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Mehr als ein Dach über dem Kopf

Was vor über 100 Jahren mit der industriellen Revolution begann, hat immer noch Bestand und bekommt gar wieder Aufwind: Das Modell der Gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften. Einblick in deren Geschichte, Entwicklung und Zukunftsperspektiven – mit unter anderem ein paar Bieler Perlen – aus Anlass des 101 Jahre Jubiläums der Wohnbaugenossenschaften Bern Solothurn.

Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften sind in der Schweiz sozialpolitisch wichtige, aber insgesamt schwach vertretene Wohnungsanbieter. Ungefähr 5% aller Schweizer Wohnungen sind im Besitz von gemeinnützigen Bauträgern. Höhere Anteile finden sich in den Städten z.B. Biel (14%), Thun (11%), Bern (10%) oder am höchsten in Zürich (23%).

Wohnbaugenossenschaften stellen den Dritten Weg zwischen Miete und Eigentum dar. Das heisst, als Mitglied einer Genossenschaft ist man aufgrund des eingebrachten Eigenkapitals sowohl Mitbesitzer*in der eigenen Siedlung und trägt Verantwortung fürs Ganze, als zugleich Mieter*in und wohnt damit in einer Wohnung.

Zentral im Zusammenhang mit der Diskussion um Wohnbaugenossenschaft ist der Begriff «gemeinnützig». Gemeinnützigkeit bei Wohnbaugenossenschaften schreibt vor, dass keine spekulativen Renditen abgeführt, keine Tantiemen ausgeschüttet und bei der Liquidation der Genossenschaft (z.B. Verkauf der Wohnungen) die Mitglieder nicht am Gewinn beteiligt werden dürfen. Oder umgangssprachlich ausgedrückt: mit gemeinnützigen Wohnungen kann nicht spekuliert werden, der Gewinn bleibt in den Genossenschaften und die Mieten orientieren sich an den tatsächlichen Kosten (Kostenmiete). All dies führt dazu, dass Genossenschaftswohnungen gemäss dem Bundesamt für Wohnungswesen schweizweit rund 15% günstiger vermietet werden können als vergleichbare Wohnungen der übrigen Wohnungsanbieter. In den Städten, und vor allem in Städten mit einem aufgeheizten Wohnungsmarkt, macht die Differenz zwischen renditeorientierter Miete und Kostenmiete gar bis zu 40% aus. Neben der Kostenmiete bieten Genossenschaften auch Wohnsicherheit. Das heisst, die Mietenden haben die Gewissheit, dass ihnen weder aufgrund von Totalsanierung noch wegen Eigenbedarfs ersatzlos gekündigt wird und sie kurzfristig ein neues Zuhause suchen müssen. Ein wichtiger Faktor gerade auch für ältere Menschen.

Wohnbaugenossenschaften bieten dank ihrer Strukturen aber noch mehr als nur ein preiswertes und sicheres Dach über dem Kopf. Bei den Mitgliedergenossenschaften in der Schweiz sind das rund 75% aller gemeinnützigen Bauträger, in Biel gar über 90% besteht für alle Mitglieder die Möglichkeit der Mitsprache. Sie funktionieren nach dem Prinzip «Ein Mensch eine Stimme». Die Generalversammlung bildet das oberste Organ. An dem mindestens einmal jährlich stattfindenden Anlass kann jedes Mitglied Anträge zu dem ihm wichtigen Themen stellen vom einfachen Wunsch nach einem Grillplatz bis hin zu Statutenänderungen. Gerade neue Wohnbaugenossenschaften haben allerdings gemerkt, dass Mitsprache und Beteiligung gepflegt werden muss und heutzutage kein Selbstläufer mehr ist wie vor 101 Jahren. So macht z.B. bei der grossen Zürcher Genossenschaften «mehr als Wohnen» der Partizipationszuschlag 5% der monatlichen Miete aus. Damit werden Mitwirkungsgefässe wie Versammlungen, AGs, Runde Tische etc., aber auch Mitarbeitende finanziert. 

