Wie könnten kinderfreundliche Strassen in einer Stadt aussehen? Unsere Autorin stellt ihre Vision im Rahmen einer kleinen Geschichte aus dem Alltag der 9-jährigen Amelie vor.
Amelie ist stolz darauf, selbständig in die Stadt gehen zu können. In ihrer Gemeinde gibt es kinderfreundliche Wege ins Stadtzentrum, kombiniert mit Agrihood-Projekten in den Aussenquartieren – eine Art grosser Gemeinschaftsgärten. Jeweils ein paar hundert Haushalte können dort gratis Gemüse und Früchte beziehen – ein soziales Unterfangen für mehr Zusammenhalt im Quartier. Alle können mithelfen. Alte Häuser, freie Flächen und Parks sind miteinbezogen worden.
Amelie zieht ihre Schuhe an und nimmt die Einkaufstasche vom Haken. Sie freut sich sehr, weil sie heute einkaufen darf. Sie geht aus dem Haus und biegt ein paar Meter weiter in die grosse Hauptstrasse Richtung Stadt ein. Früher war das eine vielbefahrene Strasse. Jetzt fahren hier keine Autos mehr. Die Stadtverwaltung hat die Strasse mit Hilfe der Bevölkerung umgestaltet, begrünt und mit Bänken ausgestattet. Ein Teil der ehemals breiten Fahrbahn ist reserviert für Tretroller, Kindervelos und eine kleine Eisenbahn, welche die Kinder Richtung Stadtzentrum bringt. In der Parallelstrasse gibt es Fahrradwege für die Erwachsenen.
Von Weitem sieht Amelie ihre Freundin Lou, welche beim Naschgarten Erdbeeren pflückt. Sie schnappt sich eins der Weidekörbchen, die bereit stehen, und gesellt sich lachend zu ihr. Der Naschgarten ist Teil des Agrihood-Projekts. Amelie kennt viele der Früchte und Gemüsesorten. Mit ihrer Schulklasse hilft sie regelmässig im Garten mit. Sie haben dort das Fach NMM (Natur Mensch und Mitwelt) vor Ort.
Amelie und Lou packen ihre frisch gepflückten Früchte als Proviant in ihre Taschen. Auf gehts ins Zentrum. Sie nehmen die Abkürzung durch den Sensorium-Weg. Hauswände, Mauern und Teile des Bodenbelags wurden hier mit verschiedenen natürlichen Materialien aufbereitet und gestaltet. Die Kinder lieben es, mit geschlossenen Augen die Materialen zu erraten: Steine, Holz, Moos, Fell…
Der Sensorium-Weg führt direkt auf den grossen Platz in der Stadtmitte. Hier ist heute viel los. Das warme Wetter lockt die Menschen raus. Das Wasserspiel ist in Betrieb. Aus Metall wurden lustige Figuren erstellt, die im Kreis stehen. Auf unterschiedliche Weise können sie bewegt werden. Aus verschiedenen Löchern spritzt Wasser aus dem Boden. Nur gemeinsam kann das ganze Wasserspiel aktiviert werden. In der Mitte Wasserfontänen zum Durchspringen – ein Spass für Jung und Alt.
Um den grossen Platz herum sind viele kleine Läden und Kaffees. Amelie holt für ihren Vater etwas aus der Apotheke. Das nächste Mal wollen die Mädchen unbedingt noch auf den Tatzelwurm und in den Klangturm. Aber jetzt müssen sie zurück. Bald gibts Mittagessen. Sie nehmen die kleine Eisenbahn. Dann noch schnell im Lager des Agrihood-Projekts das Gemüse abholen, das auf dem Einkaufszettel steht, und ab nach Hause.
Die Aussenquartiere der Stadt haben alle solch eine Kinderstrasse, die ins Zentrum führt. Kombiniert mit den Agrihood-Projekten sind es Orte der Begegnung geworden, wo Menschen aus verschiedenen Gruppierungen mitwirken können. Das Ganze verbindet Jung und Alt, fördert die Selbständigkeit der Kinder, das Spielen und sich draussen Bewegen, ernährt die Gemeinde und schafft Nähe und Respekt zur Natur.
Die Inspiration für die Agrihood-Projekte in diesem Artikel kommt von der ersten wirklich innerstädtischen Agrarsiedlung in der US-amerikanischen Stadt Detroit.
tinyurl.com
Text:
Karin Rudin Walker, Designerin für das kleine, feine Glück, und Künstlerin (Illustration und Animation)
www.karinrudinwalker.com
Illustration:
Sofi Serendipia, geboren in Ecuador, lebt seit 2016 in Biel. Sie ist leidenschaftliche und neugierige Künstlerin und zeichnet seit sie einen Stift in der Hand halten kann. Sie liebt es, mit verschiedenen Techniken und Materialien zu experimentieren.