Unkategorisiert

Blick zum Fenster raus

Wie eine neue Siedlung entsteht, aus dem Einzelnen ein kleines Dorf. Ein Einblick in die Wasenstrasse – Wohnbaugenossenschaft mit grosser sozialer Durchmischung und noch grösserem Potenzial.

Friedensreich Hundertwasser (1928 – 2000), der bekannte Künstler und Architekt, vehementer Gegner jeder Standardisierung und «gerader Linie», sprach von drei Häuten, die uns umgeben. Die erste Schicht ist unsere natürliche Haut, dann folgt die der Kleider und als letzte die Mauer, unsere Wohnung oder Haus. In allen soll sich der Mensch wohlfühlen, allesamt sind intim und persönlich. Die Fenster, so Hundertwasser, sind Brücken zwischen dem Innen und Aussen. 

Als einer der ersten Mieter lebe ich seit August 2016 in der Siedlung Wasenstrasse, welche Teil der Bieler Wohnbaugenossenschaft biwog ist. Die Wohnungen fanden nur zögerlich neue Bewohner*innen; das Leben, erschwert durch die Baustelle des Neubaus, fand sich nicht zurecht. Das war der Ausgangspunkt der Equipe Bonwasinage, von drei Personen ins Leben gerufen, um der Siedlung mehr Leben einzuhauchen, um sich wohlfühlen zu können. 

Meine Fenster aus dem Wohnzimmer führen in den Garten. Die Renovation hat diesen Garten geradegestutzt, er musste erst wieder wildgemacht werden. Neuerdings soll auch die Biodiversität gefördert werden: Bereits wurde ein Plan entwickelt, der diesen Herbst umgesetzt werden soll. Frei von Konflikten ist ein Gemeinschaftsgarten natürlich nicht, aber sie bleiben doch die grosse Ausnahme. Ich stelle fest: Existenzielle Krisen wirken sich ganz offensichtlich auf ausgedehnte Gärten aus und das führt dann zu Grenzstreitigkeiten. Auch das ist Sprache, verletzt aber unser fein verästeltes Regelwerk, deren definitive Fassung am gemeinsamen Vertrauen wächst. An der Durchsetzungskraft müssen wir noch arbeiten.

Wie fühlt sich unser Baum im Innenhof?

Schaut man auf der gegenüberliegende Seite durch mein Küchenfenster wird die Sicht frei auf den Innenhof. Dieser ist manchmal lebendig ausgelassen, mal verlassen leer. Im Innenhof entstehen Begegnungen mit anderen Menschen. Ein Winken kann sich hier über die Wochen und Monaten des Zusammenlebens in eine beherzte Umarmung verwandeln. Der Innenhof wird begrenzt durch den gegenüberliegenden Neubau, dessen Fenster zur Adventszeit zu Kalenderbildern werden, wie letztes Jahr mit einem überlangen bunten Walfisch. Dessen Hängung wurde mit einem Hof-Fondue gefeiert. Alle aus einem Topf mit überlangen Gabeln. 

Bäume sind soziale Wesen, so der Deutsche Förster Peter Wohlleben: Sie kümmern sich um ihren Nachwuchs, helfen den Schwächsten, kommunizieren untereinander via die Pilze, die über ein dichtes unterirdisches Netz verfügen. Bäume gründen Familien, übermitteln Wissen generationenübergreifend (z.B. zu Trockenheitsresistenzen) oder warnen vor Insekten. Auf unseren Innenhofbaum übertragen heisst dies: Korsettiert in einem Juramergel-Beet fühlt sich die Platane in erster Linie einsam. Und Einsamkeit ist eine Krankheit unserer Zeit, die Covid-Pandemie hat das nochmals verdeutlicht und verschärft, den Winter hindurch, eingeklemmt in der Wohnung.

Legen wir also Hundertwasser und die Bäume zusammen, können wir nur zum Schluss kommen, dass «wir» ein sozialer Organismus sind, viel mehr verbunden, als uns im ersten Moment vielleicht lieb ist. Jedoch müssen wir am Zusammenleben arbeiten, um dem feinen Gefüge der Intimität gerecht zu werden, ebenso der Sprachenvielfalt und den unterschiedlichen Hintergründen. Wir müssen uns anstrengen, dass eine Gemeinschaft für alle entsteht. Nur wenn alle an diesem Innenhof teilhaben können, wird das eigene Fenster zur zweiten Haut (Hundertwasser) und entsteht ein sozialer Organismus (wie bei den Bäumen). 

