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Mobilität in der Agglo Biel am Limit?

Bis vor wenigen Monaten zeigten uns Corona und Homeoffice, wie rasch wir unsere Mobilität ändern können. Nun erinnert uns der Ukrainekrieg daran, wie sehr sie von Autokraten abhängt. Daher fragen immer mehr Menschen: Können attraktivere Bahn- und Busangebote nicht viel rascher Staus abbauen, Energie und CO2 einsparen als weiterer Strassenbau? Wenn ja, was bräuchte es dazu? Und welche Auswirkungen hätte dies für das Leben in und um Biel? Unser Autor nimmt das „ÖV-Konzept 2035 Agglomeration Bielunter die Lupe und regt an, es zu erweitern.

Zur Ausgangslage


Der Schweizer Privatverkehr verbraucht gemäss einer Analyse des Bundesamts für Energie ein Viertel der Schweizer Energie und verursacht dabei jede vierte Tonne CO2 sowie wachsende Staus. Auch nach Eröffnung der Ostumfahrung stauen Autos in Biel weiter so häufig, dass das Bieler Strassennetz trotz abgelehntem A5-Westast weiter ausgebaut werden soll. 

 

Derweil verknüpfen am Bahnhof Biel Regionalzüge und Busse alle 30 Minuten den Berner Jura und das Seeland mit Fernzügen nach Genf, St. Gallen und Bern.
Täglich steigen hier 50.000 Menschen ein, aus oder in einen der am Bahnhofsplatz haltenden rund 1‘000 Busse um, die via Bahnhofstrasse die gesamte Agglomeration erreichen. Bereits heute queren im 8-Minuten-Abstand rund 1000 Fahrgäste aus Interregio- und S-Bahnen aus/in Richtung Bern den Bahnhofsplatz. In Stosszeiten behindern sich zu viele Fahrgäste an Bahnzugängen und Fahrzeugtüren gegenseitig und verursachen damit netzweit Verspätungen und verpasste Anschlüsse.

 

Zwischen Bahnhof Biel und Orpundplatz in Mett fehlen Buslinien, die die Stadtquartiere nördlich und südlich der Hauptbahnlinie verbinden. An Jurahang, Seevorstadt und Seeufer liegende Schulen, Museen und Freizeitanlagen sind per Bahn und Bus nur umständlich erreichbar. Die wichtigsten Entwicklungsbereiche Brüggmoos, Mett und Bözingenfeld liegen weit vom Bahnhof entfernt und seit Eröffnung des Ostastes nahe an Autobahnanschlüssen. Viele früher fussläufig vom Bahnhof gelegene Arbeitsplätze, Freizeit- und Einkaufsangebote wandern in Bereiche ab, die aus der Region nur mit Umsteigen und damit unbequemer und längeren Reisen erreichbar sind.

 

Kommt hinzu: Mit zugigen, teils verschmutzten Halten ohne Wetterschutz bieten Züge und Busse im Vergleich zu immer bequemeren Autos und immer zielnäheren Parkangeboten wenig Anreize zum Umsteigen…

 

Hier kommt nun das ÖV-Konzept 2035 Agglomeration Biel ins Spiel, das aufzeigt, wie das Bahn- und Busangebot zwischen Grenchen, Lyss, Täuffelen und Sonceboz-Sombeval bis 2035 entwickelt werden soll.

 

Denn dass attraktive Bahn- und Busangebote helfen, Staus abzubauen, ist seit Langem bekannt. Kantone, Regionen und Transportunternehmen verbessern daher alle vier Jahre in sogenannten Angebotskonzepten regionale Bahn- und Busangebote. 

 

Was das ÖV-Konzept 2035 vorsieht

 

Das ÖV-Konzept 2035 schafft – auf Basis des nationalen Bahnnetz-Ausbauschrittes 2035 – Grundlagen, damit Gemeinden in einem Radius von 6 und 12 km um den Bahnhof Biel mehr Autoverkehr in Busse und Bahnen verlagern können: Unter anderem zeigen Fahrplantakte und Linienpläne des Konzeptes, wo und wie oft bis 2035 Bahnen und Busse zwischen Grenchen, Lyss, Täuffelen und Sonceboz-Sombeval fahren sollen. Im Bestreben, das Bieler Stadtgebiet sowie die Entwicklungsbereiche Brüggmoos und Bözingenfeld aus mehr Gemeinden bequemer erreichbar zu machen. Aktuell klären Gutachter und die Geschäftsstelle und Behördenkommission der Regionalen Verkehrskonferenz Biel-Berner-Jura-Seeland (RVK 1) die Eingaben aus der Mitte Februar abgeschlossenen Mitwirkung. Die RVK 1, die Stadt Biel und Transportunternehmen werden dann bis 2035 das beschlossene ÖV-Konzept in 2-3 Etappen, den sogenannten Angebotskonzepten, umsetzen. An dort vorgesehenen Massnahmen können Behörden und Betriebe wiederum mitwirken…

 

Was kann das ÖV-Konzept 2035 erreichen?

Heute beginnt und endet jede dritte Autofahrt der Region in Gemeinden, die weniger als 30 Fahrtminuten von Biel entfernt liegen. Aus Orten mit Bahnhalten bis Solothurn, Oberwil, Zollikofen, Fräschels, Brüttelen, Moutier, Neuhaus, Neuchâtel, Lamboing, St. Imier und Tavannes ist Biel per Bahn- und Bus ebenfalls in 30 Minuten erreichbar, manchmal sogar schneller als im Auto (bspw. Grenchen, Moutier, Neuchâtel, Solothurn).

 

Aus Orten ohne Bahnhalt oder direkte Busverbindung dauern ÖV-Reisen dagegen deutlich länger als im Auto – weil Fahrgäste gegebenenfalls mehrmals umsteigen müssen. Berufstätige, Besucher und Bewohner dieser Gemeinden sind daher sehr viel häufiger im Auto unterwegs als aus Orten mit Bahnhalt und direkten Busverbindungen nach Biel und tragen entsprechend mehr zu Staus zwischen Brügg, Nidau, Strandboden und Bözingenfeld bei.

 

Wie viel Autoverkehr beispielsweise auf der A5 entlang des Bielersees verlagerbar ist, zeigen Ergebnisse der aktuellen Seelandtangenten-Studie: Auf der A5 in Twann und im Seeland beginnt und endet jede zweite Autofahrt zwischen Bözingenfeld, Diesse und Kerzers. Nützlich wäre daher, das ÖV-Konzept auch auf Orte zu erweitern, die bis 30 Fahrtminuten von Biel/Bienne entfernt liegen. Als ersten Schritt ist dabei zu klären, welche Chancen ein Verknüpfen dort schon bestehender Angebotskonzepte mit dem ÖV-Konzept 2035 für die Agglomeration Biel bietet, beispielsweise indem dadurch neue umstiegsfreie Verbindungen entstehen.   

 

Auf Wegen bis 6 km sind Fussgänger*innen und Velofahrer*innen schon heute oft schneller als Zug- und Busreisende unterwegs. Gehen und Velofahren spart zudem deutlich mehr Energie und Platz als in Züge und Busse verlagerte kurze Autofahrten. 

 

Angesichts heutiger Überlastungen sind am Bahnhof auch mehr durchgehende Bahninien sinnvoll, wogegen dies das ÖV-Konzept 2035 nur für Regionalbusse vorsieht. Denn umstiegsfreie Fahrten entlasten nicht nur den Bahnhof von Umsteigenden. Dank kürzerer Reisezeiten können Züge und Busse auch mehr längere Autofahrten ersetzen.

Linienführung, Takt und Reisekomfort im Bus- und Zugangebot im 30-Minuten-Perimeter um Biel entscheiden damit, wie viele Menschen 2035 zwischen Bözingenfeld, Brüggmoos und Seevorstadt autofrei mobil sind und wie viele Staus es im dortigen Strassennetz gibt.

 

Auch für das ÖV-Konzept 2035 gilt „Besser geht immer!“

Warum das ÖV-Konzept keine weiteren erkennbaren Möglichkeiten für mehr Direktverbindungen enthält, ist unverständlich:

 

  • Halten IC 51 und RE-Kurse in Bözingenfeld oder Mett sowie IR 65 / S31-Kurse in Brügg

=> verkürzt dies Reisezeiten bis 50% und erspart am Bahnhof Biel umsteigen;

  •  von Neuchâtel, dem Jura und Bern über den Bahnhof Biel bis Mett oder Solothurn verlängerte Regionalzug- und Buslinien

=> reduzieren Umsteiger am Bahnhof und verbessern Komfort auf Innerstadtstrecken; 

  • in Ins startende und ab Täuffelen nur in Ipsach und am Bahnhof Biel haltende BTI-Kurse

=> entlasten Gemeinden am rechten Seeufer von Autoverkehr, in Kombination mit einer Bus-Direktverbindung Ipsach-Brügg-Bözingenfeld auch Bahnhof Biel und das Stadtbusnetz von Umsteigern;

  • eine durchgehende (wie gerade skizziert) statt drei separate Buslinien zwischen Jura, Bözingenfeld und Brüggmoos bis BTI

=> verkürzt die Reisezeiten vom Seeland zum östlichem Agglorand bis 50% und erspart Umsteigen am Bahnhofplatz Biel;

  • Buslinien aus dem Jura über die Seevorstadt zum Bahnzugang Aarbergstrasse

=> verkürzen Reisezeiten zu Schulen bis 50% und ersparen Umsteigen; 

  • bereits in Jura und dem Emmental bewährte Mitfahr-, Rufbus- und Saisonangebote

=> eröffnen Reiseoptionen aus oder zu Orten, die wie Bade- und Wintersportbereiche nicht ganzjährig mit Bus-und Bahnlinien erreichbar sein müssen.

  • ein zwischen Bözingen- und Mettstrasse mäandrierendes Busliniennetz;

=> macht Quartiere direkter erreichbar und erspart Umsteigen am Bahnhof Biel 

  • ein bis 2035 entwickeltes Regionalbahnkonzept

=> klärt, wo und wie ab 2050 Bahnlinien und neue Haltestellen zwischen Neuchâtel und Solothurn, Murten und Moutier, La Chaux-de-Fonds und Bern, Berner Jura und Seeland bequemer verbinden. Bspw. verknüpfte ein neuer Bahnhalt an der Leubringen Bahn oder der zum Neumarkt verlängerte Funi Leubringen Zentrum Biel und Umland deutlich komfortabler… 

Welche Auswirkungen hätten mehr Direktverbindungen für das Leben in und um Biel?

Mehr komfortable Zug- und Bus-Direktverbindungen entlasten nicht nur Innenstadt und Bahnhof Biel von Autoverkehr, Staus und Umsteigenden. Auch auf Zufahrtsstrassen aus der Region nach Biel dürften Autoverkehr, Staus und Umweltbelastungen sinken. Nicht nur in den einmalig schönen und daher national geschützten Weinorten am Bieler Seeufer wird dies neue Möglichkeiten zur verträglicheren Strassengestaltung schaffen.

In Biel würde ein System mäandrierender Buslinien mehr Quartiere, Betriebe, Bildungs- und Freizeitangebote rascher und bequemer verknüpfen. Deutlich weniger Busse auf Bahnhof-, Zentralstrasse und Oberen Quai eröffneten zudem zusammen mit dem schon häufig geflickten Zentralplatz neue Chancen, von Bahnhof bis zur Kanalstrasse sowie den Quais schrittweise eine durchgehende, neue Begegnungszone zu gestalten – und damit Einkaufenden, Handel und Gastronomie neue Erlebnisräume zu schaffen, die sich nicht nur in der Bahnhofstrasse sondern auch am Brunnenplatz und an den Quais geradezu aufdrängen.

Anregungen zur Weiterarbeit:

Auch in Biel werden Verkehrsprojekte seit Langem kontrovers diskutiert. Wie das ÖV-Konzept 2035 und gleichzeitig laufende Studien zum 2019 abgeschriebenen A5-Westast-Projekt sowie ein Nutzungskonzept für das Bahnhofsquartier zusammenpassen, ist trotz inhaltlicher Abhängigkeiten unklar. Was ein Umsetzen des ÖV-Konzeptes erschweren dürfte.

Zunehmende Diskussionen, wie Mobilität klimagerechter gestaltbar ist, bieten nun neue Gelegenheiten, mit Betroffenen rasch umsetzbare Massnahmen zu klären.

Unter anderem beim «Sowiduu» Rufbustest zwischen Brügg, Bellmund und Ipsach gesammelte Erfahrungen zeigen, dass damit in kurzer Zeit wirtschaftlichere Angebote erreichbar werden, als dies ohne Beteiligung Betroffener erarbeite Konzepte erlauben.

Beim Umsetzen des ÖV-Konzeptes 2035 mit Betroffenen in einem 30-Minuten-Perimeter um Biel sollten daher Chancen, Risiken und Wirkungen von Anregungen geklärt werden, die: 

  • Das Strassennetz der Region durch gefördertes Autofüllen im erweiterten Perimeter des Covoiturage Arc Jurassien-Netzwerkes ogy.de/arku entlasten.
  • Bahn- und Bus-Netzänderungen rascher umsetzbar und damit wirksamer machen;
  • regionale und kantonale Verkehrs- und Klimaziele schneller erreichbar machen.

Text:
Helmut – Mario Reiter ist Bauassessor und Dipl. – Ing. für Raumplanung. In 40 Berufsjahren wirkte er als Verkehrsplaner in Deutschland, Österreich und Schweiz. Er liebt es, bei seinen Arbeiten in interdisziplinärenTeams nachhaltige Mobilitätsinnovationen vorzubereiten, mit Betroffen weiterzuentwicklen und umzusetzen.

Karte:

Helmut – Mario Reiter hat zum „ÖV – Konzept 2035“ Vorschläge für neue Linien eingezeichnent. Die farbige Karte gibt es auf: www.vision2035.ch/oev-konzept2035

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