Wenn Obst- und Gemüsebauern im Raum Bern und Seeland mit Ungeerntetem nicht mehr wissen wohin, ist das Erntenetzwerk der OGG Bern (Ökonomische Gemeinnützige Gesellschaft) eine gute Anlaufstelle. Projektleiterin Vera Geissbühler trommelt dann Freiwillige zusammen, um retten zu gehen, was noch in der Erde steckt oder an den Bäumen hängt – allerdings nur so viel, wie sie auf der anderen Seite Abnahmegarantie hat. Und: wenn immer möglich, bekommt der Produzent noch Geld dafür. Porträt eines spannenden Food-Save-Projekts in Entwicklung.
Rücken sie zu einem Einsatz aus, stehen sie dem Überfluss oft in krasser Unterzahl gegenüber. Sechszehn Hände hier, abertausende Johannisbeeren dort an den Sträuchern. Oder: neun Motivierte vor einem endlos scheinenden Rüeblifeld. Die Helferinnen und Helfer des Berner Erntenetzwerks tun aktiv etwas gegen Food Waste, gegen den Verlust von Lebensmitteln an ihrem Ursprung – freiwillig notabene. 200 sind es mittlerweile, Rentner, Junge aus Wohngemeinschaften, Familien, Teilzeitarbeitende, vornehmlich Städterinnen und Städter, die ihre E-Mailadresse bei der OGG hinterlassen haben. Vera Geissbühler, Projektleiterin des Erntenetzwerks, schreibt sie jeweils alle an, wenn es wieder irgendwo „brennt“:
„Wer hat Lust, Johannisbeeren zu ernten?“ heisst es dann da zum Beispiel: „Die Beeren sind überschüssig, da es zu viele sind und sie schon sehr reif sind. Dieses Mal übernimmt der Verarbeitungsbetrieb Narimpex die Beeren, um sie durch Trocknung haltbar zu machen. Als Dank für eure Mithilfe dürft ihr für euren Eigengebrauch gratis oder gegen eine kleine Spende an die Produzentin von den Beeren mitnehmen (je nach Menge, nach eigenem Ermessen). Es gibt weisse, rosa und rote Meertrübeli. Der Betrieb ist nicht bio-zertifiziert aber die Beeren sind ungespritzt.“
Oder: „Nächste Woche gibt es wieder einen Ernteeinsatz: Wir ernten Rüebli, welche aufgrund von Drahtwurm-Frass-Spuren und schwarzen Flecken auf der Schale vom Handel nicht abgenommen werden. Die Rüebli werden dann am Foodsave-Bankett Teil des leckeren Menus, das auf dem Bahnhofplatz Bern für Passanten aufgetischt wird. Falls wir viele ErnterInnen sind, werden wir bei Bedarf darüber hinaus noch Rüebli fürs Tischlein deck dich ernten.“
Verarbeitende Betriebe im Fokus
Damit wären gleich zwei mögliche Gründe für Überfluss aufgezeigt: unerwartet hoher Ertrag durch günstige Bedingungen einerseits, Absatzschwierigkeiten durch Qualitätsmängel andererseits. Auch die verschiedenen Abnahmekanäle, auf die das Erntenetzwerk fokussiert, kommen in den Beispielen vor: verarbeitende Betriebe einerseits – die Idee dabei: Statt z.B. frische Erdbeeren in der Saisonzeit kommt Erdbeerkonfitüre auf den Markt, die auch im Winter konsumiert werden kann. Statt Erdbeeren für Konfitüre zu importieren, werden ausgemusterte Schweizer Erdbeeren verwendet – soziale Einrichtungen für Leute mit wenig Geld andererseits. In der Anfangsphase des Projekts habe man oft auch noch Restaurants beliefert, damit aber aufgehört, um nicht plötzlich als eine Art „Gemüsehändler“ den Markt zu konkurrenzieren, erklärt Geissbühler. Bei Produzentenverbänden kämen Foodsave-Aktionen nämlich nicht immer so gut an. „Sie befürchten, dass die zusätzlichen Produkte, die durch Food Saving auf den Markt kommen, wiederum «normale» Produkte verdrängen.“ Und weil einige davon Mitglied bei der OGG seien, habe man aufpassen müssen.
