch im gleichen Monat dem Eidgenössischen Militärdepartement eine Erklärung zur Militärdienstverweigerung ab und hielten darin fest:
„Wir setzen Frieden nicht mit Abschreckung gleich. Frieden ist für uns die Herausforderung, immer neu an einem gewaltfreien Zusammenleben zu wirken. Wir fordern deshalb einen Zivildienst, der die Möglichkeit schafft, in diesem Sinne zu arbeiten.“
In seinem eigenen Brief hatte mein Vater verdeutlicht: „Ich bin bereit meine Dienstpflicht in einem solchen Zivildienst zu erfüllen.“ Militärdienstverweigerung sei nur möglich und nötig solange es keine andere Möglichkeit gäbe, einen Dienst am Staat zu leisten. „Ich begreife nicht, warum wir wegen unserer Überzeugung bestraft werden; es ist ein Menschenrecht, sich zu weigern, gegen sein Gewissen handeln zu müssen.“
Genützt hat diese Argumentation freilich nichts. Am 1. Juli 1980 musste auch er – seine fünf Mitstreiter waren bereits zu gesamthaft 28 Monaten Gefängnis verurteilt worden – sich im Amthaus in Biel vor einem Militärgericht verantworten, „vor einem Gericht, das mich verurteilen muss, um nicht selber in den Verdacht der Dienstverweigerung zu kommen“, wie er in der Einladung an seine Freunde und Verwandten schrieb.
Das alles beeindruckt mich. Mein Vater aber meinte kürzlich, als er mir die Unterlagen von damals gab, dass in seiner Erinnerung eigentlich nur eines richtig Mut gebraucht habe: am Ende seines Prozesses das Lied „Die Gedanken sind frei“ anzustimmen: „Das war ein starker Moment, der mich viel Überwindung gekostet hat.“
Ebenfalls mit einem Lied sorgte zwei Jahre später ein gewisser Franz Hohler – geboren 1943 in Biel – für Aufsehen. In der satirischen Fernsehsendung „Denkpause“ äusserte sich der Autor, Liedermacher und Kabarettist damals pointiert zu aktuellen Themen, die ihn beschäftigten. Beim Thema „militärisches Denken“ ging er aus Sicht des Schweizer Fernsehens zu weit, als er die aufgezeichnete Sendung dazu mit seiner Mundartübersetzung von Boris Vians Anti-Kriegs-Chanson „Le déserteur“ abschloss: „Dr Dienschtverweigerer“. Zu polemisch, zu provokant, befanden die Fernsehmacher und beschlossen die 38. Episode im Oktober 1983 nicht auszustrahlen. Das wiederum war Hohler zu viel. Er verstand es als Zensur und zog sich umgehend von der Sendung zurück.
Franz Hohler singt in seinem Lied:
„Herr Oberschtdivisonär
i wirde nid Soldat
vollbringe ke Heldetat
i eusem Militär
S sell nid persönlech sy
doch hani mi entschlosse
s wird weder zylt no gschosse
i rücke gar nid y.“
Genau das hatten Anfang der 1970er-Jahre auch 32 welsche Priester und Pfarrer beschlossen und damit ein Zeichen gesetzt, das nicht ohne Wirkung blieb. Politik und Presse reagierten heftig. Das wiederum veranlasste den Arbeitskreis Kritische Kirche im Kanton Bern zu einer Stellungnahme, die gleich ein ganzes Büchlein ergab. „Bieler Manifest – Ueber die Situation unserer Armee“ heisst es und wurde an einer Versammlung vom 5. März 1972 in Biel von 62 anwesenden Mitgliedern bearbeitet und angenommen – und schliesslich in einer Auflage von 4000 Exemplaren veröffentlicht. Auf 14 dicht beschrieben Seiten wird darin kein Blatt vor den Mund genommen.
Besonders ist mir Kapitel 2 „Unsere Zukunft heisst Frieden“ ins Auge gestochen. Dort steht: „Frieden ist herstellbar: Er ist die Zukunft der Welt und des Menschen. Der status quo ist Unfriede und hat keine Zukunft. Er bereitet den Untergang der Menschengattung vor, verbraucht unbarmherzig die Güter und Ressourcen, die Leben erst möglich machen, ja er verbraucht den Menschen selbst.“ Und nach einiger Konsumkritik und dem Aufzeigen ungerechter Besitzverhältnisse: „Die Armee sichert heute nicht den Frieden, sondern die bestehende Friedlosigkeit.“
Im Kapitel „Eine echte Alternative zum Militärdienst ist erforderlich“ geht es dann um Lösungen: „Ein Zivildienst als Friedensdienst, Friedenserziehung und Friedensvorbereitung muss in unserem Staat die Alternative zum Militärdienst werden. Zwischen Zivildienst und Militärdienst soll frei gewählt werden können. Kann Militärdienst aus Gewissensgründen geleistet werden, so erst recht ein Zivildienst.“
Es sollte noch 20 Jahre dauern, bis überhaupt ein Zivildienst eingeführt wurde, von einer freien Wahl ganz zu schweigen. Noch heute, über 50 Jahre nach Publikation des Bieler Manifests, müssen Zivildienstleistende den sogenannten Tatbeweis erbringen, in dem sie 1,5-mal so lange Zivildienst leisten wie sie Militärdienst leisten müssten. Soweit sind wir also. Und statt Freude zu haben an der Beliebtheit und der Wirkung des Zivildienstes – mit 1,8 Mio. (+ 6,2%) Diensttagen wurden 2023 seit seiner Einführung so viele Einsätze geleistet wie noch nie – fürchtet man sich auf politischer Ebene vor einer zu hohen Abwanderung aus der Armee. Mit sechs Massnahmen, die vor allem auf jene abzielen, die nach der Rekrutenschule in den Zivildienst wechseln möchten, will der Bundesrat aktuell „die Zulassungen zum Zivildienst senken“, wie er am 1. März 2023 verkündete. Die Vernehmlassung zu einer entsprechenden Änderung des Zivildienstgesetzes ist eröffnet.