Das Rätsel der immer Gleichen

Denn obwohl wir also einen frisch gestalteten Innenhof bespielen, gemeinsam Feste feiern und zusammen gärtnern, so lässt sich nicht bestreiten, dass immer etwa dieselben Menschen an den Anlässen teilnehmen oder sich in der Gemeinschaft engagieren. Die Gründe für diese Diskrepanz zwischen unseren Vorstellungen einer offenen und gleichberechtigten Siedlungsgemeinschaft und dem tatsächlichen Engagement der Bewohner*innen lässt sich mit der  Analyse von Maria Lüttringhaus in ihrem Handbuch für Selbsthilfe- und Bürgerinitiativen erklären: «Wer Beteiligung fördern will und Beteiligungsmöglichkeiten schafft, dabei jedoch den Status Quo der Ausgangslage hinnimmt, akzeptiert einen »sozialdarwinistischen Filter« (Emig 1995) mit gesellschaftlichen Folgen: Wer sich Engagement leisten kann, bestimmt über die mit, die nicht können oder wollen.» Durch die Akzeptanz der Zugangsschwellen (z.B. Wissen, soziale und ökonomische Unterschiede, Sprache etc.), so Lüttringhaus, entstehe eine »Spirale der Benachteiligung«, die soziale Spaltungsprozesse noch forciere. 

Auf dem Weg zur Selbstverwaltung

Gerade die vermeintlich «Aufgeklärten» in der Siedlung führen die Ausgrenzung, die sie eigentlich nicht wollen weiter, allein durch ihre Hautfarbe, ihren Bildungs- und Einkommensstand. Wollen wir aber wirkliche Beteiligung aller erreichen, müssen wir an den Zugangsvoraussetzungen arbeiten. Es sind die kleinen Handlungen, die Brücken schaffen und eine gemeinsame Sprache entstehen lassen. Hierfür sind regelmässige Versammlungen aller Bewohner*innen wichtig sowie der anfangs September neugewählte Vorstand mit Vertreter*innen aus sämtlichen 7 Hauseingängen. Diese Siedlungsversammlungen sind das oberste Entscheidungsorgan und gelebte Basisdemokratie.

Ein lebendiges Milieu schaffen

Lüttringhaus weist aber noch auf einen weiteren sehr wichtigen Aspekt hin. So bildet das Milieu eines Quartiers einen wichtigen Faktor für Partizipation, dazu gehören der gemeinsame politische Raum im sozialen und geografischen Sinn und die örtliche Integration sowie die lokale Identität.  Zentral sind die sehr unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen von Teilhabe. Eine erfolgreiche Siedlungsarbeit ist auch Vertrauensarbeit, gerade um negative Erfahrungen, über die wir alle verfügen – aus Elternhaus, Schule und Arbeit – abzubauen. Zugangsschwellen erkennen und abbauen, sind Grundvoraussetzung für den Erfolg des Kosmos Wasenstrasse. Die Kinder sind wichtige Transporteure und leisten Verbindungsarbeit zwischen den Eltern. Die gemeinsamen Projekte wie die Innenhofbegrünung, der Gemeinschaftsgarten, die kleinen spontanen Feste, schaffen wertvolle Beziehungen und Identität. Das wachsende Vertrauen fördert gemeinsame Ideen, den Boden für konkretes Handeln und eine Kultur der Verantwortung, Solidarität und Selbstermächtigung. Die Anliegen der verschiedenen Bewohner*innen sind hierfür die Leitplanken für eine gute Fahrt!

Foto oben: © Thomas Besmer, Foto unten: © Roman Tschäppeler

Mathias Stalder ist Gewerkschaftssekretär bei Uniterre, zweifacher Vater und lebt in Biel.

Buchtipp: Handbuch Aktivierende Befragung

Konzepte, Erfahrungen, Tipps für die Praxis.

Maria Lüttringhaus, Hille Richters, Verlag Stiftung Mitarbeit, 2019, 260 S.

Die Wasenstrasse-Siedlung

1917 erbaut als erste und einzige Siedlung des kommunalen Wohnungsbaus. Heute leben 140 Bewohnende in 50 Altbauwohnungen, 6 Neubauwohnungen, und 10 Demenzkranke im Betagtenpflegeverein Biel-Seeland. Gemeinsam mit der Wohnhilfeorganisation Casanostra im 2013 erworben, ist die autofreie Siedlung auch Aushängeschild. «Das Projekt lebt vor, wie eine Durchmischung entlang von Generationen, soziokulturellen Hintergründen und sozialen Schichten gelingen kann», heisst es in der Begründung zum gewonnenen «Best Practice» Preis des Verbandes Schweizer Wohnbaugenossenschaften von 2019.

www.biwog.ch

image_pdfPDFimage_printPrint
<< Tiny House als Alternative und ZukunftsmodellSociété civile contre la bureaucratie: Les possibilités d’hébergement privé >>
Teilen: