Gefährdung der Gesundheit am Arbeitsplatz, Stress mit dem Chef, Kündigung, Erwerbsausfall, Kurzarbeit oder andere Problemn wegen der Coronakrise – Über das Corona-Solifon unterstützen sich Arbeiterinnen und Arbeiter gegenseitig. Ein Gespräch mit Mitgründer Johannes Wetzel zur organisierten Selbsthilfe in Zeiten der Krise.
Ein Jahr Corona-Solifon. Auf welche Erfahrungen blickt ihr zurück?
Johannes Wetzel: Solifon ist eine Initiative des basisgewerkschaftlichen Umfelds vor allem aus der Deutschschweiz – spontan ins Leben gerufen im März 2020, also gleich zu Beginn der Coronapandemie. Es war wirklich schön mit welcher Selbstverständlichkeit einige entschlossene und motivierte Menschen das Solifon so schnell auf die Beine gestellt haben, ohne dass wir uns alle untereinander kannten. Die Wissensweitergabe und Selbstermächtigung war unser zentrales Motiv. Alle von uns hatten unterschiedliche Grundlagen, was Arbeit-, Sozial- und Mietrecht angeht. Alles in allem konnten wir rund 100 Anrufenden eine fundierte Rückmeldung geben, sie in ihrer Auseinandersetzung unterstützen oder an andere Stellen weiterleiten. 20 bis 30 Menschen beteiligten sich gesamthaft an der Struktur, davon im Kern rund 10 Menschen.
Was hat dich persönlich am meisten geprägt?
Für mich ist es gesamthaft ein sehr persönliches berührendes Erlebnis, weil ich mich in den Menschen, die angerufen haben, wiedererkannt habe, in ihrer Ohnmacht und Ausgeliefertheit, aber auch in ihrer Wut und ihrem Trotz. Vielleicht so etwas wie Klassenselbsterkenntnis. Ich zumindest komme von dort unten und kenne Armut, Unsicherheit und Ohnmacht gegenüber den sozialen Verhältnissen, und auch die Arroganz der wohlhabenden oder gebildeten Gesellschaftsteile. Weiter gab es da zwischen allen Beteiligten den gemeinsamen Nenner, in die Gesellschaft hineinwirken zu wollen. Es war dann auch ungewollt ein sehr praktisches Statement gegenüber all den paralysierten und abgehobenen Kreisen, gerade auch aus der klassischen Linken, die bewusst und auch unbewusst Teile der Bevölkerung ausblenden, anstatt den Arsch hochzubekommen und sich untereinander und mit anderen Marginalisierten dieser Gesellschaft zu organisieren, um die Krise zu überstehen. Das Solifon ist für mich definitiv eine Form von «Direkter Aktion», die etwas Konkretes bewirkt und ein Bewusstsein schafft. Persönlich gibt mir diese Erfahrung viel Motivation für die basisgewerkschaftliche Arbeit.
Was waren und sind konkrete Fälle aus der Praxis? Wie konntet ihr helfen?
Da waren fast ausschliesslich Arbeiter*innen mit Migrationserfahrung und ohne wirklich sicheren Aufenthaltsstatus, also maximal B-Bewilligung – aus den Branchen Pflege, Gastronomie, Reinigung, Baugewerbe, und ein paar Dolmetscher*innen, meistens mit Temporäranstellungen. Es ging z.B. um fehlenden Lohn oder darum, die Lohnfortzahlungspflicht beim Arbeitgeber durchzusetzen. Andere hatten Unklarheiten bei der Kurzarbeitsentschädigung. Mit ein paar Angestellten mussten wir vor die Schlichtungsbehörde (Vermittlungsstelle bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten). Insgesamt kommen wir jetzt auf 40’000 – 50’000 Franken erstrittenen Lohn für die Kolleg*innen, die angerufen haben. Da waren schon einige wirklich tolle Momente dabei, wenn wir gemeinsam etwas erreichen und uns über Siege freuen konnten.
Wo seid ihr an Grenzen gestossen?
Viele haben Angst, juristisch gegen den Betrieb vorzugehen, offensichtliches Unrecht anzukreiden, und leben deshalb lieber mit harten persönlichem Einbussen. Es hat sich uns gezeigt, wie viele Firmen Dreck am Stecken haben und ihre Arbeiter*innen nach Strich und Faden verarschen. Es ist sehr kräftezehrend, Kolleg*innen in ihren Auseinandersetzungen zu unterstützen, wenn du eigentlich gerne einfach den Betrieb lahmlegen würdest, eigentlich am liebsten die Chefs in ihren Büros oder zuhause besuchen gehen würdest, um ihnen ins Gesicht zu sagen, wie sehr sie sich schämen sollten, so mit dem Leben ihrer Angestellten umzugehen. Es war sehr bedrückend, Arbeiter*innen mit Migrationserfahrungen zu erleben, z.B. Tellerwäscher in Luxusrestaurant oder Hotels, mit meistens eh schon sehr schlechten Anstellungsverhältnissen und schmalem Lohn, von denen einige dann zu Beginn der Krise durch alle Maschen des Sozialstaates fielen und nirgends finanziell berücksichtigt wurden. Diese Menschen haben keine Lobby.
Wie haben die Betroffenen auf euer Angebot reagiert?
