Gesellschaft Transition

Vom Wert solidarischer Gemeinschaftlichkeit

In jüngster Zeit werden wir uns der menschlichen Verletzlichkeit besonders bewusst. Klimakatastrophe, Corona-Virus, Ukrainekrieg, sicherheitspolitische Fragen, wirtschaftliche Versorgungsengpässe, gesellschaftliche Gräben sind einige Stichworte dazu. Das rücksichtslose individualistische Streben nach Eigennutz, am reinsten in der privaten Wettbewerbswirtschaft realisiert, nähert sich seinem Ende. Doch es werden auch vermehrt Ansätze zur Kooperation diskutiert. Grundeinkommen und Bürgerdienst sind zwei Ideen, die zeigen, dass Zusammenarbeit und Gemeinschaftlichkeit zu kurz gekommene, aber durchaus aktuelle Werte sind.

Unsere gängige Wertehierarchie wird durcheinandergewirbelt. Das im modernen Wirtschaftssystem verankerte individualistische Ego-Prinzip des Eigennutzes taugt kaum noch. Seit der Aufklärung Ende des 17. Jahrhunderts ist der Individualismus zum dominanten gesellschaftlichen Leitprinzip geworden und geht heute der sozialen Eingliederung des Einzelnen vor. Das ‘Haben’ kommt vor dem ‘Sein’, das ‘Ich’ vor dem ‘Wir’. Das egoistische materielle Streben aller Individuen ist inzwischen bestimmend für die gesellschaftliche Ordnung. 

Vollständig verwirklicht ist dieses Prinzip im wirtschaftlichen Bereich. Privateigentum steht praktisch über allem, Wettbewerb auf dem Markt ist das entscheidende Kriterium, das die gesellschaftliche Ordnung massgeblich bestimmt. Alle Schleusen sind geöffnet für die Kapitalverwertung mit ihren vielen Profitoptionen. ‘Wenn jeder für sich schaut, geht es allen gut’, lautet einer der modernen, nicht weiter hinterfragten Leitsätze. Der deutsche Philosoph und Zukunftsforscher Richard David Precht bringt es so auf den Punkt: «Aus Staatsbürgern werden Konsumenten. Und statt Gemeinsinn regiert Eigennutz».   

Der Privatkapitalismus in den westlichen Ländern hat insofern Wort gehalten, als er materiellen Fortschritt für alle gebracht hat (für die einen mehr und die anderen weniger, aber immerhin), den Hunger beseitigt, die Gesundheit und die Lebenserwartung verbessert, die Mobilität des Einzelnen unglaublich erweitert und mit immer weiteren Wachstumsraten alles noch gesteigert hat. Dabei kommt dem Staat eine wichtige, aber nur ergänzende Rolle zu: er schafft und garantiert den rechtlichen Rahmen und springt überall dort ein, wo es Probleme gibt, die die private Wirtschaft nicht lösen kann oder nicht lösen will, weil dies mit Kosten verbunden ist. 

Rote Linien überschritten

Doch nun wird immer mehr Menschen bewusst, dass dieses egogetriebene Profitstreben nicht mehr weitergehen kann. Zu sehr geht es auf Kosten der ärmeren Länder und Völker, zu sehr befördert es den Raubbau an natürlichen Ressourcen und zu offensichtlich bewirkt es immer bedrohlichere punktuelle Umwelt- und globale Klimaschäden. Es führt auch zu immer grösseren Einkommens- und Vermögensunterschieden und unterläuft damit Grundideen demokratischer Staatsverfassungen. Diese Entwicklung hat auch zu Entsolidarisierung im sozialen Zusammenhang geführt, zu psychischen Entfremdungsproblemen und zu vermindertem Verpflichtungsgefühl des Einzelnen für das Ganze. Wirtschaftspoltisch gesprochen heisst dies, dass wir mit dem exponentiellen globalisierten Wachstum zu viele rote Linien überschritten haben, als dass es so noch weitergehen könnte.

Dass wir an einem Wendepunkt angekommen sind, zeigt sich an ersten sozialen Krisenzeichen, an Ermüdungserscheinungen, an Ansätzen von Widerstand und an gedanklich vorweggenommenen hoffnungsvollen Alternativen. In der Schweiz ist das erkennbar etwa am politischen Erfolg der Grünen, an der Klimabewegung, der wachsenden Biolandwirtschaft, dem steigenden Interesse an sozialeren Wohnformen, der Suche nach einfacherem Leben mit mehr Sozialkontakten, an vermehrter Zuwendung zu inneren Werten wie Mitgefühl und Liebe, zu mehr Bescheidenheit und Demut, zu Solidarität, zu ganzheitlichen spirituellen Dimensionen… 

Zum Beispiel Grundeinkommen

Ein Projekt, das hierzulande politisch angelaufen ist, will das bedingungslose Grundeinkommen für alle in einer Neuauflage vors Volk bringen. Die Unterschriftensammlung für die Initiative «Leben in Würde – Für ein finanzierbares bedingungsloses Grundeinkommen» läuft und eine zweite Volksabstimmung ist wahrscheinlich 2024 zu erwarten. In die Bundesverfassung soll der folgende Text aufgenommen werden: «Der Bund gewährleistet den in der Schweiz niedergelassenen Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen. Dieses soll ein menschenwürdiges Dasein in Familie und Gesellschaft, die Teilnahme am öffentlichen Leben und den Einsatz für das Gemeinwohl ermöglichen». Im Zentrum steht also nicht das Ziel individueller Nutzenmaximierung, sondern es ist primär auf die Gemeinschaft ausgerichtet. Ein gesichertes Basiseinkommen soll eine relative Entlastung vom individuellen Erwerbs- und Einkommensdruck bringen und Energien freisetzen für die besonders von Frauen geleistete Care-Arbeit, für soziale Engagements und für kulturelle Aktivitäten. Das bedingungslose Grundeinkommen wäre ein echter Systemwandel.

Zum Beispiel Bürgerdienst/Service-citoyen

Ein zweites aktuelles Beispiel eines grundlegend neuen Projektes ist die Initiative für einen allgemeinen BürgerInnendienst. Auch hier ist die Wertebasis nicht mehr individualistisch, sondern auf die solidarische Gemeinschaft ausgerichtet. Die Initiative «Für eine engagierte Schweiz (Service-citoyen-initiative)» ist kürzlich lanciert worden. In die Bundesverfassung soll ein Bürgerdienst für alle aufgenommen werden: «Jede Person mit Schweizer Bürgerrecht leistet einen Dienst zugunsten der Allgemeinheit und der Umwelt». Dieser Dienst könnte in der Armee oder dem Zivildienst geleistet werden, aber auch etwa im Gesundheitswesen oder im Umweltbereich, also überall dort, wo Dienst fürs Gemeinwohl gefragt ist. Die Unterschriftensammlung ist lanciert, und es ist zu wünschen, dass auch diese Initiative eine breite Diskussion auslöst und sich irgendwann realisieren lässt. Die Volksabstimmung dürfte frühestens 2025 durchgeführt werden.

Die Idee des Bürgerdienstes ist schon weitergedacht worden, etwa von Richard David Precht. Er sieht zwei Pflichtjahre für alle Bürger vor, nämlich ein erstes soziales Jahr für alle jungen Menschen nach dem Schulabgang, und ein zweites für alle Menschen im Renteneintrittsalter. So könnten sich die junge wie die ältere Generation in die Gesellschaft einbringen und im Allgemeininteresse kooperativ nützlich machen. 

Die Ideen des bedingungslosen Grundeinkommens und des Service-citoyen sind beide Ausdruck eines gemeinschaftlichen Bewusstseins, das auf Kooperation und Solidarität baut und im Vergleich zum Kampf aller gegen alle sozial verträglicher und auch weit resilienter wäre. Gemeinschaft, Kooperation und solidarisches Mitgefühl sind die Werte der Zukunft!

Text:
Göpf Berweger (77), hat Ökonomie und Soziologie studiert und war beruflich für verschiedene NGOs in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Er ist Mitbegründer der Gesellschaft für bedrohte Völker (Schweiz) und lebt seit zwei Jahren in Biel.

Foto:
Göpf Berweger, Holzverlad in Indien, 1989

Literaturhinweise
«Die Service-public-Revolution.», Rotpunktverlag 2021

«Eine Ökonomie der kurzen Wege. Von der Marktwirtschaft zur Bedarfswirtschaft», Rotpunktverlag 2021

«Postwachstum? – Aktuelle Auseinandersetzungen um einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel», edition 8 2022

«Von der Pflicht», Goldmann Verlag 2021

«Gemeinschaftlich – in Communio – leben», Sonnendruck Verlag 2020

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