Urbanismus

Nimm die Autos weg und es lebt wieder

Emmanuelle Houlmann und Roman Tschachtli haben zusammen mit ihren Töchtern Leola und Nena ein einzigartiges Kinder-Buch mit kraftvoller Message geschaffen. «blume de bitume» zeigt traumhafte grossformatige Bilder, auf denen die Bieler Kanalgasse zu neuem Leben erwacht. Denn die Autos sind auf einmal weg…

Es war vor einem Jahr, im März 2020, als sich Emmanuelle Houlmann und Roman Tschachtli ins Atelier der Officina Helvetica begaben, um ihr Projekt endlich auf Papier zu bringen. Die Geschichte war geschrieben, der Druck der ersten beiden Bilder geplant, das Linoelum geschnitzt, da kam der Lockdown. Und die leergefegte Kanalgasse, wie sie auf Bild zwei von «blume de bitume» als kindlich imaginärer Zauber vorkommen sollte, war plötzlich ganz real. Verrückter Zufall oder Schicksal – auf jeden Fall eine Steilvorlage, Corona kurzerhand in die Geschichte einzuflechten. Das Virus als Gassenfeger, als wäre das von Anfang die Idee gewesen.

Ein Pflänzchen bricht Festgefahrenes auf

Der Unterschied von Realität und Geschichte besteht nun allerdings im weiteren Verlauf der Dinge. Während der Grossteil der Menschen, in der Realität die Qualität der neuen Leere und Stille nicht erkannte oder nicht erkennen wollte und lieber im «Rückkehr zur Normalität»-Modus schon bald wieder alles in Grund und Boden fuhr, durchbricht in «blume de bitume» ein Pflänzchen den Strassenbelag. Rasch wird es grösser, weitere kommen dazu, Tiere erkunden den neuen Freiraum mitten zwischen den Häuserzeilen. Dann gesellen sich Menschen dazu – zum flanieren, zum feiern, zum bleiben. «So wie vor 100 Jahren», sagt Architekt Roman Tschachtli, «als die Kanalgasse eine Begegnungszone war, eine Hauptachse schon damals, aber mit Raum für alle, auch für Tiere und Kinder.» Er zeigt eine alte Postkarte: reges Treiben, Handel und Cafés zu beiden Seiten. «Alles wollte an der Kanalgasse sein, der Verbindung von der Alt- zur Neustadt. Heute ist sie eine Trennung.» «Es könnte so cool sein», sagt Emmanuelle Houlmann: «Du nimmst die Autos weg und es lebt wieder.» Aber nein, lieber fliehen die Menschen aufs Land hinaus, um dort zu suchen, was ihnen in der Stadt abhanden gekommen ist – natürlich mit dem Auto. Wie absurd! Sie hätten das selbst erlebt, als sie im Herbst 2019 für eine Woche mit den Kindern ins Gotthelfhaus «Sahlenweidli» im Emmental gezogen seien, um an den Linolschnitten weiterzuarbeiten, erzählt Emmanuelle Houlmann: «Wir waren zu Fuss unterwegs mit all unserem Material und kamen uns wie Ausserirdische vor. Überall Autos. Wir suchten die Ruhe und fanden uns in einer Landschaft voller Motorenlärm und Kampfjetgetöse wieder.»

Vielleicht wird doch eines Tages alles anders

Nebst der allgemeinen Frustration über die raumergreifende Omnipräsenz der Autos sind es die Bildmappen von Jörg Müller, die Houlmann und Tschachtli inspiriert haben. «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder» und «Hier fällt ein Haus, dort steht ein Kran und ewig droht der Baggerzahn» heissen die Werke, die Illustrator Müller in den 1970er Jahren auf Anhieb bekannt machten. Sie zeigen die unaufhaltsame «Zubetonierung» einer fiktiven Landschaft bzw. den unaufhaltsamen Baufortschritt in einer Stadt in Zeiten des Wirtschaftswachstums. Die Schlussbilder ernüchternd, weil schonungslos die Realität aufzeigend. Wir müssten die Geschichte ins Positive drehen, um den Kindern eine Hoffnung zu geben, sagte sich das Paar – wachgerüttelt auch durch die Reaktion ihrer Tochter Nena, die, als sie das Buch zum ersten Mal gezeigt bekam, konsterniert meinte: «Aber gäu Papi, so isch es ja jetzt.» Jörg Müller wurde kontaktiert, wollte aber nicht, dass sein Buch weitergeschrieben wird, schliesslich sei immer noch Realität, was er zuletzt gezeichnet habe. Also schufen Houlmann und Tschachtli etwas Neues, mit trotzdem einer Hommage an Müller: dem Konzept des immer gleichen Bildausschnittes und das die Bilder nicht gebunden sind und auch als Poster funktionieren können. Und mit einer klaren Message vor allem an die Kinder dieser Welt: «Wenn etwas für dich nicht stimmt, kämpfe dagegen, ändere es.» Emmanuelle Houlmanns Augen funkeln: «Es ist nicht, weil man dir sagt, es sei unmöglich, dass es auch wirklich unmöglich ist.» So endet denn ihre Geschichte nach einem fulminanten Höhepunkt mit Party auf der Gasse durchaus auch auf dem Boden der Realität, aber mit dem hoffnungsvollen und poetischen Ausblick: «Vielleicht wird doch eines Tages alles anders? Ideen sind Blumen, die auf Asphalt wachsen.»

