Noch wuselt es nur so von Leben. Auf jedem Wiesenfleck, in jeder Pfütze, in jeder Stadt werkeln die unterschiedlichsten Wesen vor sich hin. Diese Masse macht Mut. Aber sie ist auch eine Herausforderung. Auszug aus einem Podcast, der dem nachgeht, was Zusammenleben ist – und was es noch sein könnte
Die Erde ist eine ziemlich grosse Gross-WG. Unzählige Tiere, Pflanzen, Menschen, Bakterien und Pilze bewohnen einen einzigen Planeten. Und sie alle wollen Ähnliches und doch wieder völlig Anderes. Bei so viel Wollen und so wenig Platz scheint die Apokalypse nicht mehr weit. Wir für unseren Teil – wir, das sind Lou, Anja und Milena – wollen aber mehr Utopien und weniger Dystopien. Und am allerbesten ein paar geteilte Utopien, in denen es Platz für alle gibt.
Aus diesem Grund haben wir uns gefragt: Was bedeutet das eigentlich, Zusammenleben, und was könnte es noch bedeuten? Wie sehen entsprechende Utopien und Bedürfnisse aus unterschiedlichen Perspektiven aus? Um diesen und weiteren Fragen nachzugehen, haben wir verschiedene Expert*innen rund um das Thema Zusammenleben interviewt.
Im hier abgedruckten Interview sprechen wir mit zwei Menschen vom RaAupe Kollektiv über ihre Vorstellungen vom Wohnen und Zusammenleben. Und was das eine mit dem anderen zu tun haben kann.
Für alle, die zum ersten Mal davon hören: Was ist das Kollektiv RaAupe?
RaAupe ist ein Kollektiv von circa 15-20 Personen, dazu gehören auch Kinder. Wir organisieren uns in mehreren Lebensaspekten gemeinschaftlich: In unserer kritischen Bildung und Intervention und in der antikapitalistischen Produktion. Im Alltag kollektivieren wir ausserdem unsere Lohn- und Care-Arbeit. Wir haben beispielsweise ein gemeinsames Konto, auf das wir unsere Löhne einzahlen und von dem wir das Geld nehmen. RaAupe bedeutet: „Revolution als Alltag“ und in diesem Sinn strukturieren wir unser Leben.
Was bedeutet „Zusammenleben“ für euch?
Am Kollektiv RaAupe ist vielleicht speziell, dass wir nicht alle zusammenwohnen. Sonst stellt man sich ein Kollektiv eher als grosse Wohngemeinschaft vor, die alles teilt. Wir führen trotzdem ein sehr gemeinschaftliches Leben. Jeden Montag haben wir Sitzungen und kochen und essen zusammen. Ausserdem organisieren wir gemeinsam verschiedene Anlässe und haben auch sonst viel miteinander zu tun. Ich würde das Ganze eher als ein „eheähnliches Konstrukt“ bezeichnen, aber halt mit 15-20 Personen anstatt mit zweien.
Und wieso wohnt ihr nicht alle zusammen?
Als die Gruppe entstand, war für uns klar: wir wollen gemeinsam durchs Leben gehen. So haben wir überlegt, was dieses „zusammen“ im Hinblick auf Zeit, Arbeit und Geld konkret bedeutet. Dabei haben wir uns mit der Kommunenbewegung und ihrer Entwicklung befasst. Wir fanden schade, dass viele Kommunen wegen persönlicher Konflikte nicht weiterbestehen konnten – auch wenn dies ein Stück weit einfach menschlich ist.
Unsere Utopie ist nicht darauf fixiert, dass alle involvierten Menschen bis zum Tod immer glücklich zusammenleben und bereichernd füreinander sein müssen. Deshalb wollten wir eine Struktur schaffen, die das Kollektiv nicht an ein Haus koppelt. Dadurch können auch mehr Leute involviert werden, was unserer Meinung nach für gesellschaftliche Veränderungen wichtig ist. So dachten wir eine Struktur an, die als Netzwerk oder aus verschiedenen Zellen besteht, die zusammenkommen und dabei zu etwas Grösserem, Einflussreicherem werden können.
