Es gibt in der Schweiz hunderte abgewiesene AsylbewerberInnen, die hier nicht bleiben dürfen, aber auch nicht in ihr Herkunftsland zurück können. Was das Staatssekretariat für Migrationdazu sagt. Und: welchen Spielraum der Jurist, Professor für Migrationsrecht und Präsident der nationalen Kommission zur Verhütung von Folter sieht.
Prêles ist erledigt. Am 13. März 2019 hat der Bernische Grosse Rat das Projekt eines Ausreisezentrums in Prêles mit 80 gegen 73 Stimmen abgelehnt. Das war möglich, weil viele Grossrätinnen und Grossräte aus allen politischen Lagern verstanden haben, dass das Vorhaben ein menschenrechtlicher und wirtschaftlicher Unsinn gewesen wäre.
Aber: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Der zuständige Regierungsrat Philippe Müller und seine Leute vom Migrationsdienst (MiDi) suchen nun einen anderen Ort für die «Zwischenlagerung» der Abgewiesenen.
Abgewiesen ohne Rückkehrmöglichkeit – Überleben mit Nothilfe
Nach dem Entscheid des Grossen Rates können die abgewiesenen Asylbewerber ohne Rückkehrmöglichkeit für den Moment weiterhin dort leben, wo sie heute sind: im Dorf, in der Stadt, auf dem Berg – im Asylzentrum, in einer WG, in einer Wohnung zu mehreren, in einer Schweizer Familie.
Doch niemand weiss, wie lange sie dort sein können: Tage? Monate? Jahre? Vielleicht werden sie irgendwann ausgeschafft oder in ein Lager gebracht, vielleicht nie. Sie haben zwar ein Dach über dem Kopf, medizinische Grundversorgung und für Essen, Kleidung, Freizeit bekommen sie in Biel 8 Franken pro Tag – zu vorgegebenen Zeiten abzuholen. Arbeiten ist ihnen aber verboten, Lernen auch: kein Sprachkurs, keine Berufslehre. Das nennt sich Nothilfe: Not ja, aber keine Hilfe. In der ganzen Schweiz erhalten gut 3000 Abgewiesene Nothilfe, Tendenz steigend. Manche sind seit Jahren in dieser Situation.
Seit sie abgewiesen sind, haben sie kein Recht mehr hier zu sein, sie sind illegal da. Viele von ihnen haben kein Dokument vorzuweisen, das bestätigen würde, dass es sie überhaupt gibt. Deshalb «sollen sie gehen», die Schweiz verlassen. Nichts ändert sich an ihrer mühseligen, ausweglosen Situation, am Dilemma, in dem sie sich befinden und das sie nicht beeinflussen können.
Warum gehen sie nicht einfach in ein anderes Land?
In das Land, aus dem sie geflüchtet sind, können sie nicht zurück, weil sie dort seit ihrer Flucht noch stärker gefährdet sind als vorher, Gefängnis oder Folter drohen ihnen. Aus diesem Grund würde zum Beispiel die Wegweisung der TibeterInnen nach China (Tibet = chinesische Provinz) gegen die Menschenrechte verstossen. Oder sie haben keinen Bezug zu ihrem Herkunftsland, weil sie nie dort gelebt haben – zum Beispiel junge AfghanInnen, die im Iran als Flüchtlinge geboren sind. Oder ihr Herkunftsland würde sie gar nicht einlassen. Trotz widrigsten Bedingungen bleiben sie. Sie haben keine andere Wahl.
Nach der Dublin-II-Verordnung ist jeweils der Staat, in dem ein Flüchtling zum ersten Mal in die EU einreist, allein für dessen Versorgung und die Behandlung möglicher Asylanträge verantwortlich. Geflüchtete, die in einem EU-Land registriert worden sind, können nicht in einem anderen EU-Land ein Asylgesuch einreichen. Die Schweiz hat dieses Abkommen auch unterzeichnet.
Wenn nun in der Schweiz registrierte Geflüchtete in ein anderes westeuropäisches Land gehen, werden sie zurückgeschickt, weil die Schweiz für sie zuständig ist. Hier sind sie dann weiterhin illegal. Wir kennen kein Land, das abgewiesene Flüchtlinge aufnehmen würde.
Warum gibt es abgewiesene Flüchtlinge – zum Beispiel TibeterInnen – die nirgendwo hin können und in der Schweiz trotzdem keine Aufnahme finden?
Diese Frage haben wir Herrn Mario Gattiker, Direktor des Staatssekretariats für Migration SEM, gestellt.
