Der Alltag kann manchmal ein richtiger Schweinehund sein. Total beschäftigt mit uns selbst und einer nicht enden wollenden To-Do-Liste stecken wir in einem Trott fest, der uns unachtsam für die wesentlichen Dinge im Leben machen kann. Darunter leidet oftmals auch der Umgang miteinander. Besonders bei Begegnungen mit Kindern. Solche Erlebnisse, ob vertraut im familiären Umfeld oder flüchtig im Alltag, können einem die eigene Kindheit wieder vor Augen führen. Dabei sollten wir uns ganz bewusst Gedanken darüber machen und uns fragen, wie Kinder die Welt sehen und erleben. Dies ist für das gegenseitige Verständnis von grosser Bedeutung.
Stellen wir uns die Kindheit als Freiraum vor: Diese Zeit bietet den Kindern das ganze Spektrum an Möglichkeiten, sich zu entfalten. Gleich einem leeren Blatt Papier, das uns zu den grössten Abenteuern einlädt. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch wir Mitmenschen. Wir begleiten den Weg des Kindes hin zum Erwachsenen-Dasein, egal ob in enger Beziehung oder flüchtig. Das leere Papier wird geformt, Ecken und Kanten entstehen. Begegnungen bestimmen mit, wie sich jemand schliesslich als Erwachsener oder Erwachsene fühlt und verhält.
Positiv wie auch negativ nimmt jeder von uns eine prägende Rolle im Leben anderer ein. Für das bessere gegenseitige Verständnis ist es wertvoll, sich in andere hinein zu fühlen und ihnen bewusster auf Augenhöhe zu begegnen. So verstehen wir, was wir mit unseren Aussagen oder Handlungen auslösen. Gerade bei Kindern sollten wir uns fragen, wie sich unser Verhalten auf sie auswirkt.
So stark können Kindheitserlebnisse prägen
Wie wichtig ein solcher Perspektivenwechsel ist, habe ich kürzlich persönlich erlebt: Ein Konflikt in meinem familiären Umkreis hat bei mir ein Gefühl der tiefen Ohnmacht ausgelöst. So sehr, dass ich mich nicht mehr selber erkannt habe. Um wieder Klarheit zu gewinnen, suchte ich innerlich nach dem Auslöser für diese emotionale Überforderung. Ein Blick zurück in meine Kindheit war unumgänglich. Dabei erkannte ich das Gefühl der Ohnmacht als schmerzhafte Erinnerung. Es tauchte auf, wenn mich Erwachsene wie Luft behandelten – als würde ich als Person nicht existieren. Diese Prägung hatte mich lange begleitet und mich immer wieder emotional gefordert. Sie hat mich seither in ein bestimmtes Verhaltensmuster gedrängt, sobald ich mich unbewusst in diese Situation zurück versetzt fühlte. Diese Erkenntnis warf nun einen neues Licht auf den Konflikt und liess mich ruhiger werden. Ich habe mich dadurch selber besser verstehen gelernt und mir wurde einmal mehr klar, wie prägend frühe Kindheitserlebnisse sein können. Und wie wichtig es für Kinder ist, von Erwachsenen «gesehen zu werden»: auf Augenhöhe.
Andere Sichtweisen gedanklich und emotional zu verstehen, war mir schon vor diesem Erlebnis wichtig. Doch nun kenne ich den Grund, weshalb Begegnungen auf gleicher Höhe für mich so zentral sind. Perspektive zu wechseln bedeutet für mich, eine offene Haltung einzunehmen. Einen Rollenwechsel zuzulassen um sich in sein Gegenüber hinein zu fühlen. Gelingt dieser, entsteht eine verständnisvolle und empathische Verbindung zu anderen Erwachsenen, den Kindern oder der Natur.
Kinder spiegeln, was sie sehen
Wir alle, Eltern und Kinderlose, sollten uns bewusst sein, wie sich unser Verhalten auswirken kann. Es betrifft vor allem jene, die nach uns kommen und sich durch Nachahmen entwickeln.
«Kinder sind Spiegel, die wiedergeben, was vor ihnen steht»
Bukhari al-Jauhari
Meine zweijährige Tochter führt mir diese Tatsache täglich vor Augen. Bin ich unachtsam, zeigt sie mir dies durch ihre Reaktionen auf indem sie zum Beispiel ignoriert, provoziert oder wiederum sehr anhänglich ist. Ich verstehe es als Aufforderung, ihr auf Augenhöhe zu begegnen und zwar als menschliches Wesen. Kinder sind Menschen in einem bestimmten Stadium. Wir müssen sie ernst nehmen und behutsam mit ihrem offenen und noch unvoreingenommenen Wesen umgehen. Kinder können nichts für ihre Lebenswelten. Sie befinden sich mehrheitlich in Situationen die sie sich nicht ausgesucht haben und für sie neu sind. Anstatt beispielsweise im Bus oder beim Einkaufen genervt und hastig um ein Kind herum zu manövrieren, weil es uns «im Weg steht» wäre es doch viel besser das Kind unaufgeregt auf sich aufmerksam zu machen und ihm die Gelegenheit zu geben, selbst aktiv zu werden. Wer das Kind als Person nicht übersieht, wird selbst vom Kind gesehen werden.
Eintauchen in die Welt der Kinder
Es ist spannend, dass Kinder uns nachahmen und auch wir Erwachsenen eine Nähe zu ihrer Welt der grenzenlosen Phantasie suchen. Sie wirkt befreiend, weil die Vernunft sich löst und wir Kontrolle abgeben können. Diese gegenseitige Nachahmung ist aus meiner Sicht eine kostbare Schnittstelle. Wenn wir darauf aufspringen, begegnen wir uns auf Augenhöhe. In diesem Moment sind beide Gegenüber gleichberechtigt und akzeptieren einander. Ein respektvoller Umgang und klarer Austausch kann zwischen zwei Existenzen faire Verhältnisse schaffen. So entsteht Raum für Verständnis und Veränderung.
Wir können Lösungen finden und Dinge begreifen, wenn wir uns auf andere einlassen. Und wenn wir uns selbst nicht zu ernst nehmen und anderen Beachtung schenken, so werden auch wir wahrgenommen. Übernehmen wir Verantwortung als Vorbilder! Immer wieder werden wir von Kindern in ihre Welt eingeladen, bemerken es jedoch oft nicht. Schlagen wir die nächste Einladung nicht überstürzt aus, sondern lassen uns auf das Experiment ein. Begegnen wir uns auf gleicher Höhe, so schenken die Kinder uns einen der grössten Schätze überhaupt: Einen Blick auf die Welt durch ihre Augen.
Text
Stephanie Schlup-Künzler bringt unerwartete Dinge zusammen um furchtlos zu werden. Mit ihrem Herzensprojekt «fabula rasa» entwickelt sie mit dem Kind die Fähigkeit, ein Problem durch Selbsthilfe lösen zu können, damit es gestärkt und mutig durchs Leben gehen kann.
Fabula Rasa
Bringt unerwartete Dinge zusammen um furchtlos zu werden.