Der Bieler Verein IG «Interessengemeinschaft Selbstbestimmtes Wohnen» träumt von einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt. Ein Haus, in dem man mit unterschiedlichen Menschen zusammenleben wird, die ähnliche Vorstellungen vom Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Sport und Geniessen haben. Und die sich auch im Austausch mit der Nachbarschaft sozial und kulturell vernetzen wollen. Bereits bei der Projektplanung wollen sie sich partizipativ einbringen.
Modernes Wohnen – weniger Haben, mehr Sein
Woher kommt das Bedürfnis nach gemeinschaftlicheren Lebensformen? – Im Vorwort zum Buch ‘Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens’ steht: ‘Das gemeinschaftliche Wohnen gründet in der Idee, die Privatsphäre zu reduzieren und der gemeinschaftlichen Sphäre mehr Fläche und Gewicht zu verleihen’. Und weiter: ‘Wohnen als gemeinschaftliches Erlebnis zu begreifen, widerspricht dem Wohnen als Idee der höchsten Form von Privatheit…’. Der Wunsch nach Privatheit ist in den letzten Jahrhunderten immer wichtiger geworden, parallel zur ökonomischen Entwicklung und dem zunehmenden Individualismus. Doch heute scheint diese Entwicklung an ihr Ende zu kommen. Einerseits, weil individuelles Wohnen oft auch Isolation, Vereinsamung, Langeweile und Kontaktlosigkeit bedeutet. Anderseits, weil Wohnen im eigenen Wohnraum für immer weniger Leute noch bezahlbar ist. Darum ist gemeinschaftliches Wohnen wieder zunehmend attraktiv. Es mag eine nostalgische Sehnsucht nach längst vergangenen Zeiten mitspielen, aber es gibt vor allem äusserst moderne Beweggründe: Isolation und Entfremdung überwinden, neue soziale Erfahrungen machen, den Konsumzwängen ausweichen, energiebewusst leben, klimafreundlicher eingebettet sein, kurz: mehr Sein als Haben.
Ich will mitbestimmen
Was wollen die Mitglieder und InteressentInnen der Bieler Interessengemeinschaft Selbstbestimmtes Wohnen IGSW mit ihrer Mitbestimmung erreichen? Was bringt sie dazu, an einem gemeinsamen Projekt aktiv mitzuwirken? – Es gibt äusserst viele verschiedene Gründe, individuelle, soziale, ökologische und gesellschaftlich-politische, mit fliessenden Übergängen, und in der Regel stehen bei jeder Person wohl ein oder zwei Hauptziele im Vordergrund.
Meist ist ein individuelles Bedürfnis Anstoss für den Wunsch nach Veränderung, z.B. das Alleinsein, die Langeweile, ein Partnerverlust, eine sonstwie gravierende Veränderung in der persönlichen Umgebung etwa, altersbedingte Gründe, gesundheitliche, berufliche oder was auch immer. In all diesen Fällen wird erwartet, dass ein Wechsel der Wohnform eine wünschbare Verbesserung des eigenen Lebensgefühls bringt – zusammen mit anderen Menschen. “Für junge Familien ist die Möglichkeit einer gemeinsamen Kinderbetreuung einer der grössten Vorteile des gemeinschaftlichen Wohnens… Für ältere Menschen kann gemeinschaftliches Wohnen weniger Einsamkeit bedeuten und gleichzeitig anregend auf Körper und Geist wirken”, schreibt Kathleen Scanlon im Buch ‘Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens’.
Auch bin ich kostenbewusst
Wir haben gesehen, dass gemeinschaftliches Wohnen bedeutet, die private Wohnfläche zu Gunsten von mehr gemeinschaftlich genutzten Räumen zu reduzieren. Vollständig private Wohnfläche ist teurer (direkte Miete), mit andern geteilte gemeinsame Nutzung ist deutlich kostengünstiger (indirekte Mietanteile). So wird es möglich, zu gleichen Kosten bedeutend mehr Raum zu nutzen, als dass mir als Einzelmieter zur Verfügung stehen würde. Denken wir etwa an das punktuell nutzbare Gästezimmer, an eine leistungsfähige Wohnküche, einen grossen Aufenthaltsraum, eine Hausbibliothek, einen Raum der Stille… Oder an einen Werkstatt- und Bastelraum, einen Gymnastikraum, einen gemeinsamen Einstellplatz für die Fahrräder und -zubehör… Oder nur schon an einen vielfältig nutzbaren Aussenraum (Garten, Sitzplatz, Spielplatz, Pflanzbeete, usw.).
Nicht zu unterschätzen ist dabei die Möglichkeit, auch Gerätekosten unter mehreren aufzuteilen, etwa für die üblicherweise einzeln angeschafften Küchengeräte, für Waschmaschinen, Fahrräder, Werkzeuge, Gartengeräte, Sportartikel und was der gemeinschaftlich nutzbaren Dinge sonst noch sind.
Ein weiterer günstiger Kosteneffekt entsteht bei gemeinschaftlichem Wohnen, wenn die BewohnerInnen gewisse Arbeitsaufwendungen selbstverwaltet übernehmen. Eine Betriebskommission, die viele Verwaltungsaufgaben für die Bewohner erledigt, die möglicherweise gemeinsame Finanzierungsfragen klärt oder die kleinere Reparaturen erledigt, ist wesentlich günstiger als eine professionelle Verwaltung.
Allerdings darf man die geldmässigen Vorteile nicht überschätzen, denn auch die gemeinschaftlichen Wünsche können ins Unermessliche wachsen.
Doch bin ich auch kompromissbereit?
