Das Schwerpunktthema der aktuellen Vision 2035 gibt zu reden. Denn: wir alle konsumieren und beeinflussen damit unsere Umwelt, die Gesellschaft und die Wirtschaft. Wir alle haben es also auch in der Hand, etwas am aktuellen System zu ändern. Zur Einstimmung auf die Zeitung, die dieser Tage aufgelegt wird, hier das Editorial.
Mit dem Konsum ist es so eine Sache« eine ziemlich zweischneidige. Er beschert uns einerseits die schönsten genussvollsten Momente, andererseits auch die hässlichsten Schreckmomente, wenn wieder mal irgend ein Lebensmittelskandal aufgedeckt wird. Sofort dann der Check im Kopf: habe ich allenfalls davon gegessen? Erleichterung. Alleine die Tatsache indes, dass ganz viele andere vom Betreffenden gegessen haben, ist tragisch genug. Die Menschen werden zu abertausenden mit minderwertigen Produkten versorgt, mit krankmachenden Genussmitteln und Fastfood verführt, mit Getreide von Feldern, in die schon literweise Gift gesickert ist, und Produkten von Tieren, die vollgepumpt mit Antibiotika und Hormonen unter absolut grauenhaften Umständen aufwachsen. Wie ekelhaft! Wie pervers!
Wir kennen das alles aus Filmen wie „We feed the world“ oder dem neuen aufwühlenden Saatgut-Doku-Drama „Seed“. 6 % aller Gemüse- Obst- und Getreidesorten sind von der einstigen Vielfalt noch übrig geblieben, erzählt dieser uns. Es sind Filme, die alle Menschen gesehen haben müssten, weil sie einen durchschütteln, aber auch erkennen lassen: Wir können, wenn jeder Einzelne seiner Verantwortung und Macht bewusst ist, das Ruder noch herumreissen. Jede und Jeder kann mit seinem Konsumverhalten dazu beitragen, dass die Vielfalt stabil bleibt oder gar wieder wächst, dass unsere Erde weniger ausgebeutet und der Boden wieder lebendiger wird. Aber wir müssen etwas tun, auf ein paar Annehmlichkeiten verzichten, vielleicht beim nächsten Einkauf das eine oder andere „bequeme“, da gewohnheitsmässige, Produkt im Regal stehen lassen, nach Alternativen suchen, die Erde selbst bearbeiten, wo es welche hat, einen eigenen Kompost anlegen, die Früchte von den Bäumen und Sträuchern im Garten wirklich nutzen, Balkone und Dachterrassen bepflanzen, biologisch und regional einkaufen. Und ja mitunter mehr Wege gehen und mehr Zeit aufwenden für die Kommissionen, und nicht zuletzt auch etwas mehr Geld ausgeben. Die aktuell 6.3 Prozent des Einkommens, welche der Durchschnittsschweizer laut Erhebungen des Bundesamts für Statistik für Nahrungsmittel aufwendet, sind wenig (konkret 632 Franken pro Haushalt mit durchschnittlich 2.2 Personen).
Es bleibt an sich viel zu viel Geld übrig für andere Notwendigkeiten und Verlockungen der Konsumwelt – Kleider, Kosmetik, Alkohol, Elektronik, Ferien usw. – die ähnlich grosse Auswirkungen auf den Zustand unseres Planeten haben. Man denke nur an die ganze Ausbeutung der Minen für unsere Computer und Handys und mit einem schwelenden Unbehangen daran, was damit passiert, wenn die Geräte einst ausgedient haben. Landen sie dann womöglich wirklich über illegale Umwege auf der Elektroschrottmülldeponie in Ghana, die im neuen Film „Welcome to Sodom“ porträtiert wird? Eine grausige Vorstellung.