Arthur Villard (1917 – 1995), ein weiterer Vorkämpfer für den Zivildienst, würde, wenn er noch lebte, dagegen bestimmt seine Stimme erheben, dieser unerschrockene Bieler Lehrer und Politiker. „Unermüdlich kämpfte er für Frieden und beidseitige Abrüstung im Kalten Krieg“, schrieb der Publizist Paul Ignaz Vogel über ihn. Villard engagierte sich unter anderem für die Schweizerische Bewegung gegen die atomare Aufrüstung, war erster Präsident des 1963 gegründeten Schweizer Zweigs der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) und redigierte die dreisprachige Aktionszeitung „Der Kriegsdienstgegner“. Er war ein guter Redner, aber auch einer, der zu handeln wusste.
1965 verweigerte Villard um seiner Forderung nach einem Zivildienst Nachdruck zu verleihen und um sich mit den damals zu unbedingten Haftstrafen verurteilten Militärdienstverweigerern zu solidarisieren seinen letzten Wiederholungskurs. Er verbüsste dafür eine Strafe von 45 Tage in der berüchtigten kantonalbernischen Strafanstalt Witzwil, wie im Schweizerischen Sozialarchiv steht. Das schreckte ihn nicht ab, 1969 an einer Grosskundgebung gegen den Besuch des Oberkommandierenden der US-Streitkräfte im Vietnam, General William Westmoreland, auf dem Bundesplatz dessen Kriegsverbrechen anzuprangern und die Möglichkeit zu erwähnen, den Militärdienst aus Protest und Solidarität zu verweigern. Abermals musste Villard ins Gefängnis – wegen Aufrufs zur Dienstverweigerung.
Das wiederum führte dazu, dass ihm noch zu Lebzeiten kein geringerer als Friedrich Dürrenmatt ein Denkmal setzte. In seinem Schweizerpsalm III schreibt er:
„Armer Villard
Das Töten verurteilend
Wirst du von einem Lande verurteilt
Das aus dem Töten Profit zieht.
Deine Lauterkeit sei unser Vorbild.
Deine Tapferkeit werde die unsrige.“
Und nun wird bald gar eine Strasse nach Villard benannt. 2020 beschloss der Bieler Gemeinderat, dass der neue öffentliche Freiraum, der im Zentrum von Mett zwischen Poststrasse und Gottfried-Ischer-Weg entsteht und 2025 eingeweiht wird, den Namen «Arthur-Villard-Promenade» tragen soll. Zurück geht dies auf ein überparteiliches Postulat des Bieler Stadtrats Fritz Freuler, mit dem dieser 2017 forderte: „Dieser mutige Mann, vorbildliche Politiker und anerkannte Pädagoge verdient es, dass eine Strasse oder ein Platz in Biel-Bienne nach ihm benannt wird, um die Erinnerung an ihn wach zu erhalten“.
Er ist einer von vielen, die sich nicht unterkriegen liessen, mutig ihre Meinung kundtaten und Zeichen setzten. Ihnen haben wir zu verdanken, dass es heute eine Alternative zum Militärdienst gibt: den Zivildienst. Bis zur freien Wahl ist es noch ein Stück des Weges.
Weiterlesen:
„Bieler Manifest – über die Situation unserer Armee“ – auf Anfrage einzusehen auf der Redaktion von Vision 2035.
- „Ein Leben für Frieden und Gerechtigkeit“ – Ein Nachruf auf Arthur Villard unter www.friedensrat.ch/nachrufe/
- „Arthur Villard 1917-1995, ein Leben für Frieden und Gerechtigkeit“ – zweisprachige Broschüre zum Leben und Wirken von Arthur Villard. Kann in der Stadtbibliothek ausgeliehen werden.
- „Reduktion der Zulassungen zum Zivildienst: Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens“ – Medienmitteilung des Bundesrates vom 1.3.2023 unter https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-100260.html
- „Dienstverweigerung“ – Eintrag im Historischen Lexikon der Schweiz: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008678/2020-06-12/
Text:
Janosch Szabo, Mitglied der Kernredaktion von Vision 2035, hat aus fester Überzeugung 390 Tage Zivildienst geleistet – auf dem biologisch-dynamischen Bauernhof Falbringen in Biel, bei der Stiftung Wirtschaft und Ökologie in Schwerzenbach und auf dem Bergbetrieb Pré-la-Patte oberhalb von Péry.
Illustration:
Hände zerbrechen Gewehr: Das einem der ursprünglichen Symbole nachempfundene Logo der heutigen Internationale der Kriegsgegner/innen (IdK)