Freiwillige melden sich meist genug
Was bleibt ist das Prinzip einer jeden Ernteaktion: es wird nur so viel gerettet, wie umgehend an VerwerterInnen abgegeben und von den HelferInnen nach Hause genommen werden kann. Ganz einfach schon nur deshalb weil die OGG über keine Lagerräume verfügt. Das bedeutet für Vera Geissbühler jeweils eine grosse Herausforderung, nämlich zu schauen, dass alles zusammenpasst, also dass eine ideale Anzahl Helferinnen und Helfer für die Ernte der zur rettenden Menge Gemüse oder Obst antrabt und gleichzeitig diese Menge auch vorgängig von Abnehmern bestellt wird. Bisher zeigt sich dabei: Freiwillige melden sich meist genug, das zu Erntende ist oft viel zu viel. Besonders im Rekordjahr 2018 waren die Mengen schlicht nicht bewältigbar: „Es ist alles explodiert“, blickt die Projektleiterin zurück, „die Bäume waren voller Früchte, und das überall, wir mussten zeitweise Angebote ausschlagen.“ 4.5 Tonnen Gemüse und Früchte konnten im Rahmen von 27 Einsätzen gerettet werden.
Dieses Jahr ein ganz anderes Bild: die Ernteeinsätze lassen sich an einer Hand abzählen. Federkohl im April wegen weisser Fliege, Erdbeeren im Juni wegen Vollreife, Johannisbeeren im August und Salat Anfang September wegen Überfluss, Rüebli Ende September wegen Qualitätsmängeln. Und überhaupt kein Obst von Bäumen. In vielen Regionen habe es im Frühling eben die Blüten angefrostet, erklärt Vera Geissbühler. Sie nimmts, wie es kommt.
Hohe Qualitätsansprüche als Stolperstein
Anrufe bekommt sie übrigens von ganz unterschiedlichen Produzentinnen und Produzenten, von der Kleinbäuerin auf einem Hügel im Emmental ebenso wie vom Grossproduzenten im Flachland, mal bio, mal konventionell. Gemeinsam ist allen: sie wollen dem Verfall ihres Überflusses nicht tatenlos zusehen. Und: sie bekommen, wenn das Erntenetzwerk in Aktion tritt, meist noch etwas dafür. Wenn immer möglich, versucht Vera Geissbühler nämlich, die Produkte an zahlende Abnehmer (Verarbeitungsbetriebe) zu vermitteln. Diese zahlen einen reduzierten Preis pro Kilo direkt an den Produzenten. Für gewisse Produkte, Kartoffeln oder Salate zum Beispiel, hätten allerdings die Verarbeitungsbetriebe keinen Bedarf, erklärt die Projektleiterin. Dann nehme meistens eine karitative Organisation wie Tischlein deck dich oder Schweizer Tafel die Produkte als Spende an, natürlich sofern der Produzent damit einverstanden sei.