Wir hofften auf eine klare Antwort, also auf Hinweise, was Abgewiesene konkret tun könnten, um ihre Situation zu verändern. Gattiker schreibt: „Die Asylsuchenden unterliegen einer „Mitwirkungspflicht“ und müssen ihre Identität offenlegen. Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, verunmöglichen sie dem SEM die Abklärung ihrer Schutzbedürftigkeit…“
Der Staat (und nicht nur in der Schweiz) geht davon aus, dass jeder Mensch ein amtliches Papier besitzt (ID oder Pass), das bestätigt, wer man ist, oder dass man dieses bei der Vertretung des eigenen Landes «abholen» kann. Wenn man aber kein solches Papier vorzeigen kann – was für viele Abgewiesene der Fall ist – weil man gar nie ein solches besessen hat, weil es einem schon im eigenen Land weggenommen wurde oder auf der Flucht verloren ging, oder weil ein Besuch bei der Vertretung des eigenen Landes die zurückgebliebene Familie oder Freunde gefährden würde, was dann? Dann geht das SEM davon aus, dass die/der GesuchstellerIn der «Mitwirkungspflicht nicht nachkommt». Es zieht dann den Schluss, die gemachten Angaben seien falsch, die Person komme gar nicht aus dem Land, das sie angibt.
Die obenstehenden Informationen entnehmen wir hauptsächlich drei Briefen des Staatssekretariats für Migration, mit dem wir zwischen Februar und Mitte Mai in Briefkontakt gestanden sind. (siehe: „Darf nicht bleiben – kann nicht gehen: der Briefwechsel dazu“)
Was aus den Abgewiesenen wird
Kürzlich haben wir gelesen, dass Deutschland Abgewiesene ohne Rückkehrmöglichkeit in Länder zurückgeschafft hat, wo sie an Leib und Leben bedroht sein können.
Hier in der Schweiz tut das SEM seit Jahren alles, damit die Abgewiesenen von selber gehen – aber mit wenig Erfolg.
Seit Jahren leben sie hier mit massiven Einschränkungen: ihr Lebensraum ist eng begrenzt, auf Schritt und Tritt stehen sie unter Kontrolle, andere bestimmen über ihr Leben. Sie sind wie Gefangene mit Fussfesseln. Schlimmer noch: ihre «Schuld» ist ein einmaliger Verstoss gegen Landesgrenzen, die «Strafe» dafür hat kein Ende – so ähnlich geht es nur gefährlichen Verbrechern, die lebenslänglich verwahrt werden.
Während unserer Gesellschaft Arbeitskräfte fehlen, sollen die Abgewiesenen ihr Nothilfe-Geld abholen und zuschauen, wir andere arbeiten. So verschwenden sie ihre Lebenszeit. Gleichzeitig verschwendet der Staat Steuergelder und menschliche Kräfte und Ressourcen.
Wie lange kann man in diesem Zustand leben, ohne in eine Depression zu verfallen, zu verzweifeln, oder in die Illegalität abzurutschen, gewalttätig zu werden, ein Dieb, ein Dealer? Sie haben nichts zu verlieren, sie besitzen ja nichts. Oder vielleicht doch: kleine Kinder, illegal hier, wie ihre Eltern. Sie werden neun Jahre zur Schule gehen, nachher ist Schluss: keine Ausbildung, kein Beruf. Sie werden nichts zu tun haben. Wenn sie sich irgendwann doch noch in die Gesellschaft eingliedern und für sich selber aufkommen sollen, wird das sehr schwierig sein. Die jetzigen erwachsenen Abgewiesenen können wegen dem Arbeitsverbot keine AHV-Beiträge einzahlen. Sie werden deshalb auch im Alter unterstützt werden müssen, aber weiterhin in Armut leben.
Für sie ist es ein Leben ohne Aussicht auf eine Änderung, verbunden mit der Angst, doch noch ins bedrohende Herkunftsland zurückgebracht zu werden. Für den Staat sind die Kosten hoch und werden mit den Jahren noch zunehmen.
Lösungswege suchen
In unseren Unterlagen haben wir einen Artikel mit dem Titel «Heimat- und Rechtlose unter uns: Nicht-Abschiebbare in der Schweiz» von Prof. Dr. iur Alberto Achermann,
Er vergleicht die Situation von heutigen Abgewiesenen und Rechtlosen mit Menschen, die im letzten Jahrhundert von Gesellschaft und Staat ausgegrenzt oder eingesperrt wurden – Stichwort: fürsorgerische Zwangsmassnahmen, Fremdplatzierungen. Es waren Menschen, die nicht in die «gute Gesellschaft» hineinpassten, sie waren «anders» als jene, die das Sagen hatten: Landstreicher, junge Mädchen mit «illegitimen» Kindern, Arme.