Doch zurück zu den Lebensmitteln. Sie stellen uns, gerade wenn wir die Umstellung unserer Gewohnheiten in Angriff nehmen bzw. die Berücksichtigung all der vielen erhaltenen Informationen und Inspirationen (zum Beispiel aus dieser Zeitung), immer wieder vor neue Herausforderungen. Mal sind des die Berge von Verpackungen, von denen uns schlecht wird. Dagegen gibt es den Märit und Unverpacktläden als Lösung. Dann wiederum ist es die Zeit, die wir für all das nicht aufbringen können oder wollen. Und wenn doch, plagen uns Gedanken wie: Ist es wirklich sinnvoll, mein Brot selbst zu backen? Ein Bäcker macht das doch bestimmt energieeffizienter. Oder: Ist es wirklich ökologischer im Frühsommer über Monate gelagerte Schweizer Äpfel zu kaufen statt Fairtrade Bananen aus Übersee? Vielleicht in dieser Zeit lieber auf beides verzichten? Und wie sieht es mit der Demetermilch in der Plastikflasche aus der Ostschweiz aus gegenüber der Milch im Offenverkauf vom konventionellen Bauern am Stadtrand?
Manchmal gibt es keine eindeutigen Antworten. Manchmal müssen wir einfach zuerst auch noch mehr wissen, mehr fragen, mehr Transparenz einfordern. Es kommt auf so viele Aspekte und den gerade eingenommenen Blickwinkel an.
Doch gerade da sollten wir aufpassen, uns nicht verrückt machen zu lassen, uns nicht zu übernehmen, nicht auszubrennen. Der ganze Wandel braucht einen langen Atem, und zwar den von uns allen. Er muss nicht von heute auf morgen vollzogen sein. Es ist ein Prozess. Lieber Schritt für Schritt statt radikal, weil das fast immer auch wieder neue Probleme mit sich bringt. Die Produzenten müssen Zeit bekommen, auf unsere Zeichen reagieren zu können. Sie müssen verstehen, dass wir wollen, dass sie sich flächendeckend von den Annehmlichkeiten der Agrochemie abwenden und die Natur und insbesondere den Boden wieder als das ansehen, was sie sind: unsere Basis, unsere Lebensgrundlage, das worauf aller Lebensmittel-Konsum basiert. Und ja, es ist möglich, ohne Gift und Kunstdünger zu produzieren, es ist gar möglich, viel auf wenig Fläche zu produzieren, und es für gutes Geld zu verkaufen. Alles längst erwiesen, eindrücklich aufgezeigt in Filmen wie „Tomorrow“ oder „Transition 2.0“, und doch viel zu wenig verbreitet.
Deshalb auch nützt es unserem Planeten wenig, wenn wir uns nur in kleine super sozial, ökologisch und ultra gesund lebende Gemeinschaften zurückziehen, während aussen herum weiterhin ganze Landstriche verwüstet und verödet werden. Unser ganzes Umfeld zu sensibilisieren, das ist genau so unsere Aufgabe, wie selbst an unserem Konsumverhalten zu arbeiten. Hier ein paar Möglichkeiten: Freunden Filme zeigen, selbst mit gutem Beispiel vorangehen, an Klimademos teilnehmen, Tomaten aus dem eigenen Garten über den Zaun verschenken, am nächsten Buffet Canadien einen selbst gebackenen Zwetschgenkuchen statt ein Guacamole zum Znüni auftischen, im Geschäft eine Recyclingstation aufbauen, an Grillparties Maiskolben oder vegetarische Plätzchen mitnehmen, in der Transition-Bewegung aktiv werden, den Nachbarn einen aufrüttelnden Artikel in den Briefkasten legen, oder gleich die ganze Vision 2035…
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Hinweis: Die Vision 2035 Nr. 31 wird in diesen Tagen in Umlauf gebracht, direkt in die Briefkästen der Abonnentinnen und Abonnenten und in der ganzen Stadt an unzähligen Auflageorten zum mitnehmen. Online erscheinen die Beiträge Schritt für Schritt.
Illustration: Sara Wernz
Janosch Szabo ist Mitherausgeber der Vision 2035 und Koordinator der aktuellen Nr. 31 zum Schwerpunktthema „Konsum“.