Vandana Shiva, Saatgut-Aktivistin, Ökofeministin und alternative Nobelpreisträgerin ist zutiefst davon überzeugt, dass die Natur Lehrerin einer neuen Inspiration für unsere Zeit sein sollte. Ein Gespräch mit ihr am World Ethic Forum in Zürich über Mut, lähmende Angst, fehlende Erdung, und warum sich seiner selbst bewusst zu sein für eine Rückkehr zu echter Gemeinschaft so wichtig ist.
Herzlich willkommen, wie schön Sie zu treffen! Wie wir eben gesehen haben, werden Sie immer wieder wie ein Star mit viel Bewunderung empfangen. Wie gehen Sie mit dem Ruhm um?
Nun, ich fühle mich nicht wie ein Star. Wissen Sie, ich nehme die herzlichen Begrüssungen mit Dankbarkeit entgegen, aber was ich tue, das tue ich, ob ich nun so behandelt werde oder nicht. Ich werde auch mit Steinen beworfen, aber ich höre nicht auf zu tun, was ich tue, nur weil Monsanto nicht glücklich darüber ist. Denn es ist wahr, dass Themen wie Gentechnik oder Biodiversitätsverlust immer mehr an Fahrt gewinnen und mehr Resonanz finden.
Sie sind also glücklich über den Einfluss, den Sie haben?
Ich glaube nicht, dass ich den Einfluss habe. Ich glaube, die Menschen spüren von selbst, dass es Zeit für Veränderungen ist.
Aber Sie sind solch eine Inspiration! Jedes Mal, wenn ich Sie sprechen höre, möchte ich losziehen und die Welt retten.
Ach, ich glaube, das liegt daran, dass ich immer die Wahrheit ausgesprochen habe, ohne Kompromisse einzugehen. Die Menschen haben so viel Angst davor, die Dinge auszusprechen, auch wenn sie fühlen, dass etwas nicht stimmt. Es macht den Menschen viel Mut, wenn jemand vorangeht und die Dinge beim Namen nennt.
Wovor haben die Menschen denn Angst?
Ihre grosse Angst ist, wie ein Ausgestossener behandelt zu werden – weil die Propagandamaschine, die läuft, so stark ist. Sie trauen ihrer Wahrnehmung nicht. Lese ich zum Beispiel die ersten zwei, drei Sätze des neuen GVO-Gesetzes-Vorschlags (siehe Fussnote), sehe ich gleich, dass das alles Blödsinn ist! Aber man hat den Menschen so viel Angst gemacht, dass sie sich nicht trauen, denjenigen die Stirn zu bieten, die Unsinn erzählen. Ich denke also, wir müssen alle wie das kleine Kind werden, das sehen konnte, dass der Kaiser keine Kleider anhatte, und dies auch laut sagte. Es brauchte den unschuldigen Mut eines Kindes, um die Wahrheit auszusprechen.
In all den Jahren haben Sie diese unglaubliche Arbeit geleistet. Was tun Sie, um Ihre Motivation aufrechtzuerhalten?
Ich habe das Glück, in einer sehr spirituellen Familie aufgewachsen zu sein. Ich denke, die wichtigste Übung ist es, sein Ego aus dem Weg zu halten. Zweitens sollte man sich die Zeit nehmen, sein spirituelles Wesen zu pflegen und zu nähren. Ich erwähnte die mechanische Philosophie in meinem Input-Referat. Eine derer Nachwirkungen ist, dass sie uns blind für alles gemacht hat, was nicht materiell ist und nicht gemessen werden kann. Dabei sind es Beziehungen, die die Welt zusammenhalten. Beziehungen werden gelebt und erfahren, nicht von aussen gemessen. Auch die spirituelle Dimension des Lebens wird nicht gemessen, sie wird erlebt. Das mechanische Denken leugnet diese Dimensionen. Dies hat dazu geführt, dass den Menschen heute die Verbundenheit mit den anderen Lebewesen und unserer Erde fehlt. Dadurch haben sie kein wirkliches Gefühl für richtig und falsch und vor allem kein Gefühl für Wahrheit und Lüge mehr. Warum lassen sich so viele Menschen so verwirren von der Propagandamaschine? Das liegt daran, dass sie nicht geerdet sind.
Hier in der Schweiz leben wir im Herzen der Bestie. Haben Sie eine Idee, wie wir sie zu Fall bringen können?
