Mobilität Urbanismus

Stau im Kopf

Immer neue Varianten vom immer Gleichen führen selten zu einer gescheiten Lösung. Ein frappantes Beispiel dafür ist die bald 60 Jahre dauernde Diskussion um die Autobahnumfahrung von Biel.

«Drei Kilometer Stau…. – Zwischen Quinto und Gotthard Südportal 3 km Stau, Zeitverlust von bis zu 45 Minuten. Die Einfahrt Airolo ist gesperrt». Tag für Tag wiederholen sich gebetsmühlenartig die Verkehrsmeldungen. Jeden Werktag während der Stosszeiten, jeden Sonntag im Winter, wenn sich die Skiorte entleeren, staut sich der Verkehr. Und wenn es einen Unfall gibt, wird die Autoschlange noch länger. In der Ferienzeit gehört Warten im Stau mittlerweile zum Urlaubsprogramm. Ein sicherer Wert –man könnte meinen, ein Naturgesetz.

Staumeldungen aus der Region Biel hingegen schaffen es selten in die nationalen Nachrichten. Schlicht und einfach, weil es keine meldenswerten Staus gibt. Ausser natürlich, wenn eine der Hauptachsen infolge eines Unfalls oder einer Veranstaltung gesperrt werden muss. 

Trotzdem werden manche PolitikerInnen im Seeland nicht müde, in Biel Stauprobleme herbeizureden. Ja, sogar von einem Dauerstau jammerte Einer im Radio. Wenn nicht heute, dann bestimmt in Zukunft, sagen die Verkehrsplaner vom Kanton und verweisen auf ihre Verkehrsmodelle, die eine starke Zunahme beim motorisierten Individualverkehr prognostizieren. Deshalb brauche es den Westast durch Biel mit seinen beiden innerstädtischen Anschlüssen–um Staus zu vermeiden und die Stadt vom motorisierten Verkehr zu entlasten.

Was oft genug wiederholt wird, zeigt irgendwann Wirkung: es wird nicht mehr hinterfragt und gilt fortan als «Tatsache». Auch für die Medien, welche die Mär vom Bieler Stauproblem und der notwendigen Autobahnlösung ihrerseits seit Jahren brav wiederholen und stets aufs Neue verbreiten.

Natürlich gab es im Lauf der Jahrzehnte unzählige Varianten, wie der angebliche, befürchtete oder künftige Stau zu bekämpfen sei. Schon zu Beginn des Autobahnzeitalters in unserem Land, in den 1950er-Jahren, debattierte man über die Frage, ob die Nationalstrassenverbindung zwischen den Jurasüdfuss-Städten am Süd- oder am Nordufer des Bieler- und Neuenburgersees entlang geführt werden solle. Auf einer Schifffahrt, so erzählt man sich im Seeland, hätten sich Berner Regierungsvertreter beim Bundesrat für die Aufnahme der reparaturbedürftigen Kantonsstrasse zwischen Biel und La Neuveville ins Nationalstrassennetz stark gemacht. Nicht ohne eigennützige Hintergedanken…

Bekanntlich ging die Rechnung der Berner Magistraten auf: Der Bund willigte ein, die teure Sanierung und der Ausbau zur Nationalstrasse wurden aus der Bundeskasse finanziert. Der Kanton war aus dem Schneider. Und auch die Wirte in Tüscherz, Twann und Ligerz waren zufrieden. Sie hatten sich für die Streckenführung entlang dem Nordufer stark gemacht und den Widerstand von Landschafts- und DenkmalschützerInnen vehement bekämpft, weil sie sich von der Autobahn blühende Geschäfte versprachen.

Bald mussten sie allerdings merken, dass die neue Strasse ihre Dörfer vom See abschneidet und viel Lärm und Gestank bringt–aber wenig Gäste. Die «Verschandelung»des Nordufers durch die Nationalstrasse wurde zur Hypothek, unter der die Region bis heute leidet.

Der Entscheid, die Nationalstrasse dem Nordufer entlang zu führen, hatte natürlich auch Folgen für die Linienführung im Agglomerationsraum Biel. Von Anfang an taten sich die Planer schwer damit. Eine erste Variante lautete «Weiterführung durch die Stadt Biel als Hochstrasse über der Schüss mit Fortsetzung als 4-spurige Autobahn über Bözingen – Pieterlen –Arch…»Eine Idee, die sich bald als chancenlos erwies.

Auch kam es zu Differenzen bei der Weiterbearbeitung des künftigen Trassees der N5 in Bezug auf die Linienführung zwischen Biel Ost und Biel West. Eine Arbeitsgruppe untersuchte zahlreiche Varianten. Bei der Ausarbeitung der bevorzugten Linienführung zeigte sich allerdings, «dass die Realisierung aus technischen und finanziellen Gründen, vor allem im Bereich des Trassees der SBB sowie im Bereich verschiedener bestehender Bebauungen, grosse Probleme aufwerfen würde. Für die Stadt Biel würde dies neben den unvermeidbaren Immissionen einen erheblichen Verlust an vorhandener Bausubstanz bedeuten.»[1]

Dieses Muster wiederholte sich in den folgenden Jahrzehnten mehrmals. 1975 wurde erstmals ein Generelles Projekt ausgearbeitet, gegen das es allerdings 300 Einsprachen gab. Das war das Ende dieser Variante. Ab 1978 wurden erneut zahlreiche Linienführungen diskutiert. Zur Debatte standen verschiedene Varianten mit einem Juratunnel, die Umlegung der Linienführung über eine Seelandtangente –und die sogenannte Südumfahrung. Während sich die Stadt Biel für eine Nordumfahrung mit Juratunnel stark machte, setzte sich schliesslich der Kanton mit seiner Variante der Südumfahrung durch.

Bis heute sorgt dieser Entscheid für rote Köpfe und für immer neues Planungsflickwerk: Als das Generelle Projekt der N5-Umfahrung Biel 1997 dem Bundesrat vorgelegt wurde, verlangte der damalige Verkehrsminister Moritz Leuenberger eine erneute Überprüfung des Teilprojekts «Westast». Zu teuer, zu massive Eingriffe in die städtische Grünzone und Zusatzkosten von rund einer Milliarde Franken infolge weiterer Tunnelbegehren am Nordufer des Bielersees, lautete die Begründung. Statt einer Freigabe für die Erarbeitung des Ausführungsprojekts verlangte der Verkehrsminister eine Machbarkeitsstudie für Alternativen. Die Planer sollten noch einmal über die Bücher und Varianten für eine Schnellstrasse durchs Seeland prüfen.

Wie bereits in früheren Jahren scheiterte auch diese Machbarkeitsstudie an der Politik: Aus wirtschaftlichen und lokalpolitischen Eigeninteressen widersetzten sich die damalige kantonalbernische Baudirektorin Dora Schaer, der Bieler Stadtpräsident Hans Stöckli, der Planungsverband Biel-Seeland und die meisten involvierten Gemeindepräsidenten einer erneuten Diskussion über eine alternative Linienführung. Also bastelte man am unbefriedigenden Westastprojekt weiter –in nur geringfügig modifizierter Form wurde das Generelle Projekt 1998 schliesslich abgesegnet.

2004 wurden die Tunnelbaubestimmungen als Folge der Brände im Gotthard- und im Montblanc-Tunnel verschärft: Das A5-Umfahrungsprojekt Biel genügte den Anforderungen nicht mehr. 2007 stellte der Kanton ein überarbeitetes Projekt vor. Statt einer eleganten Tunnellösung klafften auf den Plänen nun plötzlich riesige Schneisen mitten in der Stadt. Heftige Reaktionen und massive Kritik waren die Folge–und erneut eine breite Variantendiskussion.

Die sogenannte Arbeitsgruppe Stöckli beharrte mit Nachdruck auf den innerstädtischen Anschlüssen beim Bahnhof und beim Strandboden und akzeptierte somit, dass die Autobahnschneisen mit dem Generellen Projekt 2010 bestätigt wurden. Fortan verweigerten sich die Behörden auf allen politischen Ebenen jeglicher weiterer Variantendiskussion, obschon das offizielle Projekt augenfällige Mängel aufweist und längst nicht mehr zeitgemäss ist.

Gerade deshalb haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Planer und Ingenieure aus der Region mit der Suche nach eigenen, besseren Varianten beschäftigt. Diese reichen von einer Tunnellösung ohne innerstädtische Anschlüsse über den Bau einer «kleinen Seelandtangente»bis zu einem doppelstöckigen Boulevard.

Was all diesen Varianten gemein ist: Sie unterliegen dem gleichen, mit stetig wachsendem Autoverkehr rechnenden Denkmuster, das bereits in den 1950er-Jahren die Planung bestimmte. «Typisch für diese Art von Projektbeschrieb ist, dass hier ausschliesslich aus der Lenkradperspektive gedacht und gehandelt wird», sagte der renommierte Wiener Verkehrsexperte Hermann Knoflacher im Frühjahr 2017 in Bezug auf das offizielle Westast-Ausführungsprojekt.[2]Das Gleiche gilt für sämtliche Varianten, die in erster Linie auf den Ausbau von Strassenkapazitäten für den motorisierten Verkehr fokussieren.

Es ist an der Zeit, sich von den ewigen Wiederholungen längst überholter Dogmen zu verabschieden. Denn längst weiss man, dass wer Strassen baut, Verkehr erntet. Stau –den es ja eigentlich kaum gibt –beseitigt man auch in Biel nicht durch den Bau neuer Strassenkapazitäten, sondern mittels Durchlüftung und Schütteln der grauen Hirnzellen von Strassenbauingenieuren und -planern. Das heisst konkret: Statt wie bisher den motorisierten Autoverkehr zu bevorzugen, müssen zeitgemässe Verkehrskonzepte zwingend den Fuss- und Veloverkehr ins Zentrum stellen. Das ist eine unabdingbare Voraussetzung, um unsere Städte, Dörfer und Seeufer attraktiv und menschenfreundlich zu gestalten –und um eine Verkehrsentwicklung zu erreichen, die nachhaltig und zukunftsfähig ist.

Vollständiges interview auf  www.westast.ch/wordpress/3538-2

Gabriela Neuhaus ist freischaffende Journalistin und Filmemacherin. Sie ist in Biel aufgewachsen und lebt heute in Zürich und Twann. Seit Jahren engagiert sie sich gegen den geplanten A5-Westast in Biel und betreibt u.a. die Website www.westast.ch

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