Transition

Schule neu denken – Bildung im 21. Jahrhundert

Schule neu denken heisst: neues Denken ohne Schule. Unmöglich! Seit nahezu 300 Jahren pflegen wir ein Schulsystem, das ursprüng- lich preussisch-militärischen Zwecken diente, dann für die Industrialisierung weiterentwickelt wurde und nun, im 21. Jahrhundert, erschöpft und ausgepowert ums Überleben kämpft. Zum Glück passiert uns die Digitalisierung, denn…

An der «Dufour» herrscht Stress – die Vollkrise ist ausgebrochen.
An die Sommerhitze und die Möglich- keit, an diesem schönen Mittwoch Nachmittag in den See zu springen, denkt hier niemand. Die Klasse steckt mitten in einer Debatte und ist nicht zu bremsen. In den vergangenen Wochen sind in Gruppen Arbeiten entstan- den, die kurz vor dem Ab- schluss stehen. Die Applikation von Sarina und Mila steckt
bei Apple in der Pipeline 
und wird dort geprüft. Die
App soll jungen Menschen Freizeitjobs vermitteln und gleichzeitig ein neuartiges Goodwill-Bonussystem ein
führen. Lionel, Pat und Sarah
haben soeben das «GO» für
 ihre Urban-Gardening-Ak-
tion auf dem Bahnhofsplatz
von den Behörden bestätigt bekommen. Am liebsten möchten die drei an den Vorbereitungen zur Um- setzung arbeiten und auf ihrer Crowdfunding-Plattform die frohe Botschaft posten. Erstaunlich, was 13-Jährige so alles auf dem Kasten haben.

Aber zurück zur Debatte: Diese dreht sich um die Frage, wie die jungen Menschen ihren Eltern klarmachen können, dass sie für Sommerferien nicht zu haben sind. Oder zumindest nicht für endlos lange sechs Wochen. Ihre Projekte sind zu spannend, um sie liegen zu lassen. Und überhaupt, wer benötigt denn Ferien?

Natürlich ist diese Anekdote nur eine Utopie – ein schönes Märchen vielleicht. Tatsächlich? Wie funktioniert Schule im Jahr 2019?

Wenn ich mich mit Schülerinnen und Schülern aus der neunten Klasse unterhalte, die eben ihren Lehrvertrag unterschrieben haben und sich darauf freuen, im nächsten Sommer die Lehre zu beginnen, bleibt bei der Frage, was sie in den letzten neun Jahren wirklich, wirklich gelernt haben, nicht viel übrig. Ehrlich und hinter vorgehaltener Hand gesagt: Das meiste ist wieder vergessen. All das theoretische Wissen, das ihnen bulimisch eingetrichtert wurde, um sie als Menschen mit einer Wertung zu versehen, ist verschwunden. Als hätte es nie existiert. Der Stoff hat sie eh nie berührt, er hat mit ihnen ja auch gar nichts zu tun. Wenn sich ein Mensch nicht be- geistern kann, entstehen im Hirn keine Impulse, also wachsen auch keine neuronalen Verbindungen. Nichts bleibt zurück! Oder, was noch schlimmer ist: Der Schüler, die Schülerin hat das Gefühl, zu dumm zu sein und bewertet sich selber negativ. Oje!

Wissen ist digital, global, überall und jederzeit verfügbar

Die heutigen Schulen legen immer noch Wert auf Bewertung. Sogar Institutionen, die Noten aus dem Unterricht gestrichen haben, bewerten ihre Schülerinnen und Schüler nach wie vor als Objekt und nicht als Subjekt. Die Frage: «Wer bist du und was kannst du?» existiert im pädagogi-schen Kontext schlicht nicht. Pink Floyd haben es mit The Wall bereits vor vierzig Jahren auf den Punkt gebracht: «…we don›t need no education…». Aber: Wenn keine Bildung, was dann?

Um die unglaublichen Fortschritte in der Digitalisierung fassbar zu schildern, liebe ich den Vergleich zum Brettspiel Schach.

