Bieler Perlen

Giraffen auf dem Pausenplatz

An den Bieler Schulen Walkermatte und Neumarkt gibt es eine ganz besondere Treppe: sie sieht aus wie ein Podest und hat vier Stufen auf beiden Seiten. Auf ihr begegnen sich Kinder, die einen Konflikt haben, in der sogenannten Giraffenstunde. Was in diesen je 15 Minuten der gelebten Gewaltfreien Kommunikation geschieht, wie dieses Angebot das Schulklima verbessert und wie Lehrerin Onorina Magri das Konzept laufend weiterentwickelt, davon handelt dieser Beitrag.

Herein kommen die Kinder nicht selten aufgebracht. Da sind Energien im Raum, da sind Konflikte am brodeln, sagt Onorina Magri, ich hatte mal zwei, die wären sich am liebsten an die Gurgel gesprungen.Das lässt die Lehrerin freilich nicht zu, eine Wolfsshow, wie sie es nennt, aber sehr wohl. Es geht darum, sich echt zu zeigen, gerade auch die sonst so oft unterdrückten Emotionen zuzulassen. Gewaltfrei heisst in dem Sinne nicht nett und leise.

Aber Magri weiss die Emotionen auch aufzufangen, ganz einfach in dem sie sie spiegelt. Wow, du bist grad so wütend!, sagt sie dann beispielsweise und holt damit das Kind ab. Das baut enorm rasch Vertrauen auf und entspannt die Lage.Die Kinder, die sie oft ja gar nicht kenne, erlebten dadurch bei ihr, dass sie nicht be- oder verurteilt werden. Getreu dem Motto: Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort, da treffen wir uns.“  

Gefühle also werden sehr ernst genommen, und sind – wie das blinkende Öllämpchen beim Auto – ein Zeichen dafür, dass es ein Bedürfnis gibt, sagt Magri: Was braucht das wütende oder traurige Kind?Gleich finden es die beiden, die sich nun in diesem geschützten Rahmen gegenüberstehen, heraus. Sie haben sich übrigens selbst angemeldet – nur manchmal tun das auch die Lehrpersonen. Viel Zeit bleibt nicht. Pro Giraffenstunde, die Magri einmal pro Woche an der Walkermatte und neu auch im Neumarktschulhaus anbieten kann, gibt es drei Fenster à 15 Minuten. Für mehr reichen die intern zusammengekratzten Stellenprozente nicht, externe Finanzierung ist noch Wunschdenken. 

Die Magie der Empathie

Heisst demnach: gleich zur Sache kommen. Ich leite strikt und liebevoll, so die Lehrerin, die an der Walkermatte auch in der 1. Klasse unterrichtet. Zunächst geht es darum, möglichst genau zu beschreiben, was passiert ist, nicht wertend sondern beobachtend. Das Kind, das eingeladen hat, beginnt. Es sagt zum Beispiel: Gestern morgen bist du an mir im Gang vorbeigerannt und hast mir dabei meine Znünibox aus der Hand geschlagen. Sie ist auf den Boden gefallen und ausgeleert und du bist weitergerannt.Nun bittet Magri das andere Kind, das Gehörte zu wiederholen. Es soll dabei direkt das erste Kind ansprechen: Du hast gesagt, ich sei an dir vorbeigerannt und…“ Der Effekt: das erste Kind fühlt sich gesehen und gehört. Eine erste Entspannung tritt ein. Im gleichen Stil geht es weiter, das eine spricht, das andere hört zu und spiegelt – nun auf der zweiten Stufe der Treppe, die die Kinder selbst gebaut haben und auf der sie sich begegnen. Sie symbolisiert einem Podest ähnelnd die 4 Stufen der Gewaltfreien Kommunikation. Auf der zweiten Stufe geht es um die Gefühle in Zusammenhang mit dem eingangs beschriebenen Geschehnis. Wie fühlst du dich, wenn du an die Situation denkst?, fragt Onorina Magri und will auf Wut, Trauer, Angst oder Freude hinaus, denn auf diese vier Grundgefühle lasse sich im Prinzip alles herunterbrechen. 

Antwortet ein Kind schlecht, hakt Magri nach, will genauer wissen, wie sich das anfühlt das schlecht. Manche machten das von sich aus wunderbar – „ich habe eigentlich Angst“ – bei anderen, die zunächst mit Wörtern wie ausgenütztoder provoziertherausplatzen, helfe sie übersetzen, das wahre Gefühl dahinter zu erforschen und auszudrücken. Und manchmal geschieht es, dass dann das zuhörende Kind das andere fragt: Bist du auch noch traurig?“ „Das ist die Magie der Empathie, schwärmt Magri, wenn sie von solchen Beispielen erzählt. Sie nennt es auch die Sprache des Herzens. Der amerikanische Psychologe Marshall Rosenberg entwickelte die Gewaltfreie Kommunikation als Mittel für einen versöhnlichen und verbindenden Umgang miteinander und zur konstruktiven Lösung von Konflikten. 

Überraschungen auf den letzten Stufen

Doch nun zur dritten Stufe, den Bedürfnissen, laut Magri dem eigentlichen Kern der GFK. Sage was dir in dieser Situation wichtig ist, lautet nun der Auftrag an ersteres Kind. Dass ich in Ruhe mein Znüni essen kann, könnte die Antwort lauten, um auf eingangs erwähntes Beispiel zurückzukommen. Allgemein gehe es bei den Bedürfnissen der Kinder oft um Rücksichtnahme, Ruhe und Sicherheit, so Magri. Auf der vierten Stufe schliesslich ist Raum für eine Bitte an das andere Kind: Dass du mir mein Znüni wieder aufsammelst, wenn so etwas passiert.So hat das Kind, welches gegenüber steht, die Chance zum Wohlergehen des anderen beizutragen.

Nicht selten übrigens komme auf dieser letzten Stufe auch zutage: Ich möchte gerne deine Freundin sein, oder wie bei den Streithähnen, die sich an die Gurgel wollten: eigentlich würde ich gerne mit dir spielen.Da staunt selbst Onorina Magri, die schon über 1000 Fortbildungsstunden in Gewaltfreier Kommunikation absolviert hat, immer wieder. Und sie erzählt gleich noch eine andere Anekdote von zwei Geschwistern, die mal bei ihr in der Giraffenstunde waren, weil sie zu Hause so viel Streit hatten. Das Mädchen beschrieb, wie ihr grösserer Bruder sie oft zu Boden werfe beim Nachhausekommen. Am Ende brach aber der Bub in Tränen aus und sagte, dass er sich doch nur wünsche, dass sie ihn begrüsse, wenn sie nach Hause komme.Magris Erkenntnis nach all den Jahren: Freundschaft, Spass und Spiel ist den Kindern extrem wichtig.“ 

Wie alles seinen Lauf nahm

Und sonst? Eine vertiefte Evaluation ihres Projekts mit den Giraffenstunden für die Pädagogische Hochschule stehe zwar noch bevor, sagt Magri, dennoch sei klar erkennbar, wie Konflikte heute an der Walkermatte anders ausgetragen werden. Die Kinder können viel besser sagen, was sie brauchen, als einfach hör auf. Auch die Streitereien zwischen Romands und Deutschschweizern auf dem Pausenplatz sehe sie nicht mehr. Mit denen hatte nämlich einst alles angefangen. Aus Sorge darüber liess die Schulleitung alle Lehrerinnen und Lehrer zusammenkommen, um nach Lösungen zu suchen. Ich kenne GFK, sagte da Onorina Magri und erzählte von einem Wiener Lehrer, den sie mal im Rahmen eines Austausches getroffen hatte, und der die Giraffenstunde erfunden hatte, mit der Giraffe als Tier, das alle im Blick hat und ein grosses Herz. 

Man entschied sich dafür und Magri holte sich nun alles Wissen von Roman Ottenschläger, dem Lehrer aus Wien. Zudem kamen er wie auch Magris GFK-Trainer Thomas Stelling je einmal nach Biel um dem Kollegium der Walkermatte eine Weiterbildung zu geben.

Giraffenkinder tragen einen Badge

Onorina Magri beliess es allerdings nicht dabei und entwickelte das Konzept weiter. Insbesondere bildet sie seit 6 Jahren in einem Freifach interessierte Kinder ab der 2. Klasse zu Giraffenaus. Kurz: die Schülerinnen und Schüler lernen selbst leiten. Das geht so schnell, sagt Magri jemandem zuhören und keine Tipps geben, das können Kinder noch ganz natürlich. Es sind die Erwachsenen, die das mit der Zeit verlernt haben.Irgendwann, wenn sie bereit sind, bekommen die FreifachschülerInnen dann einen Badge, mit dem sie auf dem Pausenplatz als Giraffenkinder erkenntlich sind. Sie können ihn dann anziehen, wenn sie bereit sind, andere bei Konflikten zu coachen. Im Gang des Schulhauses steht eine Treppe der Gewaltfreien Kommunikation, die jederzeit zugänglich ist. Oder sie gehen als Klassengiraffeneinmal pro Woche an den Türen der anderen Schulzimmer klopfen, um sich zu erkundigen, ob jemand eine Konfliktlösung brauche. So kann es durchaus vorkommen, dass eine Zweitklässlerin zwei Fünftklässer zur GFK-Treppe führt. Allerdings, so Magri, sei dieses Angebot in letzter Zeit an der Walkermatte nicht mehr so gefragt. Es sind nun so viele Schülerinnen und Schüler für die gewaltfreie Kommunikation sensibilisiert, dass viele Konflikte grad innerhalb der Klasse gelöst werden.

Kürzlich sei drum die Idee aufgekommen, mal die Lehrerinnen und Lehrer fragen zu gehen, ob bei ihnen etwas schwele. Drei Kinder aus dem Giraffenteam könnten sich das gut vorstellen. Und Magri sowieso: Ich wünsche mir sehr, dass auch Raum wäre, für Giraffenstunden wo sich Eltern und Kinder begegnen, oder Eltern und LehrerInnen.

Interviewer:
Janosch Szabo, Journalist, Verkäufer und Konfimaa, hat einst im Zivildienst einen Kurs in Gewaltfreier Kommunikation besucht. Als Vater einer 6-jährigen Tochter sowie aktives Mitglied in verschiedenen Arbeits-Teams und Projektgruppen scheint ihm die Kommunikation mit all ihren Facetten als die grösste Herausforderung überhaupt.

Interviewte: 
Onorina Magri, Lehrerin, GFK-Coach & Mediatorin und Mutter einer 12-jährigen Tochter, trägt gerne zu Verbindung bei in Konflikten zwischen Kindern und/oder Erwachsenen. Möchte noch mehr echt sein und nicht nett. Bedauert es, dass Kinder oft in die Schublade Kind gesteckt werden und nicht in die Schublade Mensch. Und teilt ihr Wissen über gewaltfreie Kommunikation in Kursen & Übungsgruppen durch Magie der Empathie im Ring 12 oder online.

Foto: 
Matthias Käser, www.matthiaskaeser.ch

GFK Biel

Coaching, Mediation, Kurse und Übungsgruppen zu Gewaltfreier Kommunikation von Onorina Magri.

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