Achermann fragt: «Wie ist solch kollektives Versagen zu verhindern?»
Und antwortet: «Durch ein Abstellen auf universell anerkannte menschenrechtliche Standards und durch eine Haltung, dort besonders genau hinzuschauen, wo Menschen stark leiden.»
Dann kommt er auf die Gegenwart zu sprechen, schreibt von Menschen, die nach einem negativen Asylentscheid von der Nothilfe leben müssen. Er betrachtet beide Seiten: «Einerseits soll irreguläres Verhalten nicht belohnt werden…. Andererseits muss jedes staatliche Verfahren verhältnismässig sein und die Massnahmen müssen geeignet sein, das angestrebte Ziel (Ausreise oder Rückkehr) zu erreichen. Zeigt sich nach Jahren, dass dieses Ziel nicht realistisch ist, muss die Situation neu geprüft werden.»
Er zeigt auf, dass unsere Rechtsordnung Mechanismen kennt, mit welchen der Staat nachgibt: etwa Verjährung, Begnadigung, Amnestie, und dass der Staat Grundprinzipien anwenden kann wie «Gnade vor Recht» In einem Satz: Der Staat kann nachgeben, wenn es gute Gründe gibt.
«Diese Grundprinzipien sollten auch auf gestrandete, nicht abschiebbare Menschen Anwendung finden, ohne dass dies eine Gefahr für die Rechts- und soziale Ordnung bedeuten würde. Eine Lösung wird uns vor dem Vorwurf späterer Generationen bewahren, hartherzig oder teilnahmslos gehandelt zu haben.»
Margrit Schöbi war conseillère en orientation professionnelle à l’OP de Bienne/ BIZ Biel. Sie arbeitet im Migrationsbereich: bei Internido mit Deutsch-aktiv und Deutschkurs, in einer Bieler Empfangsklasse, sowie für die Legalisierung von Abgewiesenen und als deren Begleiterin.
Rudolf Albonico ist Soziologe und Erwachsenenbildner in Biel/Bienne. Engagiert in der Arbeit mit Personen mit Migrationshintergrund weiss er, wie wichtig eine gute und frühe Betreuung von Asylsuchenden ist für eine gelingende Integration.
Kommentar
Wir stellen Fragen und suchen nach Antworten.
Genügen die Verfahren beim SEM und vor dem Bundesverwaltungsgericht rechtsstaatlichen Ansprüchen? Vielleicht. Wir sind davon nicht überzeugt: Zu viele Hypothesen werden aufgestellt, – nachzulesen im 1. Brief des SEM, vom 26.2.19 – zu wenige Beweise erbracht – ebenfalls dort.
Aber selbst wenn die Verfahren einigermassen korrekt gewesen wären: Wenn dieses Verfahren derartigen Unsinn, so grosse Kostenfolgen, so unwürdige Behandlung von Menschen zur Folge hat, sollten wir uns vielleicht nicht etwas Gescheiteres einfallen lassen? Dass zum Beispiel der Kanton Bern beim Bund intervenieren könnte – schliesslich muss der Kanton ausfressen, was ihm der Bund einbrockt. Sollte vielleicht der Kanton ein menschenwürdigeres, sinnvolleres, auf die Dauer kostengünstigeres Regime einführen? Wir meinen ja. Wieso frustrierte, hoffnungslose Abgewiesene produzieren, wenn wir motivierte, geschulte, kreative Menschen als neue MitbürgerInnen und als gesuchte Arbeitskräfte dringend brauchen? Übrigens: Samt ihren Kindern.
Wir, die Autoren dieses Berichts, setzen uns ein, dass die Abgewiesenen ohne Rückkehrmöglichkeit Anspruch erhalten auf gleiche Rechte wie alle anderen Bewohner dieses Landes. Die Bedingungen der Nothilfe müssen aufgehoben werden – Menschenrechte müssen für alle Menschen gelten, auch für die Abgewiesenen.
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Margrit Schöbi und Rudolf Albonico suchen Menschen, die sich mit ihnen engagieren wollen, um diese ungerechte Situation zu verändern. Weitere Infos und Kontakt: