Unkategorisiert

Vertrauen im Lockdown

In der offenen Stadt bin ich zuhause. Hier kann ich kommen und gehen, wie es mir beliebt. Kann heimkehren von zu grossen Reisen, kann ankommen und auftanken. Me ressourcer.  Ich kann Unbekannte treffen, mich auf ein Gespräch einlassen, von der Welt erzählen.

Biel/Bienne sei die kleinste Metropole der Welt, hat ein Dichter gesagt. Ich kann die Stadt mit meinen Schritten durchmessen. Dem Wasser folgen von der Schlucht bis zum See. In einer Stunde. Hier kann ich flanieren, hier kann ich sein.

Dann hat uns das Virus befallen, hat alles verändert. Die Regierung hat den LOCKDOWN verordnet. Wir sollten zuhause bleiben, damit das Virus nicht überspringen kann von Kontakt zu Kontakt. Die Strassen wurden leer und kalt, wir froren ein. Da war kein Ankommen mehr, keine Bleibe.

Die offene Stadt im LOCKDOWN – ein krasser, eklatanter, himmelschreiender Widerspruch. Ça me révolte!

Und doch war ich einverstanden. Ich habe die Bilder gesehen. Die Bilder von den Spitälern in der Lombardei, von den erschöpften Ärzten. Die Bilder aus Bergamo, wo die Toten nachts aus der Stadt gefahren werden mit Militärcamions.

Wir müssen vernünftig sein. Auf Kontakte verzichten, damit wir das Virus eindämmen, damit die Spitäler standhalten können und nicht zusammenbrechen. 

Mich friert, die Stadt wärmt mich nicht mehr. Der Barista, mein Zufallsfreund, schenkt den Kaffee über die Gasse aus. Und verkündet den Passanten, es sei alles nur Angstmacherei, man solle sich nicht einschüchtern lassen, das Virus sei nicht schlimmer als eine gewöhnliche Grippe. Mein Freund jagt mir den Schrecken ein, die Angst, dass wir uns nicht verstehen. Ich fliehe aus der Stadt. Wie kann ich vernünftig sein ohne meine Kontakte? Wie ordne ich meine Gedanken?

Ich will die Wahrheit in den Tatsachen suchen. Die Bilder aus der Lombardei. Nach Tagen der Unruhe fahre ich mit dem Velo zur Bar, wage das Gespräch auf der Gasse. Die Bilder sind gestellt, sagt der Barista.

Das macht mir Angst. Ich kann meinen Zufallsfreund nicht mehr erreichen. Es macht keinen Sinn, zu reden.

Nein, die Medien liefern uns keinen Einheitsbrei. Ich verfolge täglich auf dem PC den Point de Presse aus dem Bundeshaus. Da stehen die Verantwortlichen von Regierung und Verwaltung Red und Antwort. Es kommen kritische Fragen aus allen Winkeln des Landes, und es gibt Erklärungen, substantielle Begründungen. Das überzeugt mich. So kann Vertrauen entstehen, finde ich. So tasten wir uns voran und suchen zusammen das Licht am Ende des Tunnels.

Ein alter Mediator hat geschrieben:

«Ich vertraue den Menschen, die mir vertrauen. Und ich vertraue den Menschen, die mir nicht vertrauen. Denn so mehre ich das Vertrauen.»

Ich denke, der weise alte Mann macht einen Sprung. Er springt ins Ungewisse. Das braucht Mut. Einer muss damit anfangen, er ermutigt damit vielleicht einen Andern, und dann geht es hin und her, es entsteht ein Gewebe, un tissu social.

Ich will zurückschreiben : «ich habe Vertrauen in die offene Stadt.» Doch ich merke, der Satz bleibt abstrakt. Wer ist die Stadt? Konkrete Menschen, Menschen wie du und ich. Und wie der Barista. 

Auf Französisch sagt man «faire confiance». 

Je te fais confiance. Wir machen das.

Ich will dabei sein. Wenn die Terrassen wieder aufgehen. Wenn die Stadt aufatmet. Wenn die Menschen sich auf dem Zentralplatz in die Sonne setzen. Ich will das erleben, wie die Verkehrsteilnehmer sich wieder behutsam kreuzen, mit Augenmass, und wie die Fontäne wieder sprudelt vor dem Kino Apollo.

Und ich werde das Gespräch wieder suchen mit dem Barista.

Text: Gerhard Pfister, 74, pensionierter Soziologe und Mediator. Hat in Biel/Bienne das Flanieren entdeckt und darüber kurze Prosatexte geschrieben. Sein Buch «Bieler Miniaturen» erschien 2019 im Kulturverlag herausgeber.ch.

Gerade kam sein zweites Buch heraus, „Balladen am Fluss“ (112 Seten, ISBN 978-3-905939, 25.–). Es ist im Buchhandel erhältlich.

Foto: Gerhard Pfister

image_pdfPDFimage_printPrint
Hilfe zur Selbsthilfe im Armutsquartier >>
Teilen: