Nachhaltigkeit Ernährung

Wofür noch Kakao anbauen?

Wer hierzulande zu Schokolade greift, tut dies oft gedankenverloren. Auf der Caillertafel sehen wir Milchkühe und Alphörner, wissen aber selten, von wo die elementare Zutat, der Kakao, stammt; welche Menschen ihn unter welchen Bedingungen produzieren. Unsere Autorin hat für ihre Masterarbeit über die soziale Nachhaltigkeit im Kakaoanbau in Kolumbien drei Monate vor Ort geforscht. Sie ist dabei auf kämpferische Grossmütter und Enkel, die es wegzieht, gestossen.

März 2023. Landeanflug auf Cali im Südwesten Kolumbiens. Der Blick aus dem Fenster offenbart nebst der Millionenstadt im Hintergrund nur kilometerweite Zuckerrohrmonokulturen. Wo sind hier die Kakaobäume? Das hatte ich mir ganz anders vorgestellt. 

Ein paar Tage nach meiner Ankunft im Nordcauca Kolumbiens. Ein schwüler Morgen. Doña Betsabeth, 100-jährig, geht langsam durch ihre kleine Kakaoplantage, 1.5 Hektaren gross, umgeben von nichts als Zuckkerrohrfeldern. Pfeifend pflückt sie Orangen, um Saft fürs Frühstück mit der ganzen Familie vorzubereiten. Ihre Hände sind rau von jahrzehntelanger Arbeit, von jahrelanger «resistencia» (Widerstand). «Früher gab es hier überall solche Farmen», erzählt sie wehmütig, «aber das Zuckerrohrmonopol hat fast alle verdrängt.» Doña Betsabeth gehört zu den wenigen «resistentes» (Widerstand Leistenden), die bis heute für ihre traditionelle Anbaumethode kämpfen. Auf ihrer «finca tradicional» wachsen neben Kakao auch Kaffee, Bananen und Zitrusfrüchte – ein Erbe ihrer afrikanischen Vorfahren, die als Versklavte hierher verschleppt wurden und nach ihrer Befreiung begonnen haben, auf kleinen Flächen Landwirtschaft zu betreiben. «Für uns bedeutet die finca tradicional viel mehr als nur Landwirtschaft», erklärt Aminta, die Tochter von Doña Betsabeth: «Es ist unsere Kultur, unsere Identität. Hier fühlen wir uns frei und unabhängig.» Doch die Freiheit hat einen bitteren Beigeschmack. Jahrzehnte des bewaffneten Konflikts haben tiefe Wunden in der Region hinterlassen. «Wir haben viel Gewalt erlebt, und es wird nicht besser», sagt Doña Betsabeth leise. «Guerillas, Paramilitärs, Drogenkartelle – alle wollten unser Land kontrollieren. Heute kommen internationale Firmen wie Coca-Cola oder Mondelez und wollen unser fruchtbares Land, um darauf Zuckerrohr anzubauen. Auch der Ethanolsektor hat Interesse an mehr Zuckerrohr. Ja, das sind alles mächtige Monster. Die wollen immer mehr und gehen mit den Menschen und dem Boden gewaltvoll um. Nein, ich habe 100 Jahre für mein kleines Stück Land gekämpft, und ich werde nicht aufgeben.» Ihr 23-jähriger Enkel Wilson hört aufmerksam zu. Er kennt die Geschichten, aber seine Realität ist eine andere. «Ich bewundere Oma für ihre Ausdauer und ihre Resistenz und Kraft», sagt der junge Mann, «aber ich weiss nicht, ob ich das eines Tages übernehmen möchte. In der Stadt gibt es bessere Jobchancen, insbesondere für junge Leute wie mich, die studiert haben.» Wilson ist nach New York migriert und hofft auf eine friedliche und finanziell sichere Zukunft. Die Jobsuche und Integration in den USA bereiten ihm aber Mühe, weshalb er vorübergehend in einem Fastfood-Take-Away arbeitet. 

In einer ähnlichen Situation ist Felipe, 24 Jahre alt. Seine Mutter Brenda hat einen Kredit aufgenommen, um ihrem Sohn eine gute Bildung zu ermöglichen. Nach einem Ingenieurstudium fand er jedoch keine Arbeit, und auf dem Kakaofeld seiner Grossmutter Maria arbeiten wollte er nicht. «Ich habe ja studiert, meine Mutter hat sich nicht verschuldet, damit ich mir dann mein Leben lang die Hände dreckig mache», sagt Felipe. Also ist er nach Spanien ausgewandert, um dort Arbeit als Ingenieur zu suchen. Gefunden hat er einen Job als Salsa-DJ in einem Nachtclub. 

Das grüne Monster

Nebst der physischen Gewalt von den Kartellen, Paramilitärs, Guerillas und Jugendbanden ist strukturelle Gewalt wie Rassismus gegenüber den afrokolumbianischen Gemeinden im Nordcauca ein weiterer Grund für die Jungen, die Region zu verlassen. Dennoch verspüren sie eine tiefe Verbindung mit dem «territorio» (Gebiet), wo sie als Kind mit dem Grossvater Kakao getrunken haben, weshalb sie gerne zu Besuch kommen und auf der finca mitarbeiten. Aber die kleine Kakaofarm der Grosseltern zu übernehmen, kommt meist nicht in Frage. Nebst persönlichen, familiären Gründen und der physischen und strukturellen Gewalt, insbesondere gegenüber Frauen, gibt es da noch das «grüne Monster», die multinationalen Firmen, welche die Zuckerrohrindustrie kontrollieren. Gegen diese «monstrou verde» haben die Grosseltern, wie Maria und Betsabeth, ihr Leben lang gekämpft. Sie haben ihr kleines Stück Land nicht verkauft, sondern sich aktiv für ihr kulturelles Erbe eingesetzt; sich für den Kakao entschieden, für mehr Biodiversität, Ernährungssicherheit und gegen Pestizide und finanzielle Sicherheit, mit welcher das Zuckerrohr lockt. Noch heute arbeiten sie motiviert auf den wenigen übrig gebliebenen finca tradicionales, denn, so Betsabeth: «Unser kulturelles Gut, das heisst der Kakao, die finca tradicional und unsere Geschichte, kann nur weitergelebt werden, wenn wir die Kontrolle über unser «territorio» haben. Verlieren wir diese, verlieren wir alles!» Ihre Nachkommen, wie Felipe und Wilson, hingegen haben keine oder wenig Motivation, für den Kakao zu kämpfen. Sie kennen die Geschichte ihrer Grosseltern gut und sehen auch heute noch, wie die Zuckerrohrindustrie Land enteignet und es zu gewaltvollen Auseinandersetzungen kommt, weil die Bodenrechte gerade für die afrokolumbianischen Menschen nicht geklärt sind. 