101 Jahre Wohnbaugenossenschaften Bern-Solothurn

Die Genossenschaftsbewegung entsteht als Teil der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert. Die Idee der Wohnbaugenossenschaften ist somit ein Produkt der industriellen Revolution. Die Überlegung dabei ist, dass sich die sozial Schwächeren im Sinne der Selbsthilfe zusammenschliessen und gegenseitig unterstützen.

Ziel der Genossenschaften ist eine Hilfe zur Selbsthilfe: Arbeiter*innen legen ihre Ersparnisse zusammen, um sich zusammen besser versorgen zu können. Die ersten Genossenschaften sind sogenannte Konsumgenossenschaften, genossenschaftlich geführte Läden, die den Vorteil haben, dass die Genossenschafter*innen die Preise bestimmen können und beim Einkauf der Produkte Gewicht in den Preis- und Qualitätsverhandlungen haben. Wohnbaugenossenschaften entstehen aus demselben Gedanken: eine preiswerte und qualitätsvolle Versorgung der Mitglieder mit Wohnraum. In der Schweiz haben Genossenschaften eine lange Tradition, vor allem Konsumgenossenschaften wie Migros oder Coop, oder Agrargenossenschaften wie die Landi.

In der Schweiz entstehen die ersten Wohnbaugenossenschaften in Zusammenhang mit der Industrialisierung nach 1860. Diese führt dazu, dass Tausende von Arbeitskräften in die Städte ziehen. Folge dort: Wohnungsmangel. Ab 1910 nimmt die Bewegung der Wohnbaugenossenschaften mit der Gründung der Eisenbahnerbaugenossenschaften Fahrt auf, da die Bähnlerbezahlbaren Wohnraum in der Nähe von Bahnhöfen und Depots benötigten.

Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Wohnungsnot so gross, dass viele Städte, Kantone und auch der Bund eine aktive Wohnbauförderung betreiben. Dies führt zu einer ersten Gründungs- und Bauwelle von gemeinnützigen Wohnbauträgern. Dabei entstehen in Biel beispielsweise Häuser am Rennweg durch die Eisenbahner-Baugenossenschaft, im Falbringen-Quartier sowie auf der Champagne durch die Bieler Wohnbaugenossenschaft (biwog) oder im Mösli durch die Allgemeine Baugenossenschaft.

Ab 1943 herrscht in den meisten Schweizer Gemeinden erneut Wohnungsnot, die bis Mitte der 1970er-Jahre andauert. Bund und Kantone haben aus der Not von 1918 gelernt und stellen in den 1940er-Jahren frühzeitig Hilfen, z.B. Zementkontigente, für den Wohnungsbau zu Verfügung. Die grösste Bautätigkeit der gemeinnützigen Wohnbauträger fällt in diese Nachkriegszeit-Periode. In Bern entsteht zu dieser Zeit die Grossüberbauung Tscharnergut. 

Junge Genossenschaften der Achtziger- und Neunzigerjahre nehmen die veränderten Wohnbedürfnisse auf und begründen neue Projekte, wie vor sechzig und achtzig Jahren die damaligen Pionierinnen und Pioniere. Die neuen Genossenschaften erheben den Anspruch, den Geist der Solidarität neu zu beleben. Selbstverwaltung und Selbstbestimmung sind hier die Devise. 

Seit den 2010er-Jahren fordert das Stimmvolk in Städten und grösseren Gemeinden im Kanton Bern vermehrt und erfolgreich mehr bezahlbaren Wohnraum auf politischem Weg. In Bern, Köniz und Spiez wurden entsprechende Initiativen von den Stimmberechtigten angenommen; in anderen Gemeinden wie Burgdorf sind Abstimmungen noch hängig. In Biel wird die Doppelinitiative für einen 20%-Anteil an gemeinnützigen Wohnungen und mind. 50% auf der Gurzelen durch das Parlament in ein behördenverbindliches Reglement überführt.

Genossenschaften, ein Modell für die Zukunft?