1997 schlug erstmals ein von Menschenhand programmierter Computer (DeepBlue) den damaligen Schachweltmeister Garry Kasparov (die Niederlage hat er scheinbar nicht verdaut). Zwanzig Jahre nach Kasparovs Niederlage ist beim Schachwettkampf kein Mensch mehr involviert. 2017 spielte AlphaZero gegen Stockfish8 – beides sogenannte KI’s (künstliche Intelligenzen) und AlphaZero schlug Stockfish8 gnadenlos. Die verblüffende Nachricht kommt aber noch: AlphaZero wurde nur das Stichwort «Schach» gegeben und dieser hat in vier Stunden alles zu Schach recherchiert und Spielzüge entwickelt, die bis anno dato unbekannt waren. Und statt der 70 Millionen programmierten

Schachzügen bei Stockfish8 benötigte AlphaZero lediglich deren 80 000 um sich seiner sicher zu sein.

Egal, wie wir der 4. Industriellen Revolution – der Digitalisierung – begegnen, in den kommenden 20 Jahren wird sie unseren Alltag grundlegend verändern. Denken wir nur daran, wie die «kleine Innovation» Smartphone bereits für Aufregung in unserem täglichen Leben sorgt. Künstliche Intelligenz wird bald allgegenwärtig sein: In der Kommunikation, beim Verkehr, im Gesundheitswesen und in der Energieversorgung. Wie aber bereiten wir heute in den Schulen die Menschen auf diese Entwicklung vor?

Die klassische Lohnarbeit (ver) schwindet – die Sinnfrage darf wieder gestellt werden

Kehren wir kurz zurück zur eingangs geschilderten Utopie: Stellen wir uns vor, dass Mila, deren App bei Apple in der Abklärung steckt, anstelle der obligatorischen Schule neun Jahre Lebenszeit in ihre Themen investieren

schon die Vorstellung eines
solchen Zeitfensters löst bei
 mir Hühnerhaut
aus. Als 7-Jährige hatte sie 
verbissen und
wochenlang das
 Computer Game
 Mindcraft gespielt und plötzlich ihre Fähigkeiten für die darin enthaltenen komplexen Welten entdeckt. Sie entwickelte eine Passion für Informationstechnologie (IT). Inzwischen interessiert sie sich für den Klassiker der Programmiersprachen C++. Es ist ihre zweite Programmiersprache, die ihr by the way von einem Pensionär beigebracht wurde. Auch er ist einer der «Schüler» an diesem utopischen Ort. Er hingegen bastelt seit drei Wochen mit einem 3D-Drucker an einer Aufhängevorrichtung für Speisepilzkulturen, die in der Küche platzsparend aufgehängt werden kann.

Yuval Noah Harari, Historiker und Bestsellerautor, beschreibt in seinem distopischen Buch «21 Lektionen für das 21. Jahrhundert» folgende These: Alles, was sich mittels Algorithmus formulieren lässt, wird zukünftig von intelligenten Maschinen besser und zuverlässiger durchgeführt als von Menschen. Ein mögliches Szenario: In Zukunft wird eine Drohne über ein Waldstück am Bözingenberg fliegen und mittels Infrarotkamera die Bäume lokalisieren, die gefällt werden sollen. Das GPS-Signal geht direkt an eine mobile Motorsäge, die selbständig die Bäume aus dem Wald- stück sägt. Damit wird dem Wald viel weniger Schaden zugefügt. Die Drohne wendet sinnvolle Algorithmen an, dank derer das Waldstück rasch und biodivers korrekt nachwachsen kann. Was wir uns heute noch kaum vorstellen können, ist die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der Künstliche Intelligenz dazulernt. Wo bleiben wir als Homo sapiens in diesem Szenario?

Hier sind die Geister, die ich rief. Seit der ersten industriellen Revolution arbeitet die Menschheit dahingehend, die Lohnarbeit abzuschaffen. Das ist uns nächstens gelungen. Und jetzt beklagen wir uns und jammern, was das Zeug hält. Dabei ist die Digitalisierung das Beste, was wir uns erar- beitet haben. Sie wird uns nachhaltig

von der Lohnarbeit befreien und wir können uns wieder den Dingen wid- men, die sinnvoll und sinnstiftend sind. Nur: Wissen wir noch, was sinnvoll bedeutet? Sind wir in der Lage, einen sinnvollen Alltag mit uns selbst und in einer Gruppe zu gestalten?