Nun, da gibt es zwei Möglichkeiten: Wenn du darüber nachdenkst, wie man sie zu Fall bringen kann, denkst du schon wie die Bestie. Aber das funktioniert nicht. Der zweite Weg ist, persönlich zu wachsen. Sei der beste Mensch, der beste Mitbürger und Nachbar, der du sein kannst. Und durch deine Praxis, dein Beispiel entlarvst du die Lügen der Bestie. Nichts ist so kraftvoll wie dies!
Im Interview mit der Sonntagszeitung, sagen Sie abschliessend: „Wir brauchen sie nicht“, wie meinen Sie das?
Das „sie“ ist die kleine, winzige Koalition, ich nenne sie „Das Eine Prozent“. Diese Wenigen haben die Weltinstitutionen geschaffen, die Grosskonzerne, die Weltbank, das Weltwirtschaftsforum (WEF). Und jetzt verstecken sie sich hinter ihnen und lassen es so aussehen, als ob eine anonyme Institution handeln würde. Dadurch haben die Menschen das Gefühl, dass sie nichts unternehmen können, dass sie machtlos sind gegen so viel Grösse und Einfluss. Doch nichts von alledem ist aus der Gesellschaft heraus entstanden, nichts wurde demokratisch beschlossen. Jedes Mal, wenn die Menschen eine Entscheidung für die Freiheit getroffen haben, wurde eine neue Institution geschaffen. Nehmen wir das Beispiel von Indien: Kaum hatten wir uns von der Kolonialmacht befreit (Anm.d.Red. 1947), wurde die Weltbank gegründet – um uns von Neuem zu kolonialisieren. Brauchen wir denn noch mehr Institutionen, mehr Gift, mehr GVOs, mehr Junkfood? Nein, brauchen wir nicht! Doch das ist alles, was sie im Moment zu bieten haben. Wir brauchen sie nicht. Wir müssen selber kreativ sein und Systeme schaffen, in denen wir uns um die Erde und die Natur kümmern.
Wie das?
In der Natur ist alles schon vorhanden. Wir können unsere Wahrnehmung schulen, die Natur beobachten, uns von ihr inspirieren lassen. Und vor Allem sollten wir sie schützen. Zum Beispiel ist heute noch ca. ein Drittel der Fläche der Schweiz landwirtschaftliches Land. Dies könnte man nutzen und neue, kreative Formen der Landwirtschaft entwickeln, die die Natur nicht schädigen, sondern unterstützen und regenerieren. Indem wir kreativ sind und neue, alternative Wege gehen, setzen wir ein starkes Zeichen.
Dies machen wir in kleinem Rahmen schon in unserer Stadt. Wir tauschen Saatgut aus, kreieren Gärten und Gemeinschaften. Nur manchmal sind wir frustriert weil es scheint, dass nur wenige Menschen bereit sind, neue Wege zu gehen und sich zu engagieren. Erleben Sie dies auch?
Ich habe schon vor langer Zeit erkannt, dass meine Verantwortung darin liegt, mich selbst zu verändern. Andere zu verändern, das ist nicht meine Aufgabe. Wenn ihr Dinge tut, die euch selbst und eurer Umgebung Freude bringen, die Früchte tragen, dann werden sich andere von selbst davon inspirieren lassen. Es bringt nichts, die Menschen missionieren zu wollen. Aber ihr könnt ihnen aufzeigen, dass eine bessere Zukunft möglich ist; dass jeder die Möglichkeit hat, eine bessere, lebenswertere Welt mitzugestalten.
Wir scheinen unsere Fähigkeit, in Gemeinschaften zu leben, verloren zu haben. Wir leben in einer Welt des Individualismus. Was können wir tun, um wieder näher zueinander zu finden?
Erstens, sich seiner selbst bewusst sein. Auch im Westen hattet ihr Gemeinschaften. Diese sind absichtlich zerstört worden. Der Individualismus ist künstlich geschaffen worden. Die neoliberale Ideologie wurde auf der Grundlage einer fragmentierten Gesellschaft geschaffen. Dies spielt ihr zu.