Wer baut künftig den Kakao an? 

Diese Szenen machen deutlich vor welchen Herausforderungen die Kakaobäuerinnen und -bauern im Nordcauca stehen. Einerseits kämpfen sie für ihre finca tradicional und gegen die Verdrängung dieser durch die kapitalistischen Zuckerrohrmonokulturen, andererseits fehlt es an Nachwuchs, der die Tradition des Kakaoanbaus fortführen will. Das Problem kennt auch Kakaobäuerin Doña Maria, bei der ich hier einige Zeit lebe: «Die jungen Leute wollen ein anderes Leben, ein einfaches Leben», seufzt sie: «Sie träumen von Universitäten und Bürojobs in der Stadt. Wer soll in Zukunft unseren Kakao anbauen?» Sie bereitet gerade in der offenen Küche Choculas zu, eine traditionelle heisse Schokolade. Der intensive Duft erfüllt die Luft. Brenda, ihre Tochter nippt vorsichtig an der heissen Flüssigkeit. «Vielleicht», sagt Brenda nachdenklich, «können wir einen Weg finden, Tradition und Moderne zu verbinden, den Kakaoanbau mit neuen Technologien effizienter gestalten, oder den Vertrieb über das Internet zu organisieren.» Maria lächelt ihre Tochter an. In diesem Moment liegt Hoffnung in der Luft – so süss und bitter wie der Kakao, den sie anbauen. 

Die Zukunft des Kakaoanbaus im Nordcauca bleibt ungewiss. Doch eines ist klar: In jeder Tafel Schokolade stecken Geschichten von Menschen wie Doña Betsabeth und Doña Maria – Geschichten von Tradition, Gewalt, Wandel und der Suche nach einem Weg in die Zukunft. Geschichten, die es Wert sind, erzählt und gehört zu werden. 

Wertschätzung und Achtsamkeit

Wenn wir Konsumierenden die Geschichte hinter unserer Schokolade kennen, ist das ein erster Schritt, um den Kakaoanbauenden etwas mehr Wertschätzung für ihre Arbeit entgegenzubringen. Diese Wertschätzung wiederum ist unentbehrlich, damit die neuen Generationen motiviert werden können, im Kakaoanbau zu bleiben, den Kakao zu vermarkten oder sogar selbst Produkte wie Schokolade zu produzieren. Es geht dabei nicht nur um das Verständnis für Anbau und Ernte von Kakao und wie viel Handarbeit dahinter steckt. Es geht auch um soziale Nachhaltigkeit, um Generationenkonflikte, um die Nachwirkungen von Kolonialismus und bewaffnetem Konflikt. All das steckt hinter und in vielen Tafeln Schweizer Schokolade. 

Fragt sich noch: Was können wir nebst der Wertschätzung tun, um ein gerechteres Kakaobusiness zu unterstützen? auf Labels achten, Schokolade kaufen, bei welcher der Kakaoproduktionsort transparent kommuniziert ist, kleine Marken bevorzugen. Eine 100g Tafel Schokolade für Fr. 2.50 kann nicht fair sein.

Text und Fotos: 
Salomé Günter
(26) ist Geographin, liebt biologisch und fair produzierte Lebensmittel. Sie ist fasziniert von den Menschen, die in Ernährungssystemen arbeiten und will sich in ihrer beruflichen Zukunft mit partizipativen Ansätzen für diese engagieren.

Situationsplan

Der Norden des Departements Cauca (Nordcauca) liegt im Südwesten Kolumbiens zwischen zwei Gebirgszügen. Die Topografie bestimmt die Bevölkerungsverteilung: In flachen Gebieten leben überwiegend Afrokolumbianer*innen, in hügeligen Regionen eher indigene Gruppen. Traditionell dominierten Agroforstsysteme («fincas tradicionales») die Landwirtschaft, mit Fokus auf Kakao, Kaffee und ernährungssichernde Kulturen wie Kochbananen. Ab den 1950er-Jahren veränderte die Zuckerrohrindustrie die Region radikal. Zuckerrohrunternehmen nutzten eine Kakaokrise aus, um Land zu erwerben, oft durch Zwang. Die Zuckerrohrmonokultur führte zu struktureller Gewalt, sozialer Vernachlässigung und Zunahme illegaler Kulturen, wie Coca und Cannabis, aber auch zu ökologischen Folgen, wie Biodiversitätsverlust durch Einsatz von Pestiziden. Wenige Kleinbauer:innen führen trotz der Gewalt, dennoch die «finca tradicional» fort und kämpfen gegen das «Zuckermonopol», indem sie Subsistenzwirtschaft und Kakaoanbau auf kleinen Flächen betreiben.

Die Masterarbeit von Salomé Günter hier
als PDF zum Download

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