Wie geht ihr als Kollektiv mit entgegengesetzten Bedürfnissen um? Und wie kann eine Gesellschaft das tun?
Wir haben kein allgemeingültiges Rezept. Aber wir versuchen, unsere Bedürfnisse zu kommunizieren und wahrzunehmen. Dies ist auch in Bezug auf das Geld ein grosses Thema. Wir sind immer darauf bedacht, den Menschen ihre finanziellen Wünsche zu erfüllen und sie nicht in Frage zu stellen. Stattdessen überlegen wir uns gemeinsam: Wie kommen wir zu dem Geld? Oder wie können wir das ermöglichen?
Von der Gesellschaft wird uns meist antrainiert, allein oder mit der Familie zu schauen, dass ein Bedürfnis befriedigt wird. Wenn ein Wunsch nicht gleich in Erfüllung geht, suchen wir eine*n Schuldige*n dafür.
Auch wir sind natürlich Kinder dieser Gesellschaft und müssen uns an diesen Dingen abarbeiten. Manchmal nervt uns jemand oder wir haben das Gefühl, eine andere Person steht der eigenen Bedürfnisbefriedigung im Weg. Trotzdem scheint mir, dass diese Gruppe viel Raum schafft, einander etwas zu ermöglichen. Und das braucht halt ein wenig Energie.
Viele Menschen haben den Anspruch, dass ihre Wünsche sofort erfüllt werden, und verhalten sich auch so. Manche können ihre Bedürfnisse auch sofort durchsetzen, zum Beispiel, weil sie einem bestimmten Geschlecht angehören, weil sie reich sind oder besonders laut. Andere können das nicht. Wir versuchen, auch diese Aspekte zu kollektivieren, damit alle gleich viele Möglichkeiten haben.
Wie sehen eure persönlichen Utopien aus?
Für mich wäre das eine herrschaftsfreie Welt – in Bezug auf alle meine Lebensaspekte; ein Zusammenleben aufgebaut auf Kooperation und nicht auf Konkurrenz und Ausbeutung. Das verstehe ich zum Beispiel auch in Bezug auf Tiere, die ich nicht als Ware begreifen will. Ich finde am Kollektiv RaAupe besonders schön, dass wir einen Herzensweg zu gehen versuchen: Wir überlegen uns, wie wir uns miteinander wohlfühlen und was wir füreinander brauchen. Und das wäre auch meine Hoffnung für die Zukunft, dass man sich wieder in grösseren Verbänden organisiert, auf eine liebevolle Art, in denen alle ihren Platz finden.
AutorInnen: Milena Keller hat am Schweizerischen Literaturinstitut und an der Universität Zürich studiert. Ihre Geschichten sind unter anderem in der Surprise, im SRF und im Bieler verlag die brotsuppe erschienen. Derzeit schreibt und unterrichtet sie in Zürich.
Lou Meili, geboren 1996, schloss 2018 das Studium in Literarischem Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut ab. Lou lebt und schreibt in Bern.
Ausserdem studiert Lou Biologie und bringt an Lesungen regelmässig Gedichte und Geschichten auf die Bühne.
Anja Delz, 1994 in Rheinfelden geboren, hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studiert und macht zurzeit einen Master an der Universität Fribourg in Kunstgeschichte und Komparatistik. Texte von ihr sind bereits im Bieler verlag die brotsuppe erschienen.
Mehr zum Kollektiv RaAupe speziell in ihrem Manifest unter: https://raaupe.ch/kollektiv/manifest/
Zum Podcast „Barsch“
Was ist Zusammenleben und was könnte es noch sein? Anja, Lou und Milena haben dazu unterschiedliche Expert*innen befragt. Aus dieser Interview-Serie ist im Rahmen von en masse ein Podcast entstanden. Darin sprechen sie zum Beispiel mit einem Biologen über Nachbarschaftsverhältnisse in der Aare und mit funktional wohnenden Menschen über den Zauber, anderen beim Schlafen zuzuhören. Die Episoden mit den übrigen Interviews und der Geschichte über den Barsch, der plötzlich in ihrer Badewanne auftaucht und seine eigene Utopie sucht, können auf www.enmasse.ch/barsch/ angehört werden.