Ich denke, es ist für viele Leute schwierig zu verstehen, dass wir selbst als betroffene Arbeiter*innen in der Coronapandemie andere Arbeiter*innen selbstverständlich ohne Gegenleistung unterstützen. Zu verstehen – auch bei den erheblichen Sprachbarrieren –, dass wir keine staatliche oder privatwirtschaftliche Hilfsorganisation sind, deren Dienstleistung Mensch einfach so abgreifen kann und wir dann alles regeln. Das hinterliess oft ein flaues Gefühl bei einigen von uns. Aber es gab genauso die Menschen, die uns da ganz richtig gespürt und verstanden haben. Wir konnten bisher eine soziale Lücke bedienen, unbürokratisch und kostenlos, so dass selbst offizielle Stellen Menschen an uns verwiesen haben. Über das Telefon kamen verschiedene Leute und Gruppen zusammen und lernten sich über die solidarische Praxis kennen. Diese Synergien können wir sicher für zukünftige Organisierungen und Kämpfe nutzen.
Was nimmst du als wesentliche Erkenntnis mit?
Die Leute, die mit uns in Berührung kommen, nehmen den Gedanken der unbedingten Solidarität mit und merken ganz praktisch, dass wir als Arbeiter*innen nicht ohnmächtig sind und sehr konkret und selbstbewusst handeln können. Vor allem für Arbeiter*innen mit Migrationserfahrung ist dieses Empowerment sehr wichtig, um die Angst, erniedrigt zu werden, in den Hintergrund zu drängen und sich wie ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft zu fühlen, dass nicht alles mit sich machen lässt und seine Rechte und Würde einfordert. Ich denke, das gelingt in kleinen Schritten, und ich hoffe, dass sich dieser Geist mit der Zeit vervielfacht. Das Solifon konnte Wissen und Selbstbewusstsein weitergeben. Wir können uns als Lohnabhängige selbst helfen, das Wissen existiert, es muss nur angeeignet und weitergegeben werden. Und je mehr Menschen dieses Wissen und Bewusstsein erreicht, um so mehr Dynamik entwickeln wir, auch im Arbeitsalltag.
Und warum ist der anarchistische Organisationsansatz euch am erfolgversprechendsten?
Vielleicht weil wir fast alle schon aus selbstorganisierten Zusammenhängen kommen. Das Konzept steht für uns aber gar nicht so sehr im Mittelpunkt. Anarchistischer Organisationsansatz trifft es, wenn du so fragst, allerdings für das Solifon eigentlich ganz gut. Es ist für mich im Rückblick schon ein Erfolgserlebnis anarchistischer Praxis. Die Basis- und Selbstorganisierung von Betroffenen funktioniert in diesem Bereich, kann die «Vergessenen» und «Unsichtbaren» sichtbarer machen und ihnen im besten Fall eine Verbesserung ihrer Lebensumstände bringen. Ich bin überzeugt, dass das nächste Mal noch mehr Leute mit Know-How dabei sind und wir wesentlich dreister unsere Positionen und Forderungen vorbringen, auch was die Aktionsformen angeht. Ein Schritt folgt auf den nächsten und dieser Teil unserer Organisationen ist vielleicht der wertvollste: Der Versuch, alle Beteiligten mitzunehmen und sie ernst zu nehmen. Es ist vielleicht langwierig und holperig, aber auch am nachhaltigsten und vertrauensvollsten. Wir müssen weiter lernen, anderen Menschen freizügig und offenherzig das nötige Werkzeug zur Hand zu geben. Das Solifon hat da einen kleinen solidarischen Beitrag zum Handwerkszeug geleistet.
Interviewer: Mathias Stalder, ist Gewerkschaftssekretär bei Uniterre, zweifacher Vater und lebt in Biel.
Interviewter: Johannes Wetzel, Jahrgang 1989, geboren in der ehemaligen DDR, aus einer Arbeiter*- und Bäuer*innenfamilie. Vater zweier Kinder. Asbestsanierer, Schadstoffdiagnostiker, genossenschaftlicher Hausreparateur und Allrounder, Mitglied der Basisgewerkschaften FAU und IWW.
Illustration: Irina Lezaic, 21 Jahre alt, ist gelernte Grafikerin und vor Kurzem nach Biel gezogen. Mit einem Skizzenbuch, einem guten Kaffee und ganz viel Sonne ist ihr Tag perfekt.
Drei erfolgreiche Fälle des Solifons:
- Ein Temporärbüro mit einem narzisstischen Chef, der versucht hat Kurzarbeitsentschädigung einfach nicht auszuzahlen, bzw. nicht zu beantragen: Eine Gruppe von rund 30 Angestellten tat sich zusammen und leistete viel Vorarbeit. In Rücksprache mit uns übten sie Druck auf die Firmenleitung aus. Die Kurzarbeitsentschädigung wurde beantragt, Getrickse und illegale Abzüge des Chefs wurden beanstandet und kritisiert. Der Austausch findet weiterhin statt.
- Einer anderen Anruferin wurde missbräuchlich aus Rache von ihrer Arbeitgeber*in gekündigt und wir erwirkten eine Entschädigung von 2000 Franken vor der Schlichtungstelle.
- Ein Spüler, ursprünglich aus Eritrea, kündigte seinen jahrelangen Job um in der Kantine einer Hotelfachschule zu arbeiten. Leider fiel sein Stellenantritt in den ersten Lockdown. Sein Arbeitgeber hielt ihn 3 Monate ohne Arbeit hin, um ihm dann auf Ende Monat zu kündigen. Bis da hatte er noch keinen Lohn und keine Kurzarbeitsentschädigung erhalten und musste sich für Miete und Lebenserhaltungskosten verschulden. Wir erstritten zwei Monatslöhne vor der Schlichtungsstelle.