In den letzten 100 Jahren haben Wohnbaugenossenschaften für viele Herausforderungen eine Lösung gefunden: zum Beispiel auf kleinem Raum in schwierigen Zeiten für wenig Geld Wohnraum zu schaffen. Aber ist ein 100-jähriges Modell noch zeitgemäss? Sind sie fit für die Themen der Zukunft wie Verdichtung, Nachhaltigkeit und veränderte Bevölkerungsstrukturen? Sind ihre Modelle der Selbsthilfe noch zeitgemäss? Oder müssen sie sich neu erfinden?

Wohnbaugenossenschaften haben sich ständig neu entwickelt und sich neuen Bedürfnissen angepasst. Sie erfinden sich neu, manche indem sie durch Umbauten nachhaltiger werden und Wohnungen den heutigen Bedürfnissen anpassen (neue Grundrisse, hindernisfreie Wohnungen, ökologische Baumaterialien). Andere in dem sie die in den Mitgliedergenossenschaften eingelagerte Partizipation neu aufleben lassen und wie die Bieler Baugenossenschaft Gutenberg regelmässige Anlässe für Kinder, Familien oder ihre pensionierten Bewohner*innen durchführen.

Als Verbindung dieser Elemente ist die neue, autofreie Siedlung an der Wasenstrasse in Biel zu benennen. Sie vereint die Wohnbaugenossenschaft biwog, den Verein für Wohnhilfe Casanostra und den Betagtenpflegeverein Biel-Seeland, der dort zehn Pflegewohnungen für Demenzkranke anbietet und zeichnet sich durch ein reges gemeinschaftliches Leben der sehr unterschiedlichen Bewohnerschaft aus (siehe auch Artikel auf Seite 8).

Auch ländliche Gemeinden sind mit der Frage konfrontiert, wie Gebäude mit Zentrumsfunktionen, z.B. alte Schulhäuser, aufgegebene Hotels oder ehemalige Gewerbeliegenschaften umgenutzt werden können. Die Rechtsform der Genossenschaft hat sich als erfolgreiches Gefäss erwiesen. Etwa in Ligerz, einer Gemeinde am Bielersee, wartete das Hotel Kreuz auf eine neue Nutzung. Seit 2020 ist die Wohnbaugenossenschaft «Zuhause am Bielersee» stolze Eigentümerin des Hotels. Ihr Ziel: die Hotelzimmer in hindernisfreie Wohnungen vornehmlich für die ältere Bevölkerung in der Region umbauen. Die Genossenschaft Leuzigen hat dasselbe mit dem ehemaligen Gemeindehaus im Dorfzentrum getan. Und auch Bauernhöfe werden immer wieder von frisch gegründeten Genossenschaften umgebaut und neu belebt beispielsweise mit «Solidarisch Wohnen» in Urtenen-Schönbühl, mit der WBG «Wohlen-Bern» in Säriswil und der WBG «Wandelhof» in Gümmenen.

Dass Genossenschaften Mehrwerte übers Wohnen hinaus bieten, zeigte sich auch in der Gemeinde Lauterbrunnen im Berner Oberland: Als das ehemalige Schulhaus im bei Touristen beliebten Dorf Gimmelwald an Private verkauft werden sollte, raufte sich die Dorfbevölkerung zusammen. Im Sommer 2018 gründete sie eine gemeinnützige Genossenschaft, startete einen Aufruf zur Zeichnung von Anteilscheinen und erwarb nach einem überzeugenden Auftritt an der Gemeindeversammlung das Gebäude. So bleibt die Gemeindestube als Vereinslokalität und der Schulhausplatz, der als einziger ebener Aussenplatz traditionell den vielfältigen Aktivitäten im Dorf dient, erhalten. Im Gebäude sind neu ein Studio und drei zahlbare Wohnungen für Familien aus dem Dorf erstellt worden.

