Jenen, die sich für besonders offen halten, wird vorgeworfen, übermässig zu polarisieren. Doch gegen die Bildung von Meinungsblasen hilft nicht Toleranz, sondern Auseinandersetzung.
In der Sonntagszeitung war kürzlich ein brisanter Artikel zu lesen. Er thematisierte die zunehmende Polarisierung unserer Gesellschaft. Das Pikante dran: Ausgerechnet jene, die sich selbst für besonders offen hielten – die linken und gebildeten Städter:innen – würden, so die Autorin, andere Meinungen am wenigsten akzeptieren und seien intoleranter als Konservative und Rechte. Der Artikel stützte sich dabei auf eine grosse europäische Meinungsumfrage. Während Weltwoche, Nebelspalter und rechte Kommentator:innen in den sozialen Medien sich die Hände rieben, hagelte es von sozialwissenschaftlicher Seite Kritik, die ihrerseits von liberalen und linken Medien aufgegriffen und geteilt wurde.
Affektive Polarisierung
Die Kritik schien mir berechtigt. Im Kern ging es darum, dass die Forschenden keine «Intoleranz» untersucht hatten, sondern etwas, das sie «affektive Polarisierung» nennen. Dazu wurde den Teilnehmenden beispielsweise gesagt: «Es gibt Personen, denen die politischen Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels schon viel zu weit gehen». Dann fragte man die Leute, «wie» sie für diese «Personengruppe» empfänden. Um zu antworten, mussten Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Schieber auf einer Art Temperatur-Skala einstellen, die von negativen 5 Minusgraden bis zu positiven 5 Plusgraden reichte. Dann wurden die Teilnehmenden mit einer Personengruppe gegenteiliger Meinung konfrontiert (z.B. «Personen, denen die politischen Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels noch lange nicht weit genug gehen»), und das Antwortprozedere wiederholte sich. Je weiter die beiden «Temperaturen» auseinander lagen, desto stärker die «affektive Polarisierung».
Wirft man alle untersuchten europäischen Länder in einen Topf – die Schweiz war, anders als der Artikel in der Sonntagszeitung vermuten liess, nicht dabei – so zeigt die Studie, dass linke und gebildete Grossstädter:innen affektiv stärker polarisiert sind als rechte, weniger gebildete Personen ländlicher Gegenden.
Damit habe die Studie, so die Kritik am Zeitungsartikel, etwas anderes untersucht als Toleranz. Die Menschen seien zwar gespalten zwischen Sympathien für ihre Gesinnungsgenossinnen und Antipathien gegenüber ihren Widersachern. Trotzdem, so lautete der Tenor der Kritik, seien sie nicht intolerant, wie die Autorin der Sonntagszeitung behauptet hatte. Vielmehr duldeten sie ihre Kontrahent:innen durchaus und sprächen ihnen das Existenzrecht nicht ab.
Mit Toleranz in die Blase
Doch an dieser Stelle sträubte sich etwas in mir. Und so wäre es zweifellos auch dem Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo Passolini ergangen. Dieser schrieb am 13. März 1975, wenige Monate vor seiner Ermordung: «Ich kenne kein einziges Beispiel, keinen einzigen Fall von wirklicher Toleranz. Einfach deshalb, weil wirkliche Toleranz ein Widerspruch in sich ist. … Toleranz ist nur eine raffiniertere Form der Verdammung». Und am Beispiel des Rassismus führte er aus: «Deshalb kann ein Schwarzer … ruhig ein Schwarzer sein, also frei seine Andersartigkeit leben, auch ausserhalb … eines konkret bestehenden ‘Gettos’, in das man ihn in Zeiten der Unterdrückung verwiesen hat. Das verinnerlichte Getto existiert … unerbittlich weiter. …Und, wehe, er bricht aus! Er kann es nur um den Preis völliger Anpassung an Sehweise und Mentalität … der Mehrheit.»
Toleranz verbannt den Anderen, die Andere in ein Ghetto, isoliert ihn oder sie in einer Blase, hermetisch abgetrennt von der eigenen Welt. Das Andere existiert zwar noch, es wird geduldet. Doch es findet keine Debatte statt, und Gegenmeinungen werden nur noch öffentlich vorgeführt, an den Pranger gestellt, zur Bekräftigung der eigenen Identität.
Vom Universum zum Pluriversum
Sich selbst schanzt man in dieser Weltsicht das universelle Wissen zu, während die anderen im Irrtum leben, «nur glauben». Um im Beispiel der Polarisierungsstudie zu bleiben: Auf der einen Seite sind wir, die wir dank Wissenschaft erkennen, dass aktuelle und künftige Klimastörungen die Bewohnbarkeit der Erde massiv zerstören und wir darum dringend Massnahmen brauchen. Auf der anderen Seite jene, die in ihrer Leichtgläubigkeit der Erdöllobby auf den Leim gehen und darum die Dringlichkeit von Massnahmen nicht einsehen.
Doch so möchte ich mir die Welt nicht denken, so möchte ich nicht argumentieren und anderen nicht begegnen.
Was sind die Alternativen? Nur allzu bekannt ist jene der «alternativen Fakten», in der jeder und jede «auf seine Art» recht hat, «alles nur relativ» ist und jede und jeder seine «eigene Wahrheit» konstruiert.
Doch es geht auch anders. Der Soziologe Bruno Latour oder der Anthropologe Arturo Escobar sprechen von «Pluriversum», die Philosophin Isabel Stengers von «Kosmopolitik», wieder andere gebrauchten den Begriff des «Multiversums». Allen diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie sich von der Vorstellung verabschieden, wonach wir alle in einem alles vereinenden Universum leben, mit einer Wissenschaft, einem Recht, einer Technik, einer Politik. Im Pluriversum haben stattdessen viele verschiedene Welten Platz. Das Entscheidende ist, dass diese Welten nicht wie Blasen voneinander isoliert sind und zwischen ihnen nur Schaukämpfe ausgetragen werden. Die unterschiedlichen Welten interagieren vielmehr ständig. Zwischen ihnen finden Verhandlungen statt, Konflikte werden nicht nur inszeniert, sondern ausgetragen und bei Blockaden werden gegenseitig Diplomatinnen, Übersetzer und Vermittlerinnen entsandt.
Knisternde Aufmerksamkeit
Die Bewohnerinnen und Bewohner unterschiedlicher Welten erklären einander, was in ihnen unentbehrlich ist, worauf sie angewiesen sind und wovon diese Welt abhängt, was sie bedroht. Zwischen den Welten herrscht weder Verachtung noch Gleichgültigkeit. Es liegt vielmehr Neugier in der Luft, knisternde Aufmerksamkeit, für das, was die unterschiedlichen Welten ausmacht, was sie unterscheidet – die äusseren genauso wie die inneren. Affekte werden differenziert artikuliert und nicht wie im berühmten Kinderspiel auf «warm» oder «kalt» reduziert.
Interpretatio Graeca
Im Altertum bildete die sogenannte «Interpretatio Graeca» – und später die «Interpretatio Romana» – das Verhältnis ab zwischen den unterschiedlichen Welten des Mittelmeers. Es handelte sich um eine Art Tabelle mit Entsprechungen für das, was den jeweiligen Völkern das Heiligste war – ihre Gottheiten. So entsprach die babylonische Göttin Ištar der griechischen Aphrodite (und jene der römischen Venus) oder der ägyptische Sonnengott Ra dem griechischen Apollon.
In der Interpretatio begegneten sich die Welten auf Augenhöhe. Im Zentrum stand die Suche nach Verständigung. Übertragen auf unsere heutige Situation könnten das heissen, dass wir den Anderen, die Andere nicht daran messen, was er oder sie in unserer Welt tut, sondern daran, wie er in seiner Welt handelt. Statt anzuklagen: «Warum tust du nichts gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen durch den Klimawandel?» könnte die Frage lauten: «Die schon im August braun verfärbten Blätter sagen mir, dass mit dem Wald eine meiner Lebensgrundlagen in Gefahr ist. Sind deine Lebensgrundlagen auch in Gefahr und woran erkennst du das?»
Erosion der Institutionen
Die Interpretatio Gracea ist ein Beispiel für ein Instrument, das diplomatische Beziehungen zwischen unterschiedlichen Welten unterstützt. Es gibt zahlreiche ähnliche Dispositive, die eine ähnliche Funktion erfüllen. Viele Menschen blicken allerdings mit Geringschätzung auf solche Institutionen. Ich denke an jene der parlamentarischen Demokratie und an die Medien. Tatsächlich haben beide eine wichtige Aufgabe bei der Vermittlung zwischen den Welten – und sie erfüllen diese mit der zunehmenden politischen Polarisierung immer schlechter. Das sollte uns wirkliche Sorgen machen – und nicht die mögliche Erosion einer billigen «Toleranz».
Text:
Oliver Graf berät die
öffentliche Hand in
Fragen der Umweltkommunikation,
redigiert Texte, organisiert
Kulturanlässe im
Botanischen Garten
von Bern und
präsidiert den Bieler
Quartierladen
Épicerie 79a.
Photo :
Simona Granati:
Forderung aus der vierten
Botschaft aus
dem Lakandonischen
Urwald von 1996 nach
einer «Welt, in der viele
Welten Platz haben»