Dem Krieg auf dem Schlachtfeld geht ein Krieg ums Narrativ, um die Deutungshoheit voraus. Wie funktioniert das und was können wir dagegen tun?
Martina sitzt auf der Eiche
Worte sind einfache und im Alltag sehr praktische Konzepte, die uns Kommunikation und Austausch ermöglichen. Nun ist es sehr wichtig, den Unterschied zwischen Konzept und Realität, resp. zwischen Worten und der Realität dahinter zu verstehen. Beispiel: „Eiche“ ist ein sehr praktisches Konzept um die Realität dahinter zu beschreiben, nämlich das, was eine Eiche ist und tut: spriessen, wachsen, einen Stamm mit Rinde bilden, Blätter und Eicheln produzieren, Holz und Schatten spenden. Ob nur einen oder zehn Meter gross, ob sie Blätter trägt oder nicht, stark oder kümmerlich ist, viele Äste trägt oder nur wenige: es ist immer eine Eiche! Das Wort „Eiche“ ist also das starre Konzept einer lebendigen Wirklichkeit dahinter.
Anderes Beispiel: es ist äusserst praktisch, Menschen Namen zu geben, wie z. B. Daniel oder Martina. Dass sich Daniel und Martina ihr ganzes Leben, von Geburt bis zum Tod andauernd verändern, weiterentwickeln und nicht zwei Minuten wirklich dieselben sind, wird uns erst klar, wenn wir etwas genauer darüber nachdenken. Der Name „Martina“ ist ein Konzept; trotzdem kann Martina auf der Eiche sitzen und wir wissen, was gemeint ist.
Daniel ist ein ungezogener Junge
Ähnlich verhält es sich mit Narrativen: es sind vereinfachte Erzählungen einer komplexen Realität. Narrative sind dabei oft unwiderstehlich: sie sind leicht zu verstehen und oft auch bequem, denn sie ersparen uns mühsames Nachforschen, Nachdenken, Abwägen oder Diskutieren.
Dass bei einer solch vereinfachten Erzählung die Vielfalt, all die verschiedenen Aspekte, all die Nuancen auf der Strecke bleiben, versteht sich von selbst. Einfaches Beispiel: Daniel ist ein ungezogener Junge.
Dabei ist die Realität hinter allen Worten oder Narrativen immer vielschichtig, divers und fliessend, so wie die Realität niemals etwas Festes, Abgeschlossenes ist. Das Narrativ ist ein letztlich ungenügender Versuch, dieser sich dauernd verändernden, vielfältig komplexen Wuselei unserer Lebens etwas Festes entgegenzusetzen, an das man sich halten kann, das einem Halt gibt, wenn man sich sonst verloren fühlt.
Doch genauso wie Worte bloss starre, sperrige Konzepte für eine lebendige Wirklichkeit dahinter sind, so sind Narrative oft nur erstarrte leblose Rüstungen im Kampf um eine vermeintlich feste Realität, selbst wenn sie, wie die meisten Narrative, ein Körnchen Wahrheit enthalten.
Als Ganzes bleibt die Wahrheit dann auf der Strecke, gerade weil sie so stark vereinfacht wurde. Wer Narrative nicht hinterfragt, wird leicht zur Marionette derjenigen, die sie in die Welt gesetzt haben. Narrative sind letztlich – so praktisch sie uns auch erscheinen mögen – Ketten im Geist.
Vom Nudging zum Massaker
Unsere Welt ist im Kleinen wie im Grossen voller Narrative, so zahlreich wie all die „Bubbles“ oder „Blasen“, in denen wir uns bewegen (siehe Vision 46). Jede Bubble, jeder Interessenverband, jede Partei hat ihr Narrativ. Am deutlichsten tritt das oft in der Politik hervor: erfolgreich in der Politik sind meist die rhetorisch Gewandten, Schlagfertigen, Charismatischen, welche die Klaviatur menschlicher Emotionen beherrschen, um meisterhaft ihr eigenes Narrativ durchzusetzen.
Vom einfachen „Nudging“ („Anstupsen“ mit dem Zweck das Verhalten von Menschen zu beeinflussen), über „Influencing“ und klassische Politpropaganda bis hin zur handfesten, skrupellosen Lüge: es gibt eine grosse Palette wirksamer Strategien. Wer leicht beeinflussbar (oder zu faul zum Selberdenken/Recherchieren) ist, fällt eher auf Narrative herein, neigt vielleicht gar zum Kadavergehorsam. Was auch erzählt wird, irgendetwas bleibt immer irgendwo hängen.