Genossenschaften bieten Lösungsansätze für sozial-politisch brennende Fragen rund um das Wohnen wie hohe Mieten, Landflucht, Wohnen im Alter und ökologisches Bauen. Auf lokaler Ebene scheint diese Erkenntnis angekommen zu sein. Der politische Druck durch Initiativen und Vorstösse in Gemeindeparlamenten steigt und zeigt: Das Modell Wohnbaugenossenschaft ist zukunftsträchtig und hat weder hinsichtlich Innovation noch Nachfrage an Aktualität verloren. 

Aufbruch in Biel

Mit den zwei Volksinitiativen zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus sind auch in der Region Biel-Seeland Wohnbaugenossenschaften und gemeinnützige Projekte heute im Zentrum wohnpolitischer und städteplanerischer Debatten. Das zeigt etwa das Projekt Europan-Geyisried in dessen Rahmen die neun dort verankerten Genossenschaften gemeinsam das Erneuerungs- und Erweiterungspotenzial ihres Quartiers analysieren. Der damit verbundene Wettbewerb ist noch in Gange, die Ergebnisse werden anfangs 2022 ausgestellt sie bilden aber erst den Anfang des künftig gemeinsamen Entwicklungsprozesses.

Auf der Gurzelen soll ein lebendiges Quartier entstehen, geprägt durch möglichst 100% genossenschaftlichen Wohnungsbau. Startschuss bildet der Bereich Blumenstrasse. Im Rahmen des Projekts der GURZELENplus wird jetzt ein vielfältiges Wohnungsangebot für 230 Menschen projektiert; ein stimmiger Mix von Wohnformen und Wohngrössen. Erstmals gründeten hierzu mehrere bestehende Bieler Wohnbauträger eine neue Wohnbaugenossenschaft. Das Bauprojekt soll ihnen als genossenschaftliche Lern- und Experimentierplattform dienen, die gewonnenen Erkenntnisse später in ihre eigenen Wohnbauprojekte einfliessen.

Damit aber der 20% Anteil genossenschaftlicher Wohnungen am gesamten Wohnungsmarkt in Biel wieder erreicht werden kann, braucht es noch viele zusätzlichen Anstrengungen von Biel und den angrenzenden Gemeinden, aber auch von den Genossenschaften selber. Die vielen Bewerbungen für die Grundstücke Blumenstrasse Süd und Nord zeigen die Bieler Genossenschaften sind heute wieder organisiert für diesen Aufbruch.

Co-Autor*innen dieses Textes:

Daniel Blumer, ist Geschäftsführer des Kompetenzzentrums für gemeinnützigen Wohnungsbau
Flora Senften, Projektkoordinatorin des 101-Jahre-Jubiläums
Rahel von Arx, Projektleiterin beim Kompetenzzentrum für gemeinnützigen Wohnungsbau
Thomas Bachmann, ehemaliger Präsident Wohnbaugenossenschaft biwog und Mitglied OK 101-Jahre-Jubiläum Biel

Foto (oben): 
Janosch Szabo: In der Sonnhalde in Biel sind spontane Begegnungen der Bewohner*innen der Wohnbaugenossenschaft biwog an der Tagesordnung. 

Jubiläumsaktivitäten: 
101-Jahre Wohnbaugenossenschaften Bern-Solothurn

Zum 101-jährigen Jubiläum führt Wohnbaugenossenschaften Bern-Solothurn in Biel eine Veranstaltungsreihe zum Thema «wie wollen wir wohnen?» durch.

  • 16. August – 30. September 2021: Interaktive Ausstellung im «der Ort» an der Marktgasse 34 (Mo-Fr 09:00 17:00Uhr)
  • Samstag, 11. September: Jubiläumsfest für Jung und Alt mit umfangreichem Programm auf der Esplanade, 10:00 16:00 Uhr
  • Mittwoch, 15. September: Debatte: Wie will ich wohnen? Verein IG Selbstbestimmtes Wohnen lädt ein, 17-21 Uhr (öffentlich, jedoch mit Anmeldung) 

Das gesamte Programm, auch aus den Städten Bern und Thun unter www.wiewollenwirwohnen.ch / www.commentvouslonsnoushabiter.ch.

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