Hunderte Stunden Handarbeit

So viel zum Inhalt. «blume de bitume» ist aber auch künstlerisch und handwerklich ein bemerkenswertes Projekt, entstanden in der Philosophie der Langsamkeit. Denn: alles begann anfangs 2019 mit einem Kurs in der Officina Helvetica, einem aus der Zeit gefallenen Druckatelier in der ehemaligen Cosmos-Fabrik an der Alfred-Aebi-Strasse. Hier öffnete sich für Houlmann und Tschachtli eine bis dato unbekannte analoge Welt, die sie in ihren Bann zog. Sie lernten Farben mischen, Bleisatz setzen und die Tücken der Einstellung der Maschinen kennen. Eine ganze Wand voller Fehldrucke – zu bewundern im Rahmen der aktuellen Ausstellung im der ORT – zeugt von der Komplexität der Druckprozesse. Stets mit dabei: ihre Töchter Nena und Leola, die sich auf allen Ebenen einbringen durften. «Sie haben extrem gut mitgemacht», sagt der Vater: «Natürlich war es lang für sie, natürlich verloren sie auch mal die Geduld. Aber sie haben gelernt: für ein seriöses Projekt muss man dran bleiben.»

Apropos durchhalten: das sei auch für sie Erwachsene nicht immer einfach gewesen, ergänzt Emmanuelle Houlmann. «Ein Glück, dass wir keinen Druck hatten, dass niemand auf unser Buch gewartet hat» Sie selbst allerdings kündigte 2018 gar ihren Job als Kommunikationsfachfrau beim Bund, um sich ganz ihrer Projekte zu widmen, unter anderem der Entwicklung und dem Druck der auf 111 Exemplare limitierten Erstauflage von «blume de bitume». Der Druck alleine war ein dreimonatiger 100-Prozent Einsatz. Pro Farbe bis zu zwei Stunden Aufwand für die Einstellungen, dann drucken, trocknen, warten, wieder einspannen usw. Eine Fleissarbeit sondergleichen, die zudem stets höchste Konzentration erforderte. Kaum zu toppen diesbezüglich das kraftvolle äusserst komplex aufgebaute sechsfarbige Bild Nummer 6. Ja, die beiden self-made-Buchkünstler haben es sich nicht einfach gemacht, aber gerade auch dadurch etwas geschaffen, das hängen bleibt, und das nicht zuletzt sie als Paar und Familie zusammengebracht hat.

Janosch Szabo, 35, ist Mitherausgeber der Vision 2035 und träumt schon lange von einem autofreien Biel. Er würde liebend gern auf dem Mittelstreifen der Marktgasse seine 60 Sorten Tomaten anbauen.

Fotos: Emmanuelle Houlmann, Roman Tschachtli, Janosch Szabo

Ein Anschauungsexemplare von «blume de bitume» gibt es  im ORT an der Marktgasse 34 in Biel. Dort kann das aussergewöhnliche Buch auch für Fr. 150.– erworben werden.

Die Officina Helvetica

Die Officina Helvetica ist Werkstatt für Satz, Druck, Lithografie, Kunst und Grafik. Im Un-tergeschoss der ehemaligen Velofabrik Cosmos pflegt ein Verein das Wissen einer grossen Schweizer Berufstradition, der Typografie, und gibt dieses weiter an eine junge Genera-tion von Studentinnen, Künstlerinnen und Grafiker*innen. Mehr unter: www.officina-helvetica.ch

image_pdfPDFimage_printPrint
<< Désobéissance civile : faire bouger les lignesActiviste politique qui est-tu? >>
Teilen: