Um herauszufinden, wie es den Jugendlichen im Kanton Bern geht, hat Vision 2035 mit einer Sozialarbeiterin gesprochen. Ein Interview über Jugendliche am Limit, Pflästerlipolitik und Sparmassnahmen, aber auch mit optimistischen Aussichten.
Wie geht es den Jugendlichen im Kanton Bern?
Nicht gut. Auf der emotionalen und psychischen Ebene erleben viele Jugendliche eine Überforderungs-Situation. Im Notfallzentrum, in dem ich arbeite, haben sich die Aufnahmen auf der stationären, geschlossenen Jugend-Abteilung der Krisenintervention seit Covid mehr als verdoppelt. Man muss diese Jugendlichen vor sich selbst schützen, weil sie sich sonst umbringen würden. Das sind wirkliche „Hoch-Krisen“, nicht einfach nur ein „es geht mir nicht so gut/ich fühle mich gerade nicht so gut“. Diese Jugendlichen sind durch sich selbst an Leib und Leben bedroht.
Was sind das für Jugendliche?
Das sind Jugendliche kreuz und quer durch alle Bevölkerungsschichten.
Auffallend ist, dass es Jugendliche sind, welche schon Vorverletzungen haben, also vulnerabel sind. Dies in verschiedenen Bereichen, z. B. wo das Familiensystem bereits Erfahrung mit der Psychiatrie gemacht hat oder die Eltern schon gewisse Auffälligkeiten haben. Das muss aber nicht sein: es können auch Familien sein, bei denen im direkten Kontakt keine Anzeichen für eine Belastung sichtbar sind und die Situation für die Jugendlichen dennoch nicht aushaltbar ist. Gerade auch während Covid konnten viele Leute, auch Selbstständige, plötzlich nicht mehr arbeiten, hatten Geldprobleme und waren in ihrer Existenz bedroht; das überträgt sich auf die Jugendlichen und wird sofort schwierig.
Kannst Du noch mehr über die Ursachen sagen, weshalb es so vielen Jugendlichen schlecht geht?
Wir überlegen uns das natürlich oft! Meine Erklärung ist, dass die ganze Gesellschaft etwas grenzenlos geworden ist.
Das Jugendalter ist ein Alter, in dem du klare Rahmen benötigst, innerhalb deren du dich bewegen kannst. Heutzutage kannst du ausprobieren, Erfahrungen sammeln, aber die Rahmenbedingungen sind nicht mehr klar. Von der Schule bis zu den Ausbildungen: du hast 280 Studiengänge zur Auswahl! Du musst so früh so viele Entscheidungen treffen. Auch das Geschlecht ist heute verhandelbar: fühlst du dich als Mann, als Frau oder was denn sonst? Es ist nichts mehr klar.
Viele Jugendliche sagen „ich halte mich nicht aus“; sie können ihre Emotionen nicht regulieren. Entweder spalten sie sich ab und spüren gar nichts mehr oder sie sind geflutet von ihren Emotionen. Sie haben verlernt oder gar nie gelernt, wie man mit positiven oder negativen Emotionen funktionsfähig bleibt.
Kommen die Jugendlichen selbst zu euch, oder die Eltern, oder sogar die Polizei?
Alles, was man sich vorstellen kann: es gibt viele Jugendliche, die sich selbst melden. Das sind aber die, die schon von uns wissen. Dann gibt es Jugendliche, die in Institutionen untergebracht sind, wo die Heimleitung entscheidet: „Jetzt geht’s nicht mehr, jetzt brauchst du einen anderen, einen klinischen Rahmen…“. Wir haben viele fremdplatzierte Jugendliche. Und manchmal bringt die Polizei Jugendliche in Handschellen, Fussfesseln; die kommen zum Teil recht runtergedimmt herein, gerade wenn sie fremd-aggressiv auftreten.
Ist es nicht viel zu spät, wenn die Jugendlichen zu euch kommen? Müsste man sie nicht lange vorher unterstützen oder eingreifen?
Vieles wird versucht. Mit Unterstützung der Familien, oder in der Schule mit Schulsozialarbeit: überall probiert man; es ist eine Pflästerlipolitik. Aber es fehlt wirklich an einer Ausrichtung in der Gesellschaft; die aktuelle heterogene Gesellschaft bietet wenig an Orientierung und Sicherheit für Heranwachsende.
Die ganze Umwelt, das Klima: das ist ein Riesenthema und eine weitere Verunsicherung. Wenn ich das alles überlebe: was kommt dann für eine Welt? Habe ich eine Zukunft, will ich einmal Familie? Ist das überhaupt richtig? Sie haben ganz existenzielle Fragen.
Eine Art tiefe Sinnkrise?
Ja, und es ist schwierig, das mit einzelnen Massnahmen zu beheben oder zu vereinfachen.
Es braucht sicher viel Aufklärung, Unterstützung von Lehrbetrieben, Schulen, etc., ohne dass man die Jugendlichen von dort entfernen müsste, wo sie sind. Und dass die Leute, die den Alltag mit diesen Jugendlichen verbringen, wissen, wie handeln, ihnen einen Rahmen und Sicherheit geben.
Wir sind letztlich alle gefordert: wenn uns etwas im öffentlichen Raum auffällt, dass wir da auch etwas sagen und nicht einfach denken „das ist nicht mein Problem“.
Haben die Jugendlichen nicht Recht, wenn sie verzweifeln? Die ganze Welt ist am Limit, wir haben Ressourcen-, Umwelt-, und Klimaprobleme…
Ja, das schwächste Glied reisst und das sind hier die Kinder und Jugendlichen. Was sie in eine lebensgefährliche Situation bringt, ist, dass sie das nicht handhaben können. Sie müssen lernen, mit schwierigen Situationen und Gefühlen umzugehen, ohne sich überfluten zu lassen; das ist schwierig und braucht Zeit.
Kommt man überhaupt an die Jugendlichen ran, die abgelöscht sind und keinen Sinn mehr sehen, sich vielleicht verkriechen?
Nun, zu uns kommen sie erst in Krisen, wenn sonst nichts mehr geht. Lange vorher wär’s gut, wenn die Leute, die mit diesen Jugendlichen im Alltag zu tun haben, Unterstützung hätten, um sie richtig zu coachen oder zu führen, aber nicht aus dem Alltag herauszureissen. Viele Jugendliche kommen zu uns und sagen „ich brauche unbedingt eine stationäre Therapie, es muss mir endlich besser gehen!“ Sie haben die Vorstellung einer Werkstatt „…und nach sechs Wochen komme ich geflickt heraus“, aber das passiert ja nicht, weil sie dorthin zurückgehen, wo sie hergekommen sind. Dort ist aber in der Zwischenzeit nicht viel passiert. Sie müssen lernen, in ihrem Umfeld mit sich und ihren Gefühlen umzugehen und nicht irgendwo anders.
Man sollte die Jugendlichen also nicht pathologisieren, also als krank betrachten, sondern sie in ihrem Umfeld unterstützen?
Genau. Und was natürlich auch passiert, konnte man in Studien nachlesen: es gibt Dinge, die sind irgendwie ansteckend. Wenn in einer Schulklasse eine anfängt zu ritzen, sind es plötzlich drei Wochen später ganz viele. Aber vielleicht macht’s nur eine wirklich zur Stressregulierung und die anderen machen’s einfach so ein wenig mit und hören dann auch wieder auf. Mit Suizid ist das auch so: ein Suizid kann weitere nach sich ziehen; das ist ein Mitreiss-Effekt. Auch deshalb ist es besser, Jugendliche möglichst in ihrem Umfeld zu lassen, wo weniger solche Vorfälle passieren.
Es gibt aber auch Angebote für aufsuchende Äquivalenzbetreuung zuhause, die eben äquivalent zur stationären Betreuung ist. Da werden die Eltern zuhause gecoacht und mit ihnen der Umgang mit Krisen angeschaut: was hilft bei diesem Jugendlichen und was hilft nicht? Alle haben andere Bewältigungsstrategien bei Krisen.
Sehr stossend fand ich die Debatte in diesem Frühling: Die Angebote für Jugendliche sind übervoll, aber Herr Regierungsrat Schnegg sagt, dass es nicht mehr Geld für die Psychiatrie und Pflege gibt, weil die Politik im 2023 Steuererleichterungen für’s Gewerbe machen möchte. Das ist ein Affront! Es braucht kurzfristig mehr Anlaufstellen für Jugendliche!
Was müsste passieren?
Da ist die Politik gefordert: es darf nicht sein, dass das Gesundheitssystem privatisiert wird; das war ein grosser Fehler. Das war Mitursache für die Probleme, die wir aktuell haben. Wir mussten sparen, sparen, sparen, Leute entlassen, Leute entlassen und die fehlen uns jetzt alle. Und das in einer Zeit, wo’s sowieso einen Mangel hat. Man hat Betten abgebaut und die fehlen uns jetzt. Nur damit die Zahlen am Schluss stimmen und der Politiker sagen kann „ich habe meinen Auftrag erfüllt“. Aber eigentlich geht das völlig an den Bedürfnissen der Gesellschaft vorbei. Es geht hier um eine öffentliche Aufgabe, nicht um Profit.