Privatheit und Gemeinschaftlichkeit stehen regelmässig in einem gewissen Spannungsverhältnis. Je mehr Privatnutzung von Räumen desto weniger Räume für Gemeinschaftsnutzung, und umgekehrt. Je mehr private Ruhe und stille Rückzugsmöglichkeiten, desto weniger gemeinschaftliches Leben, und umgekehrt. Auch bei den ökologischen Anliegen, die sich mit dem gemeinschaftlichen Wohnen meistens verbinden, gilt: je grösser der Verzicht auf eigene Wohnfläche, auf herkömmliche Heizung, auf Mobilitätsansprüche, also je geringer der Wohn-Fussabdruck, desto umweltfreundlicher wird das Wohnen. Es braucht also in jedem Fall eine Abwägung der Vor- und Nachteile, eine gewisse Kompromissbereitschaft und Flexibilität in Bezug auf die eigenen Vorstellungen.
Gerade aus diesen Gewichtungsgründen sind partizipative Vorgehensweisen bei Wohnprojekten besonders wichtig. Die interessierten potentiellen BewohnerInnen können ihre Bedürfnisse rechtzeitig und realistisch in den Prozess eingeben. Und sehr wichtig ist, dass sie dabei erst noch ihre MitinteressentInnen im Voraus besser kennenlernen. Auch für die Verantwortlichen bei der Projektplanung und -realisierung ist partizipatives Vorgehen sinnvoll, da so vermieden wird, dass an den Bedürfnissen vorbeigeplant wird.
Der Verein IGSW schreibt am Ende seiner auf der Website www.räumefürträume.ch publizierten Vision einladend: ‘Magst du mitträumen und mitgestalten?’
Text:
Göpf Berweger (76), wohnt seit einem Jahr in Biel, ist verheiratet, Vater (Sohn und Tochter) und Grossvater (Enkel und Enkelin). Er hat einst Volkswirtschaft und Soziologie studiert und im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte gearbeitet. Heute interessiert er sich speziell für partizipative Prozesse und flache Hierarchien und ist Mitglied im Vereins IGSW.
Text Chronik:
Christine Walser ist Mitgründerin der IG Selbstbestimmtes Wohnen und des gleichnamigen Vereins. Sie liebt die Vorstellung, gemeinschaftlich in einer lebendigen, kunterbunten Siedlung zu leben. Sie wohnt seit neun Jahren in Biel.
Illustration:
Sara Wernz, Atelier für Illustration & Grafik, sararas.ch
IG Selbstbestimmtes Wohnen
kennen lernen
Mittwoch, 15. September, Der ORT, Marktgasse 34, Biel
- 17-19 Uhr: in der Ausstellung«Wie wollen wir wohnen?». Einige Mitglieder sind anwesend.
- 19-21 Uhr: im Workshop «Wie will ich wohnen?». Persönliche Wohnform – zukünftige Bedürfnisse. Was hat Partizipation im Planungsprozess mit meiner Wohnform zu tun?
Anmeldung: der-ort.ch/agenda
Räume für Träume
Alles über den Verein Interessengemeinschaft Selbstbestimmtes Wohnen
Chronik – in 3 Jahren vom Atelier zum Architekturwettbewerb
- Im März 2018 zeigte sich am 1. Vernetzungsanlass Transition BielBienne das Bedürfnis verschiedener Menschen, sich mit den aktuellen Wohnverhältnisse in unserer Stadt zu befassen.
- In der Folge fanden vier Workshops zu den Themen «Wie möchtest du wohnen?», «Wohnen in Containern» etc. statt, an denen jeweils rund 20-25 Menschen jeden Alters teilnahmen.
- Im Mai 2019 stimmte das Bieler Stimmvolk den Anpassungen der planungsrechtlichen Grundordnung im Bereich Gurzelen zu – und somit auch dem Ausbau des gemeinnützigen Wohnungsbaus.
- Noch im Spätsommer desselben Jahres lancierte die Stadt Biel eine Ausschreibung an die Wohnbaugenossenschaften und lud zur Teilnahme an einem Konzeptwettbewerb für die Nutzung des Geländes ein.
- Wir sahen das als Chance, uns an einem konkreten, spannenden Projekt zu beteiligen. Als zukünftige Bewohnende wollten wir von Anfang an aktiv Teil des Planungsprozesses sein.
- Im September 2019 organisierten wir einen Infoabend über unsere Partizipationsidee. Daraus wurden vier intensive Monate mit etlichen Workshops, bei denen sich eine Gruppe von Menschen zusammenfand, die alle bereit waren, sich für die Konkretisierung unserer Wohnidee einzusetzen. Mit fünfzig Personen starteten wir kurz darauf als IG Selbstbestimmtes Wohnen (IGSW).
Unser Ziel: Wir erarbeiten eine gemeinsame Vision zum selbstbestimmten Wohnen für das Baufeld Blumenstrasse Süd. Die Ideen aus den Workshops der IGSW flie- ssen in das Konzept «Fleur de la Champa- gne» ein, mit dem GURZELENplus im März 2020 den Konzeptwettbewerb gewann (https://gurzelenplus.ch/projekt/). - Im Sommer 2020 gründete die IG Selbstbestimmtes Wohnen einen Verein, der mittlerweile über 60 Mitglieder zählt: (https://raeumefuertraeume.ch).
- Anfang 2021wurde der Verein angefragt, ob wir uns als Teil eines Teams am Präqualifikationsverfahren für das Baufeld Blumenstrasse Nord beteiligen wollen. Das Team unter der Leitung des Architekturbüros :mlzd und der Wohngenossenschaft FAB-A qualifizierte sich – zusammen mit acht weiteren Gruppen – für den Architekturwettbewerb, der noch bis im November 2021 läuft.