Passion und Intuition lässt sich nicht programmieren

Eigentlich ist die Sinnfrage leicht zu beantworten: Sinn macht, was das Herz berührt. Um sich der Sinnfrage zu widmen, vertraut man auf seine Intuition, denn diese ist immer richtig. Ihr zu vertrauen ist unsere einzige Chance für eine Zukunft, in einer zunehmend digitalisierten Welt: In- tuition ist die einzige Kraft, die nicht programmiert werden kann. In ihr liegen drei magische Ingredienzen: Fantasie, Kreativität und Innovation. Diese Ingredienzen sind individuell, das heisst, jeder Mensch besitzt seine eigene Fantasie, seine eigene Kreativität und seine eigene Innovationskraft. Oder mit Pestalozzis Worten: Kopf, Hand, Herz. Alles was Sinn macht, wird gedacht, gefühlt und mit dem Herzen auf seine Sinnhaftigkeit geprüft. Vielleicht spüren Sie als Lesende, dass sich Widerstand in Ihnen ausbreitet… Vielleicht bemerken Sie, dass unglaublich vieles keinen Sinn macht. Schade, oder?

«Jeder Mensch hat Recht auf Bildung», so beginnt der Artikel 26 der Menschenrechts-Charta. Mir gefällt, was weiter unten im Text ausformuliert wird: «Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben…»

Wie wäre es denn, wenn wir wieder Orte schaffen würden, wo sich Menschen aller Altersklassen begegnen, an ihren Projekten herumdenken und sie umsetzen? Entfaltung statt Normierung. Jede und Jeder wird ernst genommen und weiss das auch. Spielerisch und ernsthaft zugleich entste- hen sinnstiftende Projekte. 
Jede und Jeder bringt seine einzigartigen Fähigkeiten mit, wird geför- dert und begleitet. Denn ein Mensch kann das, was er möchte. Und er will nichts anderes, als was er kann!

Immer noch Unvorstellbar? Schule verändern geht nicht! Wie sieht es mit der Gesellschaft aus?

Was sich denken lässt, kann umgesetzt werden. Die Frage ist, mit welchen Themen wir uns so täglich besetzen. Ist die Welt 2019 wirklich so düster, wie wir sie uns mehrheitlich ausmalen? Captain Jean-Luc Picard von der USS Enterprise erklärt einer Besu- cherin seine Welt: «Die Ökonomie der Zukunft ist komplett anders. Se- hen Sie, Geld existiert nicht im 24. Jahrhundert.» «Kein Geld? Sie meinen, Sie werden für ihre Arbeit nicht bezahlt?» (…) «Die Anhäufung von Reichtum ist nicht mehr die treibende Kraft in unserem Leben. Wir arbeiten, um uns zu bessern.»

Mila hat gemeinsam mit Sarina ihre App erfolgreich im App-Store von Apple installiert – bereits wurde sie 150000 Mal heruntergeladen. Das ist mittlerweile drei Jahre her. Mila, jetzt 16-jährig, beherrscht mehrere Programmiersprachen und hat vier, fünf brauchbare Software-Lösungen auf dem Markt erfolgreich getestet. Jetzt, da sie eine Lehre beginnen könnte, fliegt sie uns mit ihrem Wissensstand und ihrer Erfahrung gnadenlos um die Ohren. Daher steigt sie in ein Unternehmen ein. Nicht als Lernende, sondern als Subjekt, als vollwertiger Mensch, der an sinnvollen Applikationen mitdenkt. Wie tönt das?

Gesellschaft verändern geht! 
Die Frage ist, welche Geschichte wir uns erzählen und wie sie ausgehen soll…

Martin Albisetti führt seit bald 20 Jahren in Biel sein eigenes Atelier mit den Schwerpunkten Corporate und Fictional Film, Corporate Design und Communication sowie seit bald zehn Jahren Coaching in Gestaltungs- und Lebensfragen.

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