Urbanismus

Ein Brief aus der Zukunft

Biel, 1. August 2051

Liebe Ida,

gibt es überhaupt ein grünes Bauen? 

Dahinter steckt eine vertrackte Frage: Wie viel Wachstum ist nötig? Es gibt so viel Wachstum, wie Geld vorhanden ist. Da wir nach 1950 im Geld schwammen, haben wir bis 2021 mehr gebaut als alle Generationen seit den Römern zusammen, Ergebnis: la Suisse gonflée. Man konnte dem Wohlstand bei der Arbeit zusehen. Immerhin kamen wir um la Suisse doublement gonflée herum. Das ist der Zweitwohnungsbeschränkung und dem revidierten Raumplanungsgesetz zu verdanken. Das Siedlungsgebiet ist in den letzten dreissig Jahren nur wenig gewachsen, neue Einzonungen kamen nur noch in Ausnahmefällen vor. Das Zauberwort hiess Verdichtung nach innen. 

Es gab 2021 in Biel keine grüne Baupolitik. Aber es gab es die Verdichtung nach innen schon seit 850 Jahren. In der Altstadt. Wachstum nach innen hiess über Jahrhunderte Umbau, Ausbau, Aufstocken. Voilà l’exemple. Heute begrenzt statt der Mauer die Zonenordnung den verfügbaren Platz, doch die Methode ist dieselbe: Umbau, Anbau, Aufstocken. Das neue Prinzip für die ganze Stadt hiess ab 2025 behutsame Erneuerung. Abbrechen heisst Wegwerfen, ist Vernichten von Material und grauer Energie. Zehn Jahre lang stritten sich die Grünen mit den Bürgerlichen um das differenzierte Abbruchverbot. Wie viel graue Energie wird vernichtet? Wie viel von der Bausubstanz kann bewahrt werden? Es gab jedes Mal ein zähes Ringen um die Abbrüche, nachdem 2033 in der Volksabstimmung das Prinzip des differenzierten Abbruchverbots angenommen worden war. Man darf heute noch viel in Biel, doch Vergeuden darf man nicht mehr. 

Differenziertes Abbruchverbot war gut, doch musste man trotzdem Spielraum schaffen. Die grünrote Mehrheit revidierte das Baureglement. Die Grenzabstände wurden aufgehoben, das Aufstocken zugelassen, das Zusammenbauen auch. Es wurden wieder Baulinien eingeführt und die Ausnützungsziffer, beziehungsweise -beschränkung abgeschafft. Es war eine Aufforderung zum Wildwuchs. Im Hüsli muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland. Nimm das Hüsli Deiner Eltern mit den 800 Quadratmetern Grundstück, das kennst Du ja. In zehn Jahren sind Deine Eltern alt und mögen den Garten nicht mehr bewältigen. Also einigen sie sich mit den Nachbarn, den Zigerlis. Zwischen den beiden Hüsli bauen sie zwei weitere. Die Einzelhüsli werden verbunden. Dem sagt man geschlossene Bauweise, grad wie in der Altstadt. Zigerlis stocken auch noch auf. Deine Eltern wohnen nun im angestammten Hüsli, Du und Deine Familie in einem der beiden Neubauten, die alten Zigerli in der Aufstockung und darunter ihr Sohn Walter mit Familie. Das zweite Neubauhüsli vermieten Zigerlis an ein Ingenieurbüro, bis ihre Tochter es braucht. Du siehst, im Wohngebiet sind nun auch Büronutzungen und Gewerbebetriebe, die nicht stinken oder lärmen zugelassen. Die Grünen verlangten nur eines: Die beiden Ursprungshüsli werden nicht abgerissen. Nach und nach entsteht eine geschlossene Bebauung, die Renaissance der Gasse nannte das ein Journalist. 

Das neue Baureglement setzte die inneren Reserven in den Hüsligebieten frei. Es gibt Leute, die das langsame Verschwinden der ordentlichen Einfamilienhausquartiere beklagen, da sei noch Ordnung gewesen. Heute sei es ein Drunterunddrüber, ein Chaos, ein Ineinandergeschachtel, man wisse nie, was zu wem gehöre. Ich finde es grossartig. Es ist wie in der Altstadt, gezähmter Wildwuchs. Zugegeben, die akkurat gepflegten Räseli um die Häuser herum, die sind verschwunden, auch der Haag und das Gartentöri. Dafür gibt es heute viel mehr Pflanzen als früher. Sie spriessen auf Dächern, Balkonen und Terrassen, in den Höfen und im Zwischenraum.   

Ein besonderes Kapitel waren die Baugenossenschaften. In Biel gab es schon um 2020 erstaunlich viele, fast 15% der Wohnungen waren gemeinnützig. Doch diese Genossenschaften, genauer ihre Vorstände, waren nur an der Bestandeswahrung interessiert. Sie bewegten nichts, auch sich nicht. Die Grünen unterstützten selbstverständlich die Genossenschaften, doch sie taten mehr. Sie sorgten dafür, dass Leute ihrer Art neu in die Vorstände kamen und die Genossenschaft weckten. Da entdeckten sie die Reserven, die sie hatten und begannen sie auszuschöpfen. Sie hatten es einfach: Der Blick nach Zürich wirkte aufklärend. Dort hatte dieses Erwachen schon 30 Jahre früher begonnen. Den Zürchern hatten sie auch eine Initiative abgeschaut. Seit 2029 steht in der Stadtordnung, dass Biel dafür zu sorgen hat, dass bis 2050 der Anteil der Genossenschaftswohnungen auf 30% steigt. Vorher begnügte sich das Reglement über die Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus mit 20 %. Das grüne Ziel wurde verfehlt, immerhin heute sind wir bei 25,3%.

Das genügt für heute, liebe Ida

Adieu sagt Dein alter Götti Albert Roesti

Text: Benedikt Loderer, welcher hier als Götti Albert Roesti schreibt, ist Architekt und Publizist. Er war unter anderem Chefredak- teur des Hochparterre und ist seit 2017 für die Grünen im Bieler Stadtrat.

Illustration: Mik Rothenbühler, lebt und arbeitet unter anderem als Illustrator in Biel: www-co-dex.ch

Mitdiskutieren

Dienstag, 21. September, 19.15 Uhr, Der ORT, Marktgasse 34

Könnte dieser Brief aus der Zukunft wahr werden? Oder ist das Humbug? Was bedeutet grünes Bauen für Dich? Wie wollen wir in Zukunft wohnen? Und welche Massnahmen können in der Stadt Biel dafür getroffen werden?

Wer mitdiskutieren und sich einbringen möchte, meldet sich an unter secretariat@gruene-biel.ch

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