Im Grunde sind wir spirituelle Wesen, wir sind Gemeinschaftswesen. Wenn wir das nicht erkennen, sind wir bereits in die Falle getappt, haben wir uns bereits selbst eingesperrt. Wenn ich mir bewusst bin, dass ich Teil einer Gemeinschaft bin, werde ich erstaunliche Wege finden, dies zu leben. Ja, ich habe meine Gewohnheiten, du hast deine Gewohnheiten, aber komm, wir finden Wege, gemeinsam zu leben. Wenn ich jedoch in einer individualistischen Denkweise feststecke mit festen Vorstellungen darüber, wen ich, wie und wann, um mich herum haben möchte, und dadurch immer intoleranter werde, baue ich mir mein eigenes Gefängnis. Uns wird weisgemacht, dass wir nur mit Menschen zusammenleben können, die genauso sind wie wir selbst. Das ist Unsinn. Wir brauchen die Vielfalt. Wären wir alle gleich, dann könnten wir nichts voneinander lernen. Unsere Unterschiede sind genau das, was unsere Welt so spannend und reich macht.
Nehmen wir zum Beispiel den Boden, die Erde. Der Boden besteht aus unzähligen unterschiedlichen Mikroorganismen. Dadurch entsteht eine Symbiose, die allen zu Gute kommt. Dadurch wird der Nährboden für Leben und Wachstum gelegt. Wir brauchen diese biologische Vielfalt. Wir müssen Befreiung neu als Gemeinschaftlichkeit definieren – Erdengemeinschaft und soziale Gemeinschaft.
Wir neigen dazu, uns angesichts all der aktuellen Probleme in der Welt machtlos und überfordert zu fühlen. Haben Sie einen Ratschlag, wie wir eine positive Denkweise kultivieren können?
Wenn wir die einschränkende Denkweise überwinden, dass wir besser sind als andere Arten, dass die Natur keine Intelligenz, keine Organisation hat, dann eröffnen sich uns alle möglichen Welten. Wir beginnen, mit anderen Arten zu interagieren, wir fangen an, unsere Verbundenheit mit dem Netz des Lebens, das alle Wesen einschliesst und mit allen möglichen Strömungen verbunden ist, wahrzunehmen. Wenn deine Vorstellungskraft versiegt, wende dich an die anderen Spezies. Beobachte wie eine Biene arbeitet. Wie funktioniert ein Pilz? Wie funktioniert der Boden? Und dann merkst du, wenn der Boden diese Fähigkeit hat, dann hast du sie auch, denn alles, das existiert, existiert auch in dir. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Natur Lehrerin einer neuen Inspiration für unsere Zeit sein sollte, weil die menschlichen Fähigkeiten durch alle Arten von Manipulation so stark eingeschränkt worden sind. Indigene Völker sollten unsere Lehrer sein, Frauen sollten unsere Lehrerinnen sein. Ihre Vorstellungskraft und ihr Sinn für Verbundenheit sind noch intakter geblieben. Es sind lebende Beziehungen, die wir kultivieren sollten.
Das Interview geführt haben:
Angela Herrmann ist ayurvedische Köchin und Körpertherapeutin. «Ich liebe es, mit frischen und natürlichen Lebensmitteln heilende und nährende Gerichte zu kreieren. Ich sehne mich nach einer Welt, in der die Menschen frei und in Frieden mit sich selbst und Mutter Erde sind, eine Welt, in der alle Wesen respektiert und gleich behandelt werden. Eine Welt, die grünt, blüht und voller Schönheit und Harmonie ist.»
Mathias Stalder ist Gründer des Netzwerks „Stadt Ernähren“ und der Foodcoop Biel. «Mein Ziel ist es, Netzwerke für die lokale Lebensmittelversorgung zu schaffen. Mich interessiert die Förderung neuer Strukturen, jenseits von Markt und Staat, um damit Menschen und Organisationen und neue Lebensweisen zu verbinden und zu verankern.»
Herzlichen Dank an das World Ethic Forum, in dessen Rahmen wir das Interview führen konnten: www.worldethicforum.com
Weitere Infos: https://www.slowfood.de/aktuelles/2023/neuer-vorschlag-fuer-einen-eu-rechtsrahmen-zur-deregulierung-neuer-gvos-ist-besorgniserregend
Die EU-Kommission möchte mit einem Gesetzesvorschlag die bisherigen strengen Gentechnik-Regeln für Lebens- und Futtermittel deutlich lockern. Das betrifft gerade neue Gentechnik-Methoden (Crispr/Cas). Der Vorschlag wird von führenden Umweltverbänden und NGOs kritisiert. Bemängelt wird u.a. die mangelnde Kennzeichnungspfl icht und die fehlende Risikoprüfung. Der Entwurf muss noch vom Europäischen Parlament und den EU- Regierungen gebilligt werden.