„Eine Lüge muss nur oft genug wiederholt werden. Dann wird sie geglaubt.“
Paul Joseph Goebbels (1897-1945), einer der einflussreichsten Politiker im Dritten Reich
Politik ist ein Krieg der Narrative; man schenkt sich nichts. Zumeist Alphamännchen versuchen sich im aktuellen Politsystem durchzusetzen; wer Kompromisse, Versöhnung sucht oder schon nur Gesprächsbereitschaft signalisiert, gilt schnell als schwach und rückgratlos. Ziel ist es, das eigene Narrativ in der Gesellschaft durchzusetzen und die Deutungshoheit über ein bestimmtes Thema zu erlangen. Denn auf Deutungshoheit folgt die Macht, dem eigenen Narrativ entsprechend zu handeln.
Das ist, besonders in der Politik, sehr heikel, denn im Sog des Narrativs geht mitunter die Menschlichkeit verloren. Aktuelles Beispiel: „Die Russen sind böse und die NATO ist gut“. Oder umgekehrt: „Die Russen sind gut und die NATO ist böse“. Beides sind extrem vereinfachte und deshalb völlig ungenügende Narrative der Wirklichkeit, mit allen möglichen schrecklichen Folgen für beide Seitenm schlimmsten Fall mit Ausweitung des Krieges in der Ukraine auf ganz Europa oder weiter. Tatsächlich kursiert schon das Narrativ eines zukünftigen Krieges von Europa gegen Russland. Die NATO-Kriegsübung „Steadfast Defender 2024“ (zu Deutsch etwa „Standhafter Verteidiger 2024“) sollte uns eher Gänsehaut als ein Gefühl der Sicherheit bescheren.
Narrative erkennen
Die Verteidigung des Narrativs in der Gesellschaft und die Verteidigung der Fahne auf dem Schlachtfeld sind sich vom Wesen her verwandt. Bevor man das Volk dazu bringt, auf dem Schlachtfeld das Leben zu lassen, braucht es ein griffiges, überzeugendes Narrativ. Dem Krieg auf dem Schlachtfeld geht ein Krieg ums Narrativ, um die Deutungshoheit voraus.
Kann man gegen Biden, gegen den NATO-Imperialismus und gleichzeitig gegen Putins Angriffskrieg sein? Gegen die Hamas und gleichzeitig gegen die israelische Politik? Die Politik will uns glauben machen, wir hätten bloss die eine oder die andere Möglichkeit.
„Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für den Terrorismus.“
Zitat G.W. Bush
Wenn PolitikerInnen so „richtig aufräumen“ wollen oder „mit der Kettensäge“ ans Werk wollen, dann ist dabei nichts Gutes für die Menschen zu erwarten. Solchen Hetzern und Kriegstreibern sollten wir klar und deutlich eine Abfuhr erteilen. Die Welt ist nicht schwarz-weiss, sondern kommt in buntem Multicolor daher und es liegt an uns allen, dafür einzustehen. Wir sollten uns auch dafür einsetzen, dass Geld in aktive Friedenspolitik statt in Waffenkäufe fliesst. Befreundete Nationen führen keine Kriege gegeneinander.
Die vierte Macht
Hier sind auch die Medien als vierte Macht gefordert, breiter und differenzierter zu berichten und sich nicht zu Ausführungsgehilfen von Politik und Interessenverbänden zu machen; eine Tendenz die leider erschreckend zugenommen hat. Denn bevor der Feind auf dem Schlachtfeld angegriffen wird, wird er verbal angegriffen, entmenschlicht, dämonisiert und zur Schnecke gemacht. Am Anfang steht vielleicht ein unschuldig wirkendes „Nudging“ und am Ende ein völlig „gerechtfertigtes“ Massaker.
Eines der Grundnarrative – besonders leicht zu erkennen – ist die Einteilung in gut und böse, egal ob es sich dabei um Menschen, Gruppierungen oder Nationen handelt: wir sind die Guten, die anderen die Bösen, die es zu bekämpfen gilt.
Wenn die Meinungsvielfalt aus den Medien und der Gesellschaft verschwindet, ist die Demokratie gefährdet: totalitäre Staaten zeichnen sich gerade durch das Fehlen verschiedener Meinungen aus. Und wer nicht das gängige Narrativ vertritt wird erst mit den modernen Mitteln der Kriegsführung (Shitstorm & Co.), später auch physisch fertig gemacht.
Die letzte Macht sind wir alle; die grosse Mehrheit. Wir sind aufgefordert, uns gegen vereinfachende Narrative, gegen Hetze, Hass, Verunglimpfung zu wehren. Wir sind aufgefordert, wieder Grautöne und Farben in erstarrte schwarz-weiss-Narrative zu bringen, bei Shitstorms nicht mitzuspielen, Trollen nicht zuzujubeln und den Narrativen der Kriegsgurgeln ein lautes „nein, ohne mich!“ entgegenzuwerfen. Denn schlussendlich stehen nicht die KriegstreiberInnen auf dem Schlachtfeld.
Andreas Bachmann, Redaktion