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Menschlichkeit und Solidarität sind der Kitt der Gesellschaft!

Es gibt kleine feine Geschichten des Gelingens, die im Stillen geschehen und von denen wir oft nur durch Zufall erfahren. So eine Kostbarkeit durfte Rita Jaggi kürzlich erleben. Sie erzählt. 

An der Kanalgasse gibt es eine kleine Schuhmacherwerkstatt. Ich betrete den Laden, ohrenbetäubender Maschinenlärm und der Duft von Leder und Lederprodukten empfangen mich. Trotz der engen Raumverhältnisse steht da im Eingang ein gemütliches Sofa mit einem Tischchen davor.

Nachdem der Schuhmacher seine Maschine abgestellt hat, kommt er an den Ladentisch und erkundigt sich nach meinen Wünschen. Die Sohlen meiner Stiefel müssen frisch verleimt werden. Er begutachtet die Schuhe und empfiehlt mir, auch die Absätze erneuern zu lassen.

In diesem Moment betritt ein Mann das Geschäft, grüsst kurz, stellt ein Glas heissen Tee auf den Tisch und verschwindet gleich wieder.

«Das ist der Nachbar von nebenan, vom marokkanischen Laden. Er bringt mir jeden Tag meinen Tee, dafür helfe ich ihm beim Transportieren von Waren und so.»

Er will gerade weiter meine Stiefel besichtigen, da öffnet sich die Türe wieder.

Eine Frau legt ein Säckchen aus der Bäckerei neben das Glas Tee und verlässt gleich wieder das Geschäft.

«Das ist die Frau vom Spielzeugladen von nebenan; auch ihr bin ich jeweils behilflich, wenn ihr Ware angeliefert wird. So machen wir das, schon lange.»

Ich bin gerührt ob so viel freundnachbarlicher Gesten.

Der Schuhmacher hat meine Reaktion wohl bemerkt und erzählt weiter:

«Ein Kunde hat mir mal erzählt, er wohne in der Altstadt und sei pensionierter Koch. Da kam mir die Idee, ihn zu fragen, ob ich mittags nicht bei ihm essen könnte. Schon lange war ich es leid, allein zu essen, auf «fast food» hatte ich auch keine Lust mehr. Er war einverstanden. Und so gehe ich nun an den Werktagen bei ihm essen. Am Samstag habe ich nur kurz Pause, da bringt er mir das Zmittag ins Geschäft.

Das machen wir nun schon drei Jahre so. Wenn ich einmal absage, ist er traurig. Wir sind eben Freunde geworden!»

Ich verlasse das Geschäft und fühle so was wie beschenkt worden zu sein, so was wie Glück. 

Ich komme am Spielzeugladen vorbei; an der Tür lese ich eine Nachricht für die Post: «Pakete bitte nebenan beim Schuhmacher abgeben. Danke.»

Text:
Rita Jaggi ist Teil einer Gruppe des Arbeitskreises für Zeitfragen Biel, die sich mit Wachstumsthemen kritisch auseinandersetzt. Die Teilnehmenden schreiben unter anderem reihum sogenannte «Geschichten des Gelingens» für die Zeitschrift reformiert.

Foto:
Marilyn Martino: Schuhmacher Jean-Pierre Weber vor seiner Werkstatt.

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