Wenn Jugendliche in der Jugendphase viel in der Jugendpsychiatrie sind, wird’s im Erwachsenenalter oft ähnlich weitergehen. Dann werden sie die Erwachsenenpsychiatrie belasten. Das ist nicht zielführend.
Ihr haltet Jugendliche davon ab, sich umzubringen. Wie gehst Du mit diesem Risiko um?
Das ist ein Risiko, das wir so klein wie möglich halten müssen. Wir entlassen die Leute nur, wenn wir die Einschätzung haben, dass sie nicht mehr selbstgefährdend sind. Dennoch ist manchmal ein flaues Gefühl dabei – wenn wir kein freies Bett mehr haben und jemanden zu früh entlassen, der sich vielleicht heute okay fühlt, aber vielleicht morgen nicht mehr… Wir können nicht einschätzen, wie das genau sein wird, wenn sie nach Hause kommen. Hätte man eine entspanntere Situation, würde man die Leute vielleicht noch eine Nacht behalten.
Es gibt Jugendliche, die sagen „mir reichen zwei Nächte, damit ich die Reizabschirmung hatte, mich erholen und distanzieren konnte“ und danach geht’s wieder. Manche leben schon lange mit solchen Krisen und können sich gut selbst einschätzen. Andererseits gibt es auch Jugendliche, welche mehr Zeit benötigen, bei denen ein längerer stationären Aufenthalt sinnvoll ist.
Schwierig ist die ganze Situation auch dadurch, dass alle abnehmenden Institutionen überfüllt sind, weil so viele Jugendliche in kritischen Situationen leben. Heisst: wenn bei uns jemand soweit stabil ist, dass er nicht mehr selbstgefährdend ist, dann gibt es keinen Ort, an den wir ihn zur weiteren Therapie geben können. Man findet kaum einen Kinder- und Jugendpsychiater, der noch Patienten aufnimmt. Und es gibt kaum noch Institutionen, die Platz haben; stationäre Aufenthalte sind auf Monate hinaus ausgebucht.
Was ist mit denen, die eingeliefert werden und so schnell wie möglich wieder raus wollen?
Sie müssen das Handy abgeben, haben keinen Kontakt mit der Aussenwelt, haben nichts und sind eingesperrt. Das zwingt zum Innehalten. Das kann manchmal etwas auslösen, worüber sie dann froh sind: „das war gut für mich“.
Was sich im Verlauf der letzten Jahre verändert hat, ist das Krankheitsbild der Jugendlichen: sie sind kränker. Früher haben ein, zwei Nächte zur Krisenintervention gereicht, dann sind sie nie mehr gekommen. Mittlerweile haben wir Jugendliche, die drei-, viermal jährlich kommen und eine längere Aufenthaltsdauer haben. Und das Krankheitsbild, das sie zeigen, ist nicht mehr einfach „ich habe etwas Schlechtes erlebt, deshalb geht’s mir jetzt nicht mehr gut“. Sie sind viel mehr auf vielen unterschiedlichen Ebenen überlastet, es geht mehr in Richtung Persönlichkeitsstörung und mit einer solchen kommt man nicht zur Welt.
Wie blickst Du in die nächsten paar Jahre?
Wir können keinen Einfluss darauf nehmen, wie viele Jugendliche kommen. Aber man versucht wirklich, die Jugendlichen zu unterstützen, mittels verschiedener Angebote, die fortlaufend entwickelt werden. Es werden mehr aufsuchende Angebote installiert.
Ich bin zuversichtlich, dass man politisch und auch im Betrieb durch interdisziplinäres Zusammenarbeiten zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, durch vernetzteres, systemischeres Denken längerfristig bessere Lösungen für die Jugendlichen erreichen kann, die tragfähiger sind.
Interviewte: Name der Redaktion bekannt.
Interview: Andreas Bachmann, Redaktion
Foto: Andreas Bachmann
2021: Alter 0-29: 127 vollzogene Suizide = 2.44 pro Woche! (gem. Bundesamt für Statistik)
Hilfe:
- 147 Nottelefon für Jugendliche
- Berner Gesundheit, Bahnhofstrasse 50, 2502 Biel, T 032 329 33 70 (auch Chat möglich)
- Kinder- und Jugendpsychiatrie UPD, Ambulatorium Biel, Kloosweg 24, 2502 Biel, T 032 328 66 99
- Kinderklinik Wildermeth, Spitalzentrum Biel, Vogelsang 84, 2501 Biel, T 032 324 13 65
- Notfallzentrum Kinder- und Jugendpsychatrie UPD, Bolligenstrasse 111, 3000 Bern 60, T 031 932 88 44