Beim Bemühen, dem Produzenten auch bei den Überschüssen noch zu etwas Einkommen zu verhelfen, gehe es um Wertschätzung, so Geissbühler, und darum, dass die Bauern in aller Regel wenig dafür könnten, wenn sie auf ihrem Obst und Gemüse sitzen blieben. „Oft sind es die sehr hohen Qualitätsansprüche des Handels, welche den Produzenten den Riegel schieben, oder der Mangel an Zeit und Leuten, sich auch noch um die früher mal angepflanzten und gepflegten Hochstämmer beim Bauernhaus zu kümmern. Die Abnahmepreise sind auf moderne effizient beerntbare Niederstamm-Anlagen ausgerichtet.“
Erlebnisse, die haften bleiben
Diese und andere Gründe, warum es zu Ertragsüberschüssen kommen kann, lernen die freiwilligen HelferInnen bei ihren Einsätzen kennen. Überhaupt bekommen sie, die vielleicht zwar ökologisch eingestellt sind, aber in der Stadt leben und arbeiten, mal einen ganz direkten Einblick in die Landwirtschaft. Erlebnisse, die haften bleiben, wie die Auswertung der letzten Saison zeigte. Teilnehmende antworteten zum Beispiel auf die Frage „Was hast du bei den Ernteeinsätzen gelernt oder neu erfahren?“
„Wie aufwändig die Kirschenernte ist, wie viele Kirschen an einem einzelnen Baum wachsen.“
„Wie das auf den Bauernhöfen so abläuft. Die Bäuerin in Meikirch erklärte uns viel über Anbau und Pflege von Kürbissen.“
Vera Geissbühler sagt: „Uns ist dieser Vermittlungs-Aspekt ganz wichtig. Wir wollen mit dem Projekt Erntenetzwerk auch eine Diskussion in der Gesellschaft anregen, wie man das Problem an der Wurzel anpacken könnte, damit solche Verluste für die Bauern, wie wir sie jetzt ein bisschen abfedern, gar nicht erst entstehen.“
Zur Frage „Was hat dir bei den Ernteeinsätzen besonders gefallen?“ schrieben die Befragten:
„Die Arbeit auf dem Feld, auf den Bäumen. Selber als „Lohn“ von dem geernteten Gemüse oder den Früchten mitnehmen zu dürfen. Die Kontakte und Gespräche mit anderen Erntehelfern und den Bauern.“
„Die Grundidee an sich hat mir gut gefallen, wie auch die positive und fröhliche Stimmung bei den Einsätzen.“
Und zum Schluss noch ein Quote aus der Kategorie «Was ich euch noch mitteilen möchte»:
„Unser Keller ist nun von Apfelmost, Apfelmus, getrockneten Äpfeln, Birnen und Zwetschgen, Kürbissuppe und Kürbis süss-sauer und Vielem mehr. Selbergemachtes schmeckt ja bekanntlich am besten. Aber mit dem Wissen die Zutaten noch für dem Müll gerettet zu haben, lässt es nochmal etwas besser schmecken! Vielen Dank für die tolle Organisation! Weiter so.“
Die Auswertungen zeigen laut Vera Geissbühler ausserdem: viele wollen wieder mitmachen. Und etwa sieben Leute sieht sie denn auch tatsächlich immer wieder an den Aktionen. Bei der Anreise achte man seit diesem Jahr zudem darauf, wenn möglich Fahrgemeinschaften zu bilden, sofern Hof oder Feld schlecht mit dem ÖV erreichbar sind. Die Projektleiterin übernimmt hier eine weitere wichtige Schlüsselrolle.
Zum Schluss noch ein paar Worte zum Finanziellen. Was als Kilopreis für das gerettete Gemüse oder Obst vereinbart wurde geht vom Abnehmer 1:1 an den Produzenten. Die OGG als Vermittlerin derweil hat kein Interesse etwas zu verdienen, verrechnet den Abnehmern aber einen Anteil an die Kosten der Organisation. Diese Beiträge reichten allerdings nicht aus, um die Projektkosten zu decken, sagt die Projektleiterin. Also finanziere die OGG das Erntenetzwerk als ein ihr wichtiges Food-Save-Projekt vorläufig quer. Die OGG selbst finanziert sich durch Spenden und Mitgliederbeiträge aber auch Beteiligung an Liegenschaften und an der Zeitung „Schweizer Bauer“.
Janosch Szabo hat in dieser Saison selbst an zwei Ernteeinsätzen teilgenommen und gute Erinnerungen daran, nicht nur weil er als Konfiproduzent mit Taschen voller Beeren heimkehrte. Er möchte gerne ein Erntenetzwerk für die Region Biel aufbauen (siehe auch Infobox)
Erntenetzwerk in Biel?
Wer hat Lust, ab nächstem Frühjahr Ernteeinsätze von Biel aus zu starten, falls in unserer Nähe etwas anfällt?
Und wer hat Interesse sich zu einem Verarbeiter-Kollektiv zusammenzuschliessen, um sich gegenseitig in die Hand zu arbeiten oder gar gemeinsam Produkte aus überschüssigem Obst und Gemüse herzustellen?
Ganz einfach ein Mail an: janosch.szabo@gmail.com. Dann gibts schon bald ein Treffen, um sich auszutauschen. Das Erntenetzwerk der OGG Bern, ist offen, einen solchen Bieler Ableger in der Startphase zu unterstützen.